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Löcher in der Mauer
Materialiensammlung
DDR 1989

Neue Chronik DDR
1. Folge 2. Auflage Verlag Tribüne Berlin GmbH 1990 ISBN 3730305822

2. Folge 1. Auflage Verlag Tribüne Berlin GmbH 1990 ISBN 3-7303-0594-8

2. Oktober 1989

Der Leiter der Ständigen Vertretung der DDR in der BRD, Botschafter Horst Neubauer, trifft mit BRD-Minister und Kanzleramtschef Rudolf Seiters in Bonn zusammen. Wie ADN mitteilt, legt er "entschiedene Verwahrung dagegen ein, daß von BRD-Seite Absprachen und Zusagen im Zusammenhang mit der Ausweisung ehemaliger DDR-Bürger aus den BRD-Botschaften in Prag und Warschau nicht eingehalten wurden". Er verwahrt sich gegen Falschdarstellungen verantwortlicher BRD-Politiker über den Ablauf der Aktion am 30. 9./1. 10. 1989. Wörtlich heißt es bei ADN weiter: 

“(...) Botschafter Neubauer wies darauf hin, daß es sich um eine einseitige Entscheidung der DDR gehandelt habe, die ausschließlich aus humanitären Gründen getroffen wurde, nicht zuletzt im Interesse von Kleinkindern. Diese Entscheidung war Bundesminister Seiters am Vormittag des 30. September durch den Leiter der Ständigen Vertretung der DDR in der BRD ( ... ) im Auftrage der Regierung der DDR mitgeteilt worden. Wenn der bei dieser Unterredung anwesende BRD‑Außenminister Genscher nunmehr den ‚Ruhm' in Anspruch nimmt, durch angestrengte Verhandlungen in New York und anderswo die bekannte Regelung durchgesetzt zu haben, so entspricht dies schlicht der Unwahrheit. 

In den Gesprächen mit Bundesminister Seiters war darauf verwiesen worden, daß die DDR davon ausgeht, daß seitens der Regierung der BRD Schlußfolgerungen für den normalen, den internationalen Gepflogenheiten entsprechenden Betrieb in ihren Botschaften in Prag und Warschau gezogen werden. Dazu gab es eine entsprechende Abstimmung. Auch dies wurde von BRD‑Seite nicht eingehalten. Botschafter Neubauer verwies Bundesminister Seiters darauf, daß dies auf Seite als grober Vertrauensbruch betrachtet wird. Er forderte nachdrücklich, daß die sich inzwischen wieder in den BRD‑Botschaften in Prag und Warschau befindlichen DDR‑Bürger aus den Botschaften verwiesen werden und in die DDR zurückkehren, wo sie ihre Anliegen vorbringen können, über die entsprechend bekannten Zusicherungen entschieden wird. Botschafter Neubauer betonte, daß vernünftige Lösungen auch bei schwierigen 'Fragen nur bei gegenseitigem Vertrauen und gegenseitiger Verläßlichkeit gefunden werden können. Bestrebungen, humanitäre Lösungen für politische Demonstrationen und Medienspektakel zu gebrauchen, verbauen den Weg für sachliche Zusammenarbeit."
(ND, 3.10.1989)
 

In Leipzig demonstrieren 15 000 bis 20 000 Menschen nach dem Friedensgebet in der Nikolaikirche für Reformen in der DDR. Es kommt zu Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften. Auf beiden Seiten gibt es Verletzte. Mehrere Demonstranten werden festgenommen.

Gegenüber ADN äußert sich zu dieser Demonstration der amtierende Vorsitzende des Zivilsenats des Bezirksgerichtes Leipzig, KarlHeinz Matheiowetz, hinsichtlich rechtlicher Aspekte später: 

"( ... ) Er betonte, daß derartige Veranstaltungen anmeldepflichtig sind. Da für die Veranstaltung am 2. Oktober keine Genehmigung erteilt war, sei sie ungesetzlich gewesen. Nicht genehmigte Demonstrationen könnten durch die Ordnungskräfte der VP aufgelöst werden, Darüber hinaus sei nicht auszuschließen, daß die mit der Demonstration verbundenen Aktivitäten strafrechtliche Tatbestände erfüllen. Teilnehmende müßten nach den Grundsätzen des Zivilrechts auch voll für alle von ihnen angerichteten materiellen Schäden aufkommen."
(BZ, 10. 10. 1989)
 

In der Gethsemanekirche in Berlin-Prenzlauer Berg beginnt eine von nun ab ununterbrochen durchgeführte Mahnwache für die politischen Gefangenen in der DDR. In einem Flugblatt verweist die Mahnwache darauf, daß in den letzten Wochen "in Leipzig, Potsdam und Berlin Menschen wegen ihres gesellschaftlichen Engagements und der Wahrnehmung grundlegender Menschenrechte kriminalisiert und inhaftiert" wurden. Die Mahnwache fordert: "Freilassung der Inhaftierten, keine Abschiebung der Betroffenen gegen ihren Willen, Einstellung der Ermittlungsverfahren, Aufhebung aller Strafbefehle (Haft- und Geldstrafen)". Sie erklärt: 

"Die gegenwärtige innenpolitische Krise kann mit polizeistaatlichen Methoden nur verschärft und in keinem Falle gelöst werden. Auch die größte Fluchtwelle. seit dem Mauerbau zeigt, daß die Abschottung eines Landes von politischen Veränderungen in Europa nicht möglich ist, denn ein Land, das sein konstruktives Potential einer starren, festgefahrenen Staatsräson opfert, verspielt die eigene Zukunft. 

Täglich finden um 18.00 Uhr in der Gethsemanekirche aktuelle Informationsandachten statt. ( ... ) Bringt bitte Kerzen, Blumen und Nahrungsmittel, Tee und Kaffee mit."

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