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Löcher in der Mauer
Materialiensammlung
DDR 1989

Neue Chronik DDR
1. Folge 2. Auflage Verlag Tribüne Berlin GmbH 1990 ISBN 3730305822  
2. Folge 1. Auflage Verlag Tribüne Berlin GmbH 1990 ISBN 3-7303-0594-8

26. Oktober 1989

Zwischen Staats- und Parteichef Egon Krenz und BRD-Bundeskanzler Helmut Kohl findet ein zwanzigminütiges Telefongespräch statt, in dem beide Politiker ihr Interesse an einer Fortentwicklung der Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten und an der Fortsetzung der praktischen Zusammenarbeit bekunden. Sie kommen überein, daß Beauftragte beider Seiten anstehende Fragen erörtern und zur Entscheidung vorbereiten.

SED-Politbüromitglied und DDR-Ministerratsvorsitzender Willi Stoph erklärt in einem Interview mit der Aktuellen Kamera" u. a., die Regierung habe Beschlüsse zum zusätzlichen Import von technischen Konsumgütern und Lebensmitteln gefaßt. Es würden auch große Anstrengungen unternommen, Produktion und Angebot von Ersatzteilen, technischen Konsumgütern und Textilien spürbar zu verbessern. Er räumt ein, daß bei der planmäßigen proportionalen Entwicklung in der Vergangenheit Fehlentwicklungen und Abweichungen zugelassen wurden. Nur bei klarer Bestandsaufnahme und ungeschminkter Analyse könne die Produktion so gestaltet werden, daß der Bedarf der BürgerInnen und ihre wachsenden Bedürfnisse besser befriedigt werden.

In dem Interview macht Stoph jedoch keinen eigenen Ansatz für die von ihm geforderte Analyse.

In Dresden wird die fast neunstündige Stadtverordnetenversammlung vom Sender Dresden direkt übertragen. In der Debatte kommt auch die von Dresdener Demonstranten beauftragte Dialoggruppe von Bürgern zu Wort. An die Abgeordneten gewandt, erklärt Frank Neubert von dieser Gruppe u. a.: "Auch von Ihrer Arbeit wird es abhängen, ob die Bürger an die Wende glauben, die jetzt vielen so leicht über die Lippen geht." Den neugebildeten zeitweiligen Arbeitsgruppen bei den Ständigen Kommissionen der Stadtverordnetenversammlung gehören neben berufenen Abgeordneten auch an der Mitarbeit interessierte Bürger an.

Auf der Sitzung übergibt der Dresdener Superintendent Christoph Ziemer im Auftrag des evangelisch-lutherischen Landeskirchenamtes an Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer 170 Erlebnisprotokolle zu Befugnisüberschreitungen der Schutz- und Sicherheitsorgane.

Auf der Außerordentlichen Beratung des Bezirkstages Dresden wird auf die außerordentlich kritische Situation hingewiesen, die durch die Ausreise von etwa 22 000 Bürgern des Bezirks in die BRD im Verlaufe des Jahres entstanden ist. Zu den Flüchtlingen zählen 600 Ärzte und Angehörige des mittleren medizinischen Personals, 1 300 ehemals in Handel und Versorgung sowie 1 280 im Bau- und Verkehrswesen Tätige.

In den Abendstunden stehen auf einer Kundgebung von rund 100 000 Dresdnern Wolfgang Berghofer und der 1. SED-Bezirkssekretär Hans Modrow Rede und Antwort über die Ergebnisse der Stadtverordneten- und Bezirkstags-Sitzungen.

Die Vertreter des Neuen Forum Prof. Dr. Jens Reich und Sebastian Pflugbeil werden von SED-Politbüromitglied und 1. Bezirkssekretär Berlin Günter Schabowski zu einem Gespräch empfangen. Im Ergebnis dessen erklärt Reich, er habe einen "positiven Eindruck" gewonnen.

Auf der 12. Tagung des Zentralrats der FDJ in Berlin erklärt dessen 1. Sekretär, Eberhard Aurich, FDJ und Pionierorganisation müßten "erneuert", Inhalte, Methoden und Formen ihrer Arbeit "neu bestimmt" werden. Auf die Frage, ob es erst soweit kommen mußte, daß viele die DDR verlassen haben, daß dadurch und mit Demonstrationen auf der Straße auf sich verschärfende Gegensätze im Land drastisch aufmerksam gemacht werden mußte, antwortete Aurich:

"Wir haben es nicht vermocht, diese Widersprüche frühzeitiger und konsequenter aufzuhellen. Haben wir nicht aus ehrlicher Absicht und Überzeugung manches mit zugedeckt und verdrängt, gehofft darauf, daß es dennoch gelingen werde, mit besserer Arbeit alle jugendlichen für die Politik der SED und die Ziele der FDJ zu gewinnen und ihnen jene Motive zu geben, die erforderlich sind, um den Sozialismus bei uns in seiner Auseinandersetzung mit der kapitalistischen Welt voranzubringen? Wir müssen bekennen, daß wir viele Widersprüche zwar bemerkten, zu lange sprachlos blieben oder zu spät reagierten (..

(ND, 26. 10. 1989)

ADN teilt mit:

Aus der Staatsbürgerschaft der DDR wurden am Donnerstag in Prag Personen entlassen, die sich in der dortigen Botschaft der BRD aufgehalten hatten. in der Botschaft der DDR erhielten sie zugleich Dokumente für die Ausreise in die BRD. Die hat entsprechend einer mit der Regierung der CSSR abgestimmten zeitweiligen Regelung innerhalb von 24 Stunden zu erfolgen. Der Transport wird durch die BRD-Seite abgewickelt und führt nicht über das Territorium der DDR."

(ND, 27. 10. 1989)

Nach Friedensgebeten kommt es in verschiedenen Städten der DDR zu Demonstrationen:

In Gera (5 000) fordern die Demonstranten u. oder nie" und "Umbruch durch Aufbruch".

In Rostock (25 000) stellen die Teilnehmer Kerzen vor der Bezirksbehörde des Ministeriums für Staatssicherheit auf.

In Erfurt (15 000) fordern Sprechchöre u. a. zu mehr Demokratie auf Lind rufen nach Zulassung der Bürgerbewegung Neues Forum.

In Hagenow, Boizenburg und Wittenberg finden Veranstaltungen des Neuen Forum mit je mehr als 1 000 Teilnehmern statt.

Ein Sprecher des DDR-Innenministeriums weist die Ankündigung des Chefs der BRD-Partei "Die Republikaner", Schönhuber, die REP werde auch in der DDR formiert, als provokatorische Anmaßung zurück. ADN gegenüber stellt der Sprecher fest, daß dem Entstehen neonazistischer Gruppierungen in der DDR durch Verfassung wie durch Volkswillen für immer ein Riegel vorgeschoben ist. Es werde mit aller Strenge des Gesetzes vorgegangen, wenn Neonazis versuchen sollten, irgendwo in der DDR wirksam zu werden oder ihr Hetzmaterial zu verbreiten.

Mitglieder des Präsidiums des P.E.N.-Zentrums der DDR - Günther Cwojdrak, Friedrich Dieckmann, Fritz Rudolf Fries, Stephan Hermlin, Walter Kaufmann (Generalsekretär), Rainer Kerndl, Helga Königsdorf, Werner Liersch, Jean Villain - wenden sich mit einer Erklärung an den Vorsitzenden des Staatsrates der DDR, Egon Krenz, in der es u. a. heißt:

"( ... ) Nur ein Umbau des Staates und weiterer Bereiche der Gesellschaft kann die Ursachen beheben, die zu der lange schwelenden ökonomischen, politischen, moralischen Krise geführt haben, die nun zum Ausbruch gekommen ist. Ein weiteres Anwachsen der Probleme könnte den Bestand des Sozialismus gefährden und unser Land zu einem Gefahrenherd in Europa werden lassen. Der wiederholte Verweis auf ausreichende Strukturen politischer Meinungs- und Willensbildung kann nicht überzeugen, da diese Strukturen langfristig und wiederholt versagt haben. Es bedarf neuer, qualitativ erweiterter Strukturen, darunter des Prinzips der Gewaltenteilung sowie einer grundlegenden, durch Gesetze garantierten Öffnung. Insbesondere sprechen wir uns für die volle Respektierung der Eigenverantwortung der Verlage und Redaktionen aus. Wir erklären unsere Bestürzung gegenüber dem Versuch staatlicher Stellen, Zusammenschlüsse, die von der tiefen und berechtigten Sorge um die Zukunft des Staates und der Gesellschaft getragen sind, ungeprüft für verfassungswidrig zu erklären. Verfassungswidrig im Sinne von Artikel 29 unserer Verfassung, der das Recht auf Vereinigung festsetzt, ist vielmehr ein solches Vorgehen.

Sozialismus ist nicht denkbar ohne eine Vielfalt politischer Meinungen und Organisationsformen, deren Koordination kein obrigkeitliches Monopol sein darf, sondern sich als demokratischer Prozeß herausstellen muß. Eben dies erklären die Artikel 21, 22 und 27 bis 30 unserer Verfassung. Wir fördern die sofortige Einrichtung einer unabhängigen und bevollmächtigten Rechtsinstanz, die bestehende Gesetze, Verordnungen, Verfügungen, Praktiken auf ihre Verfassungsmäßigkeit prüft. Mit Empörung erfüllt uns, über den ' Tatbestand willkürlicher Festnahmen hinaus, die vielfach bezeugte rechtswidrige und menschenverachtende, mit physischem und psychischem Terror verbundene Behandlung festgenommener Bürger durch Sicherheitskräfte der DDR. Als Staatsbürger, als Schriftsteller und durch die Charta des internationalen P.E.N. dazu verpflichtet, für die Freiheit des Wortes und die Wahrung der Menschenwürde einzustehen, rufen wir die Mitglieder unseres Zentrums dazu auf, an öffentlichen Bekundungen zur Gewährleistung der Artikel 27 bis 30 der Verfassung mitzuwirken, die Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, das Recht auf Vereinigung und die Unantastbarkeit der Persönlichkeit garantieren. Vergangenheit und Zukunft bedenkend, fordern wir die Offenlegung persönlicher und kollektiver Verantwortung für die Leitung der Staatsangelegenheiten in ihren einzelnen Bereichen. Wir setzen uns für rasche und entschiedene Schritte ein, die das Verhältnis von Staat und Bürgern auf eine neue, wahrhaft sozialistische, also wahrhaft demokratische Grundlage stellen."

(BZ, 28./29. 10. 1989)

Der Präsident des P.E.N.-Zentrums der DDR, Prof. Heinz Kamnitzer, hat sich obiger Erklärung nicht angeschlossen und erklärt u. a.:

"( ... ) Da die Mitglieder des Präsidiums des DDR-Zentrums, die auf der Sitzung vom 26. Oktober 1989 anwesend waren, meinem Rat entgegen eine Erklärung verabschiedet haben, die unvereinbar ist mit den Richtlinien des Internationalen P.E.N., werde ich mich als Präsident nicht wieder zur Wahl stellen und ab sofort meine Tätigkeit ruhen lassen."

(BZ, 28./29. 10. 1989)

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