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Löcher in der Mauer
Materialiensammlung
DDR 1989

Neue Chronik DDR
1. Folge 2. Auflage Verlag Tribüne Berlin GmbH 1990 ISBN 3730305822  
2. Folge 1. Auflage Verlag Tribüne Berlin GmbH 1990 ISBN 3-7303-0594-8

9. Oktober 1989

Nach dem inzwischen traditionellen Friedensgebet in mehreren Leipziger Kirchen kommt es in der Messestadt erneut zur Montagsdemonstration für demokratische Erneuerung in der DDR, an der rund 70 000 Menschen teilnehmen. In den Kirchen und über den Leipziger Stadtfunk wird ein Aufruf verlesen, der die Unterschriften von Generalmusikdirektor Prof. Kurt Masur, Gewandhauskapellmeister, dem Pfarrer Peter Zimmermann, dem Kabarettisten Bernd-Lutz Lange und der drei Sekretäre der SED-Bezirksleitung Leipzig Roland Wötzel, Kurt Meyer und Jochen Pommert trägt. In dem Aufruf heißt es u. a.:

"( ... ) Wir alle brauchen einen freien Meinungsaustausch über die Weiterführung des Sozialismus in unserem Lande. Deshalb versprechen die Genannten heute allen Bürgern, daß diese( Dialog nicht nur im Bezirk Leipzig, sondern auch mit unserer Regierung geführt wird. ( ... )"

An jenen Tag erinnert der Wittenberger Pfarrer Friedrich Schorlemmer später in einem Zeitungsinterview:

"Die Leute gingen mit der chinesischen Angst im Bauch auf die Straßen. Ich habe das erlebt in Leipzig. Wie war die Stadt belagert. Sie können sich das nicht vorstellen.

In dieser bedrohlichen Situation ist etwas Wunderbares passiert. Als nämlich drei der Kirche nahen Gruppen in Leipzig am 9. Oktober den Appell zur Gewaltlosigkeit verabschiedeten, der dann in den Kirchen verlesen worden ist. Leute, die jahrelang unter starker Bespitzelung und Bedrängung der Staatssicherheit standen, bekannten sich darin zu ihrer Angst, auch zu der Angst um die Uniformierten und mahnten: Gewalt löst keine Probleme, ist unmenschlich. Gewalt kann nicht das Zeichen einer neuen, besseren Gesellschaft sein."

(BZ 27./28. 1. 1990)

In einer Zeitungsreportage wird über die Leipziger Demonstration u. a. berichtet:

"( ... ) Wir sind das Volk!' heißt die Parole des Tages, und für diesen Abend hat sich die Staatsgewalt entschieden, das Volk auch Volk sein zu lassen. Gerüchte kursieren zwar am Straßenrand: Ganz Leipzig ist abgesperrt.' Da vorn ist eine Bullensperre. Aber erstmals seit den erstarkenden Demonstrationen der letzten Wochen hat sich die Polizei fast vollständig zurückgezogen und läßt die Demonstranten ungehindert die spontan eingeschlagene Route wählen. ,

Nur die grün uniformierten Betriebskampfgruppen stehen mit großem Aufgebot bereit. Bis in den späten Abend hinein werden ihre LKWs von Demonstranten umringt, die mit den Genossen' das Gespräch suchen. Mensch, ihr könnt doch nicht auf eure eigenen Kinder einprügeln! heißt es immer wieder aus den Diskussionstrauben. ihr wißt doch selber, was in den Betrieben alles schiefläuft. Da muß doch was passieren.' Immer wieder an diesem Abend das Erstaunen über sich selbst: Mensch, das darf doch nicht wahr sein!' Das gibt's doch gar nicht! Nee, daran können die "nicht mehr vorbei!'

( ... ) Der Leipziger Aufruf der drei SED-Bezirkssekretäre, der wie von Geisterstimme im Halbstundentakt aus einem Lautsprecher hallt, bleibt zunächst beinahe unbeachtet. Erst als der Demonstrationszug nach eineinhalb Stunden erneut am Karl-Marx-Platz angelangt ist, strömen die Leute zusammen, 'hören gespannt zu, applaudieren. Als sich in Leipzig gegen 21 Uhr die bisher größte Demonstration auflöst, ist in den DDR-Medien von Dialog keine Spur. Wenn die Demonstranten bei ihrer Ankunft zu Hause den Fernseher angeschaltet haben, konnten sie in der Aktuellen Kamera erfahren, was sie in der realsozialistischen Wahrheitsfindung immer noch sind: ‚antisozialistische Störer‘ und ,vom Westen ferngesteuerte Randalierer'."

(taz, 11. 10. 1989)

Der Dresdener Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer empfängt 20 Bürger der Stadt, die tags zuvor von Tausenden Demonstranten in der Stadt zu ihren Sprechern bestimmt worden waren. In ihrem Neun-Punkte-Programm wird u. a. gefordert: Klärung des gewaltsamen Vorgehens von Sicherheitskräften gegen Demonstranten am 8. Oktober, Gewährung von Meinungs-, Demonstrations- und Reisefreiheit, freie Wahlen, Zulassung des Neuen Forums. Berhofer sagt zu, die Forderungen zu prüfen und gegebenenfalls an höhere Stellen weiterzuleiten.

In der Berliner Gethsemanekirche verliest Bischof Gottfried Forck einen Appell führender Vertreter der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg, in dem die Führung der DDR aufgefordert wird, "Umfassend deutliche und glaubhafte Schritte einzuleiten, damit eine breite Übereinstimmung für eine demokratische und rechtsstaatliche sozialistische Perspektive der DDR gefunden wird".

In Halle wird eine Schweigesitze mit 2 000 Teilnehmern gewaltsam aufgelöst.

In Magdeburg demonstrieren mehrere tausend Menschen.

Das FDJ-Organ “Junge Weit" veröffentlicht einen Offenen Brief des Präsidenten des Schriftstellerverbandes der DDR, Hermann Kant, verfaßt “bei grimmiger Verfassung am 1. Oktober 1989". Kant bezieht sich darin auf seine in der JW-Ausgabe vom 23./24. September 1989 nachgedruckte Antwort auf eine Umfrage der Hamburger Wochenzeitung “Die Zeit", was nach seiner Auffassung in der DDR "eher Verwirrung als Klärung gestiftet” habe. Nach Ausführungen zur “Selbstherrlichkeit im Pressewesen" der DDR schreibt Kant unter anderem:

"( ... ) Zurückgekehrt von einer verflucht anstrengenden Reise, fand ich die Klage von Schülern vor, die man mit meinen von Euch nachgedruckten Äußerungen angestrengt hatte, um nicht zu sagen behelligt, und die mich darob weidlich verfluchten ... Pädagogisch gestimmte Personen lösten eine Aussage meines ‚Zeit'- und ‚Junge Welt'-Beitrages aus dessen Umfeld und beauftragten die ihnen unterstellten jugendlichen, den Sinngehalt der folgenden Satzverbindung aufzuspüren und seine Triftigkeit anhand von fünf Beispielen zu belegen: Wir haben uns den anderen weggenommen; sie wollen uns wiederhaben.

Allen Mißverständissen halbwegs vorzubeugen. Ich bestehe auf dieser Ansicht; in ihr drückt sich etwas aus, das jene 40 Jahre, die wir feiern sollen und feiern wollen, zu einer Zeit der Kämpfe machte. Wer übersieht, daß wir uns den anderen weggenommen haben und sie uns wiederhaben wollen, kann von den Kämpfen der letzten Tage keinen verstehen. Und kann natürlich auch keinen dieser Kämpfe bestehen.

Insofern ist gegen die Beschäftigung mit meiner Formulierung gar nichts einzuwenden, aber striktesten Einwand erhebe ich, wenn man so tut, als sei das alles, was ich zu den Kämpfen der letzten Tage und Wochen zu, sagen weiß. Wenn man mich als einen hinstellt, der glaubt, unsere derzeitige Niederlage sei einzig auf das Wirken des allbösen Klassenfeindes zurückzuführen. Wenn man mich zu denen rückt, die am Klassengegner bemängeln, daß er sich wie ein Klassengegner aufführt. Wenn man mich klingen läßt, als wüßte ich zur schmählichen Wanderbewegung dieser Wochen nur von bösen Buben zu sagen, die da locken oder unsere braven Mitropa-Kellner mit Menthol vergiften. Einwand erhebe ich, wenn man mich zu denen zählt, die nicht fragen wollen, warum man den bösen Buben wohl Folge leistet und Freunde, Nachbarn, Arbeit, Wohnung, Pläne, Heimat und kleinen Besitz in den Wind schlägt. Schärfsten Widerspruch lege ich ein, wenn man den Anschein erweckt, ich sei des Glaubens, meines Gegners Kraft allein veranlasse junge Frauen, ihre Kinder über Botschaftszäune zu reichen, und dieselbe Kraft bewege junge Männer, freiwillig Quartier in fremden Kasernen zu suchen ...

Ja doch, die anderen wollen uns wiederhaben, und wer zu ihnen geht, löst diesen Willen auf persönlichste Weise ein. Das jedoch entbindet uns nicht der Frage, was an unseren Verhältnissen jemanden veranlaßt, jemanden, der eben noch Bürger dieses Landes, Schüler unserer Schulen, Leser Eurer Zeitung war, sich auf undurchschaubar andere, unzweifelhaft riskante Verhältnisse einzulassen. So wahr es auch ist, so bringt es uns doch nicht weit, wenn wir andeuten, gar mancher habe beim Weggang weniger Klassen als Hubraumklassen im Auge und verspreche sich goldene Berge dort, wo sich doch so viele rostige Halden türmten. jetzt kommt es nicht so sehr darauf an, die anderen schlecht, als vielmehr das Eigene gut zu machen. Weniger vor dem Sumpf da drüben warnen (ja, es gibt ihn, ich weiß, und seine Beschreibung soll auch künftig nicht verboten sein),- mehr an die eigene Nase fassen (Selbstkritik nannte man das vor Zeiten). Wir müssen uns an der eigenen Nase aus dem Sumpfe ziehen - zugegeben ein eher literarisches Verfahren, aber zu viel anderem reicht meine Bildung nicht hin.

Aber meine literarische Bildung reicht doch zu, von der Vergeblichkeit zu ahnen, auf die wir uns einrichten müssen, wenn wir die Dinge nicht bei ihrem Namen nennen. Eine Niederlage ist eine Niederlage, und passe sie noch so schlecht in den Vorabend eines gloriosen Feiertages. Die Züge, mit denen die Deutsche Reichsbahn, die einstens Lenin aus der Schweiz durch Deutschland nach Rußland transportierte, nunmehr Bürger der. Deutschen Demokratischen Republik via Deutsche Demokratische Republik aus Warschau nach Braunschweig verfrachtet, sind nun einmal wahrlich keine Siegeszüge. Unseres Sieges jedenfalls nicht. (...)

Ich bin eine Woche im nördlichen Ruhrgebiet gewesen und habe sechs Veranstaltungen lang hören können, wie denen ums Herz ist, die von unserem 40. Jahrestag lesen und auch vom Eintreffen weiterer Dreißigjähriger aus unserem Land in ihrem Land. Meine Bücher, derentwegen die Tour vor sechs Monaten verabredet wurde, kamen wohl zu Wort, hatten aber bald das Maul zu halten, denn allzusehr ging den Leuten der Mund über von dem, wovon ihnen das Herz überfloß. Sagen sollte ich, was los sei mit der DDR und dem Sozialismus dort und auch gleich mit dem Sozialismus überhaupt. ( ... )

Die Reise blieb schwierig genug. Ob in Dortmund, Hamm, Lünen, Kamen, Soest oder im Justizstrafvollzug Werl, dem ehemals berüchtigtem Zuchthaus Werl, in dem auch heute nur Leute von beträchtlichem Täterkaliber sitzen - es war Maloche, wie ich sie nicht zu häufig betreiben möchte. Ja, wenn Bösewichte vorherrschend gewesen wären, das hätte sich machen lassen, aber neben den Störenfrieden, an denen es nirgendwo fehlte, waren vor allem friedfertige Leser versammelt, und deren Ratlosigkeit hat mir zugesetzt. Mit den Schreihälsen, darunter auch solchen, die, wie jüngst erst von der Zeit' empfohlen, mit dem nagelneuen Bundespaß in der Tasche ihre nagelneue Schmähfreiheit gegen mich erprobten, kommt man zurecht, wenn man die drei Griffe dieser Menschen kennt - mit der Trauer jener, denen die DDR zumindest eine bedenkenswerte Neuheit war, ein Vorgang, über den sich bislang sehr gut mit ihnen reden ließ, mit dieser Trauer mag ich nicht lange sein.

Nein, Freund Schütt (Hans-Dieter Schütt, damals Junge Welt-Chefredakteur Anm. d. Hrsg.), ich weiß kein Rezept gegen zu geringe Arbeitsproduktivität und ein reizloses Lohnsystem, aber um derlei ist es in sechs vielstündigen Debatten kaum gegangen. Es ging um eine Freiheit, von der sie da drüben glauben, sie hätten die Fülle davon, und von der wir hierzulande denken, sie bestünde in der Abwesenheit von Arbeitslosigkeit, Kriminalität, Sozialelend und Bildungsnot. Darin besteht sie sicher zu größeren Teilen, und in der Abwesenheit von Kriegsfurcht, Konzerndiktat, Ausbeuterei und Großbesitz besteht sie zuallererst, aber zum einen hält der Mensch derlei Güter, verfügt er nur lange genug über sie, für selbstverständlich und will sich nicht immerfort als dankbar für sie erweisen müssen, und zum anderen fressen bürokratische Gängelung, allwaltender Pädagogismus, verordnete Abstinenz gegenüber Gütern, die anderswo als Normbestandteile des 20. Jahrhunderts gelten, mangelnde Freizügigkeit von Ideen im eigenen Lande und Trichterbegriff von Agitation an dieser bei uns doch so reichlich vorhandenen Substanz.

Wenn wir nicht möchten, daß uns die, denen wir uns weggenommen haben und die uns wiederhaben wollen, sukzessive wiederkriegen, müssen wir uns mit uns selbst verständigen. Kritisch und selbstkritisch, offen, nicht wehleidig, hart und geduldig. Hellhörig, was auch ohne Mißtrauen geht. Vertrauensvoll, was nicht ohne Wachheit geht. Unter Verzicht auf Pomp und Gepränge und diese elendige Selbstzufriedenheit. - Daß die DDR ein Staat von beträchtlichem Verdienst um den äußeren Frieden ist, hat sich längst herumgesprochen. Ich wollte, dem liefe die Nachricht von unserem vernünftigen Umgang mit uns selbst bald hinterher.

Vor vielen Wochen habt auch Ihr, ähnlich der Zeit', eine Umfrage gemacht. In einem Satz sollte man sagen, was man als das Beste an der DDR empfinde. Ich weiß meine Antwort auf Eure Frage nach dem Besten der DDR noch genau, zumal ich sie in einem nicht sehr korrekten, dafür aber kaum verkürzbaren Satz geliefert habe. - Daß es sie gibt', sagte ich. Fragte man mich jetzt nach dem Schlechtesten an ihr, müßte ich wohl sagen; Daß es sie so wie derzeit gibt.

(JW, 9. 10. 1989)

Der Brief Kants findet republikweit Anklang. Es ist das erste Mal, daß ein SED-ZK-Mitglied die Dinge so offen beim Namen nennt.

Sitzung des Präsidiums des Kulturbundes der DDR. In einem Kommuniqué heißt es dazu:

"( ... ) Einen breiten Raum in der Beratung des Präsidiums nahm die Diskussion über die aktuellen politischen Ereignisse ein. Das Präsidium teilt die Besorgnis vieler Bundesfreunde und Gesprächspartner aus allen Bezirken über die entstandene Lage und fordert die Leitungen und Vorstände auf, unsere Kräfte gemeinsam mit allen gesellschaftlichen Partnern für die Weiterentwicklung des Sozialismus, der sozialistischen Demokratie in unserem Lande einzusetzen. ( ... )

Wir sind sehr betroffen, daß viele Tausende ihre Heimat, unser Land, verlassen. Das Wirken der Gegner des Sozialismus dabei ist für jeden offensichtlich, aber wir stellen uns auch die Frage, warum es uns nicht gelungen ist, vor allem junge Menschen unter den Auswanderern für das schwierige, aber perspektivreiche Leben bei uns zu gewinnen.

Die unerläßliche Erneuerung unserer Gesellschaft fördern wir vor allem dadurch, daß in den Klubs der Intelligenz, und in allen Kulturbundveranstaltungen das offene Gespräch über alle ökonomischen, politischen und geistig-kulturellen Fragen unseres Lebens stattfindet. Entschieden setzen wir uns dafür ein, daß das Wort unserer Abgeordneten, unserer Leitungen und unserer sachkundigen Mitglieder von den staatlichen Organen gehört und berücksichtigt wird. Ein reicheres kulturelles Leben überall muß das Ziel sein. In unserer kulturpolitischen Wochenzeitung Sonntag' sollen die wichtigsten Themen unserer Zeit offen, realistisch und konstruktiv erörtert werden. ( ... ) Unser Land braucht alle Ideen und Kräfte für Frieden, Demokratie und Sozialismus, denn die großen Ideale der Menschheit können in keiner Ausbeuterordnung verwirklicht werden."

(BZ, 13. 10. 1989)

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