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Löcher in der Mauer
Materialiensammlung
DDR 1989

Neue Chronik DDR
1. Folge 2. Auflage Verlag Tribüne Berlin GmbH 1990 ISBN 3730305822  
2. Folge 1. Auflage Verlag Tribüne Berlin GmbH 1990 ISBN 3-7303-0594-8

4. Oktober 1989

ADN teilt mit: "In Übereinkunft mit der Regierung der CSSR hat die Regierung der DDR entschieden, die Personen, die sich widerrechtlich in der Botschaft der BRD in Prag aufhalten, über das Territorium der DDR in die BRD auszuweisen. Dabei ließ sie sich vor allem von der Lage der Kinder leiten, die von ihren Eltern in eine Notsituation gebracht worden sind und die für deren gewissenloses Handeln nicht verantwortlich gemacht werden können."
(ND, 5. 10. 1989) 

Was der DDR-Zeitungsleser nicht erfährt ist, daß es sich um rund 7 600 DDR-Flüchtlinge handelt, die in verriegelten Sonderzügen der Deutschen Reichsbahn über das Gebiet der DDR transportiert werden. Angeblich hatte sich die Ausreise "aus technischen Gründen" um einen Tag verzögert. In Wirklichkeit mußten Gleise und Bahnhöfe entlang der Strecke von Menschen geräumt werden, die auf die fahrenden Züge aufspringen wollten.  

Zu schweren Zusammenstößen mit Sicherheitskräften der DDR kommt es am Dresdener Hauptbahnhof. Hier haben sich etwa 10 000 Menschen (Reisende, Ausreisewillige, Schaulustige) versammelt. Es kommt zu tätlichen Auseinandersetzungen und zu Verletzten auf beiden Seiten. Der Sachschaden am Bahnhofsgebäude, das mit Pflastersteinen beworfen wird, ist hoch.  

Unter den Angehörigen der Volkspolizei-Bereitschaften, die zur Absicherung um den Dresdener Hauptbahnhof aufgezogen sind, befindet sich auch der 23jährige Maik Schmidt aus Leutersdorf, Krs. Zittau. Ihm wurde mit einem Wurfgeschoß der Unterkiefer gebrochen. Gegenüber der FDJ-Zeitung Junge Welt" berichtet er u. a.: "( ... ) Am Dresdener Hauptbahnhof hatten sich, von kleinen Gruppen organisiert, einige tausend Randalierer und leider auch Schaulustige eingefunden, die Hetzparolen und neonazistische Sprüche schrien. ( ... ) Ich versuchte mit meinen Genossen, am Taxistand des Ausgangs Prager Straße für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Die Meute bestürmte uns, schlug auf uns mit Gummischläuchen ein, die mit Metall gefüllt waren, Brandflaschen wurden geworfen, Eisenhaken flogen uns um die Köpfe, Feuerlöscher wurden als Wurfgeschosse benutzt, schließlich rissen sie das Straßenpflaster auf und schleuderten die Steine auf uns, so daß wir zurückweichen mußten. Als ich einen Stein abgewehrt hatte, traf ein anderer auf meine Schildkante und flog mir ins Gesicht. ( ... ) In mir steigt Zorn auf, wenn entgegen jeder Wahrheit behauptet wird, die VP knüppele gegen alles, was sich da in den Weg stellt. Aber unsere Geduld wurde bis zur Schmerzgrenze in Anspruch genommen, als wir praktisch tatenlos mitansehen mußten, wie eiskalt mit Kindern, ja Säuglingen, gepokert wurde, um das durchzusetzen, was mit der Eisenstange nicht gelang. Was sind das für Frauen, die ihre Babys im Kinderwagen aufs Gleis schieben, um dieses zu blockieren! Was ist das für eine Mutter, die mit der Nahrungsverweigerung für ihre drei Kinder, praktisch auf deren Kosten, solange einen Hungerstreik durchführen wollte, bis sie in den Westen ausgereist ist!"  
(JW, 9. 10. 1989)  

Nach Informationen des Neuen Forum werden von den Sicherheitskräften Wasserwerfer und Schlagstöcke eingesetzt.  

In der Berliner Gethsemanekirche beginnt Angela Kunze eine Fastenaktion. in einem Flugblatt erklärt sie:  

"Ein konkretes Angebot zum gewaltfreien Widerstand.  
- Ich faste, um mich zu besinnen und mein Leben durch Stille und Gebet neu auszurichten.  
- Ich faste, um mich reinigen zu lassen von Angst und Resignation, Haß und Gewalt, Ungeduld und Sensationslust.  
- Ich faste, weil ich keine andere Ausdrucksmöglichkeit für meinen Protest sehe, gegen die Art und Weise, mit der unsere Politiker ungerührt den Schein aufrechterhalten und den 40. Jahrestag als ihren Sieg feiern.
- ich faste, weil ich, im Gegensatz zu unseren staatlichen Medien, betroffen bin über die große Anzahl von Menschen, die unser Land verlassen.  
- Ich faste, um in Solidarität zu leben mit allen Menschen, die sich für soziale Gerechtigkeit t einsetzen und deswegen leiden müssen und verfolgt werden.
- Ich faste in der Hoffnung, daß sich auch noch andere daran beteiligen -Stunden oder tageweise, und wir ein Zeichen unseres persönlichen Engagements für dieses Land setzen und bereit sind, dafür unsere materiellen Bedürfnisse einzuschränken."

Das Präsidium der Akademie der Künste gibt folgende Erklärung ab:

"Das Präsidium der Akademie der Künste ist der Ansicht, daß das vierzigjährige Bestehen der Deutschen Demokratischen Republik, an dem wir teilhaben mit Leben und Arbeit, ein Grund ist, um ein umfassendes offenes und öffentliches Gespräch zu beginnen. Der Sozialismus, der sich auch als alternativer Entwurf zur bürgerlichen Weltordnung Versteht, ist für die Mehrheit der Menschen da, und die Mehrheit muß sich an ihm beteiligen, damit er die materielle, geistige und moralische Produktivität gewinnt, um sich durchzusetzen. Er braucht öffentliches Denken als Instrument und Korrektiv seiner Pläne, als Vermittlung zwischen historischem Anspruch und alltäglicher Erfahrung. Öffentlichkeit ist notwendig auf allen Ebenen der Gesellschaft. Sie benötigt Diskussion und Disziplin, Solidarität und die Persönlichkeit jedes einzelnen, und das alles zugleich.    
Der wissende und informierte Mensch ist handlungsfähig. Wer gebraucht wird, auch mit seinem Kopf, fühlt sich zu Hause. Wir haben einen Vorrat an Denksubstanz, die beste Währung unseres Landes. Er stellt die eigentliche Produktionsreserve dar, sie muß freigesetzt werden. Das heißt, daß keine Frage von Belang unausgesprochen bleiben darf.

Die täglichen Erfahrungen des Bürgers prägen die öffentliche Meinung in unserem Land, die oft genug im Gegensatz zu der veröffentlichten Meinung steht, ein Widerspruch, der zu empfindlichen Störungen des moralischen und geistigen Klimas in der Gesellschaft ' führt. Dieser Widerspruch muß durch ein neues Verständnis für den Gebrauch der Medien aufgelöst werden, durch das auch eine Ritualisierung der Sprache zu überwinden wäre, die häufig den gemeinten Sinn nicht mehr trägt.

Entscheidungen, die Bürger unseres Landes betreffen, müssen für diese begründet und durchschaubar sein. Wo dies nicht der Fall ist und Anonymität waltet, entsteht ein ohnmächtiges Bewußtsein der Be­vormundung, das in direktem Gegensatz zu dem von der veröffentlich­ten Meinung propagierten Bild des mündigen Staatsbürgers gerät.  

Vertrauen beruht auf Vertrauen. Wir brauchen es als Grundwert des Umgangs miteinander. Niemand darf verdächtigt werden, der sich Sorgen um die Zukunft unseres Landes macht.  

Die DDR hat die Identität auch durch ihre Kunst gewonnen. Auf die Auskünfte der Künste über Lebensqualität und Lebensgefühl, über die tatsächliche moralische Befindlichkeit des Individuums, kann so wenig verzichtet werden, wie auf ihren Gehalt an humaner Utopie. Soziale Sicherheit ist nicht denkbar ohne den geistigen Reichtum der Kultur.

Wenn wir erörtern, was wir weiter mit diesem Land vorhaben, wenn wir Vorzüge und Nachteile vergleichen, Chancen und Verzicht, wenn wir Vorschläge erwarten, dann motivieren wir Menschen verschiedener Generationen, Gemeinwohl und eigenes Leben miteinander in Beziehung zu setzen.  

Antifaschismus, Friedensliebe, soziale Gerechtigkeit, die Pflege und Mehrung der Kultur, das sind geistige Grundpositionen unserer Gesellschaft und bleibende Arbeitsfelder. Wir sind nicht am Ziel. Wir haben uns zu behaupten, benachbart einem anderen deutschen Staat in einem anderen Weltsystem, der unsere Sprache spricht und aus gleicher Geschichte kommt. Wir sind mit ihm widersprüchlich verflochten in Kooperation und Konfrontation, in menschlicher Verbindung und politischer Trennung. Die Vernunft, die wir unserer gemeinsamen Zukunft schulden, wird bedroht durch Kräfte, die uns noch immer die Existenz bestreiten, auch durch Leute, die uns plündern mit dem Ausdruck des Bedauerns.

Die gesellschaftliche Strategie, die der XII. Parteitag der SED zu erarbeiten hat, beruht auf der täglichen Arbeit von Millionen Menschen in allen Bereichen der Produktion.

Die Akademie der Künste stellt ihre Erfahrungen und die Fähigkeiten ihrer Mitglieder zur Verfügung, jetzt und auf Dauer."

(BZ, 13. 10. 1989)  

Vertreter der oppositionellen Bürgerbewegung Demokratie jetzt, des Demokratischen Aufbruchs, der Gruppe Demokratischer Sozialistlnnen, der Initiative Frieden und Menschenrechte, der Initiativgruppe Sozialdemokratische Partei in der DDR, des Neuen Forums sowie Vertreter von Friedenskreisen finden sich zusammen, um, wie es in ihrer Gemeinsamen Erklärung heißt, "Möglichkeiten gemeinsamen politischen Handelns zu besprechen". Weiter lautet die Gemeinsame Erklärung:  

"Wir begrüßen die sich entwickelnde Vielfalt der Initiativen als Zeichen des Aufbruchs und des wachsenden Mutes, eigene politische Positionen öffentlich zu vertreten.  

Uns verbindet der Wille, Staat und Gesellschaft demokratisch umzugestalten. Es kommt darauf an, einen Zustand zu beenden, in dem Bürgerinnen und Bürger dieser Gesellschaft nicht die Möglichkeit haben, ihre politischen Rechte so auszuüben, wie es die Menschenrechtskonventionen der Vereinten Nationen und die KSZE-Dokumente verlangen. Wir erklären uns solidarisch mit allen, die wegen ihres Einsatzes für diese Ziele verfolgt werden. Wir setzen uns ein für die Freilassung der Inhaftierten, die Aufhebung ergangener, Urteile und die Einstellung laufender Ermittlungsverfahren. 

Wir halten es für vorrangig, in unserem Lande die Diskussion darüber zu eröffnen, weiche Mindestbedingungen für eine demokratische Wahl eingehalten werden müssen: Sie muß unterschiedliche politische Entscheidungen ermöglichen. Sie muß geheim sein, d. h. die Wähler sind verpflichtet, eine Wahlkabine zu benutzen. Sie muß frei sein, d. h. niemand darf durch Druck zu einem bestimmten Wahlverhalten genötigt werden. Die nächsten Wahlen sollten unter UNO-Kontrolle stattfinden. Wir wollen zusammenarbeiten und prüfen, in welchem Umfang wir ein Wahlbündnis mit gemeinsamen eigenen Kandidaten verwirklichen können. Um unser Land politisch zu verändern, bedarf es der Beteiligung und der Kritik aller. Wir rufen alle Bürgerinnen und Bürger der DDR auf, an der demokratischen Erneuerung mitzuwirken."

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