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Löcher in der Mauer
Materialiensammlung
DDR 1989

Neue Chronik DDR
1. Folge 2. Auflage Verlag Tribüne Berlin GmbH 1990 ISBN 3730305822  
2. Folge 1. Auflage Verlag Tribüne Berlin GmbH 1990 ISBN 3-7303-0594-8

15. Oktober 1989

In der Berliner Erlöserkirche geben bekannte DDR-Künstler ein "Konzert gegen Gewalt". Die DDR-Medien schweigen sich darüber aus. In einem Westberliner Zeitungsbericht heißt es über diese Veranstaltung:

"( ... ) Mehr als 30 Rockgruppen, Band-Leader und Jazzer, alle jene, die in der DDR-Musikszene das Sagen haben, waren gekommen, kurzfristig, trotz anderer Termine, um anzuspielen gegen staatliche Repression und individuelle Apathie, um Mut zu machen, Mut zum Dableiben, Mut zum Einmischen, Mut zum Lautwerden. Kommt zurück, wir brauchen euch, stört uns ..., der Beton ist auch in unseren Köpfen.' Es war ein Solidaritätskonzert, grundverschieden von all den aufwendig und teuer inszenierten Rocks gegen Südafrika', Rocks gegen den Faschismus'. Das war ein Konzert, gegeben von Künstlern, die sicher nicht für diesen Auftritt mit Berufsverbot belegt werden können, aber gegeben für Menschen, die gestern noch inhaftiert waren, übermorgen vielleicht inhaftiert werden. Die Staatssicherheit stand vor der Tür, notierte die Kennzeichen der parkenden Autos. ‚Die Zeiten spitzeln sich zu', kommentierten drinnen die Künstler das Vorgehen.

Ein Konzert für sich selber, für diese Kraft zum Widerstand, ein gesungenes ‚Teach-in', mit brandaktuellen Texten, kein Stück älter als acht Tage, fast jeder Song eine Premiere, dreieinhalb Stunden lang, ununterbrochen. Musik nicht für den CD-Player, sondern für Flugblätter und Schwarzkassetten. Toni Krahls virtuos begleiteter Abgesang auf Erich

Honecker, So winkt man, wenn der Zug abfährt, so winkt man hinter Schranken', war ein DDR-deutsches Lied, bleibt unverstanden von denjenigen, die nicht am 40. Jubeltag den greisen Mann, Haltung suchend, auf der Tribüne gesehen hatten, wird verstanden von denjenigen, die nicht an den Fahrkartenschaltern Prag-Warschau stehen. In anderen Vorträgen heißt es: Da stehen die Alten und können sich nicht halten', oder: Wir haben was von Dracula, riechen staatsfeindlich aus dem Mund' - beißende Texte, Wunden für die Stasi.

Keine der spontan und eilig gekommenen Gruppen, ob Pankow', ,Silly', City', die invaliden', ob Angelika Weiß, Tamara Danz oder Conny Bauer, Namen die zählen, keine spielte mehr als zwei Stücke und alle, einschließlich der Stehenden und Sitzenden zum Abschluß ,Give Peace a Chance', das symbolträchtige Lied der Vietnam-, Bürgerrechts- und Friedensbewegung, weltweit.

Zwischen den dicht aufeinanderfolgenden Auftritten knapp verlesene Erklärungen gegen Willkür und Meinungsunterdrückung, Protestschreiben an Regierende, verfaßt von Menschen aller Altersgruppen und Berufe. Manche Resolutionen waren eben erst fertig geworden, andere wurden in mehreren Anläufen, mit immer neuen Zusätzen, verlesen. Da trat ein Lehrer der 22. Polytechnischen Oberschule vor das Mikrofon. Am 11. 10. war ihm gekündigt worden, pädagogisch sei er nicht geeignet, und Unterstützer des Neuen Forums würde er auch sein, lautete die Begründung. Eltern, Schüler und Lehrerkollegen haben sich jetzt mit ihm solidarisiert, fordern jetzt öffentlich die Zulassung eines unabhängigen Interessenverbandes.

Da forderten Studenten die Gründung eines autonomen Studentenverbandes und berichten mit Orts- und Zeitangaben, daß schon viel dafür in die Wege geleitet worden sei - so zum Beispiel von 600 Kommilitonen an der Ostberliner Humboldt-Universität. Schauspieler des Deutschen Theaters treten für eine Demonstration für Pressefreiheit ein. Am 4. November soll sie in der Hauptstadt stattfinden.

(taz, 17. 10. 1989)

Die Berliner Initiativgruppe des Demokratischen Aufbruchs wendet sich in einem Offenen Brief an den Berliner Oberbürgermeister Krack. Darin heißt es:

"( ... ) Auf Grund zahlreicher Anfragen von Demonstranten und Zuschauern, die polizeiliche Gewalt erfahren haben, fordern wir die Einsetzung einer unabhängigen Untersuchungskommission zur Aufklärung von in diesem Zusammenhang aufgetretenen Rechtsverletzungen.

Diese Untersuchungskommission sollte unseres Erachtens folgende Zusammensetzung haben: Vertreter von Bürgerinitiativen zur demokratischen Erneuerung, Rechtsanwälte, Vertreter des Generalstaatsanwaltes und des Bezirksgerichtes Berlin, der Bezirksbehörde der Volkspolizei und des Magistrats. Nach Bedarf müßten weitere Institutionen hinzugezogen werden. Die Ergebnisse der Untersuchungen müssen veröffentlicht werden.

Ziel der Kommission muß es sein, die rechtswidrigen Übergriffe festzustellen und zu verhindern, daß sich künftig ähnliches wiederholen kann.

Das Vertrauensverhältnis von Bürgern und staatlichen Organen soll wieder hergestellt werden.

Gewalt und Einschüchterung sind keine geeigneten Voraussetzungen für den jetzt von allen Seiten geforderten, demokratischen Dialog."

In Obhut der Warschauer BRD-Botschaft warten 1200 DDR-Bürgerlnnen auf die ihnen zugesagte Ausreise in die Bundesrepublik.

Mit Beginn der Herbstferien erhöht sich die Zahl der DDR-Flüchtlinge, die von Ungarn über Österreich in die BRD kommen; am Wochenende (14./15. 10.) werden rund 3 000 Übersiedler registriert.

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