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Internationalismus als Realitätsflucht

Teilnehmer: Bahman Nirumand, Hansi Scharbach und Peter Schneider

Diskussionsleitung: Jochen Staadt

JochenStaadt: Ich möchte eingangs nochmals darauf hinweisen, daß wir das Thema Internationalismus oder internationale Dimension der Studentenbewegung in zwei Teile aufgeteilt haben. Wir haben diese Diskussion heute, die sich befassen wird mit dem Verhältnis der Studentenbewegung und der Folgebewegung zur Dritten Welt. Und wir haben die letzte Veranstaltung der Reihe mit Gästen aus Italien, Frankreich und den USA, zum Thema der internen Verbindungen, gegenseitigen Beeinflussungen der Studentenbewegung. Ich möchte eingangs die Teilnehmer der Diskussion vorstellen. Ganz links sitzt Bahman Nirumand. Bahman Nirumand ist 1965 ins Exil nach Deutschland gekommen aus dem Iran, hat in Tübingen studiert damals, später über Berthold Brecht promoviert. Bahman Nirumand hat 1967 ein für die Ereignisse und in der Entwicklung der Ereignisse sehr wichtiges Buch geschrieben, "Persien Modell eines Entwicklungslandes oder die Diktatur der freien Welt". Dieses Buch ist im Zusammenhang mit der Diskussion der Vorbereitung des 2. Juni und der Folgen des 2. Juni hier sehr stark rezipiert worden. Es hat, glaube ich, eine Auflage von weit über 100.000 gesehen, ist bei rororo erschienen. Gibt es das noch? Ich habe jetzt in der Vorbereitung der Veranstaltung noch einmal 'reingeguckt, was immer noch sehr interessant und lesenswert ist. Bahman Nirumand hat in der Folgezeit eine Reihe von Büchern publiziert, die sich mit den Verhältnissen im Iran und auch jetzt zuletzt mit den Verhältnissen in der Bundesrepublik beschäftigen. Ich will nur einige davon nennen. Es ist 1974 von ihm erschienen "Feuer unterm Pfauenthron" ... also die beiden haben dies zusammen herausgegeben. Jetzt in der neueren Zeit: "Linke hinter Gittern, verdorrende Blumen", "Mit Gott für die Macht", eine politische Biographie, "Bis die Gottlosen vernichtet sind". Und z.Z. arbeitet Bahman Nirumand an einem Band über die Bundesrepublik, bzw. über seine Erfahrungen des Lebens in der BRD, seine Erfahrungen mit den Deutschen. Bahman Nirumand wird uns berichten über die Vorbereitung und über die Ereignisse und Diskussionen, die nach dem 2. Juni die Studenten und die bundesrepublikanische Öffentlichkeit in dieser Zeit bewegt haben. Und er wird etwas über seine meiner Ansicht nach sehr bemerkenswerten Erfahrungen berichten, nämlich aus dem Exil zurückzugehen in die Situation der Revolution im Iran, und dort zu erleben, wie eigentlich die Hoffnungen, mit denen er dort hingegangen ist, zerstört worden sind, und wieder ins Exil gehen zu müssen.

Neben mir sitzt Peter Schneider. Peter Schneider ist auch mit den Ereignissen des 2. Juni, wie ich jetzt erfahren habe sehr eng verbunden gewesen, er hat dieses bekannte Flugblatt, was jetzt in der Presse überall auch wieder dokumentiert worden ist, diesen Steckbrief verfaßt, der damals mit dem Kopf des Schahs hier überall geklebt worden ist und einiges Aufsehen erregt hat in der Vorbereitung der Demonstration anläßlich des Schahbesuches. Peter Schneider war im Umfeld des SDS tätig, und an der Diskussion des SDS beteiligt in dieser Zeit, er ist Schriftsteller und hat eine ganze Masse von Büchern veröffentlicht. Ich will auch nur einige nennen, 1969 ein Buch, was vielleicht viele verwundern wird, das heißt "Frauen bei Bosch", und ist eine Untersuchung, die, wenn ich richtig informiert bin, auch auf deinen eigenen Erfahrungen bei Bosch basiert. Warum soll nicht ein Mann eine Untersuchung für Frauen veröffentlichen? Später ein Buch, das uns alle sehr beeindruckt hat in dieser Zeit, über das wir sehr viel diskutiert haben: "Lenz". Dann in der Phase der Berufsverbote "Schon bist du ein Verfassungsfeind". Später auch ein Buch, das auch verfilmt worden ist, ein Drehbuch, "Messer im Kopf". Dann Essays, "Die Botschaft des Pferdekopfes", "Der Mauerspringer", auch verfilmt, als Drehbuch erschienen. Zuletzt "Vati" und eine Sammlung von Essays "Deutsche Ängste".

Rechts neben mir Hansi Scharbach, den haben wir zusätzlich eingeladen, er ist vom Verein für angewandte Technologien in der 3. Welt, und soll im zweiten Teil der Diskussion mit eingreifen und Stellung beziehen zur Entwicklung, sozusagen zu den Konsequenzen, die sich aus den Diskussionen und Erfahrungen des Internationalismus in der Zeit der Studentenbewegung in den 70er und 80er Jahre ergeben haben. Hansi Scharbach war also mehrfach in Nicaragua und hat dort an verschiedenen Projekten mitgearbeitet und wird aus diesen Erfahrungen heraus etwas zu der Diskussion beitragen. Wir haben drei Hauptkomplexe, zu denen wir hoffen, daß die Diskussion sich entwickeln wird.

Ich will vorausschicken, daß der 2. Juni ja nicht die erste große Erfahrung des SDS und des Kreises der politisch aktiven Studenten mit Problemen der 3. Welt war. Das hat eine Geschichte, die allerdings nie außerhalb der organisierten Studenten so große Bedeutung gehabt hat wie mit dem 2. Juni. Insofern ist der 2. Juni das Datum, in dem dieses Interesse in solch weitem Umfang auch außerhalb der politisch organisierten, interessierten Studenten Resonanz gefunden hat. Aber der SDS hat, wie gesagt, in den Jahren vorher Ende der 50er Jahre sehr intensive Solidaritätsarbeit geleistet im Zusammenhang mit der algerischen Revolution. Er hat eine Kampagne geführt, an die auch gerade auf dem Hintergrund der jetzigen Diskussion die Öffentlichkeit durchaus noch 'mal erinnert werden kann, die für Dr. Nevil Alexander. Dr. Nevil Alexander ist als Schwarzer aus Süd-Afrika SDS-Mitglied gewesen, der nach seiner Rückkehr in Robben Island, dort wo Nelson Mandela sitzt, inhaftiert worden ist. Es war eine sehr große Kampagne in den 65er (ab 1963, S.L.) Jahren. Und die erste Aktion, die eigentlich in der Öffentlichkeit Aufsehen erregt hat, waren aber nicht diese Kampagnen, sondern die erste große Aktion, die beachtet wurde, war eine Aktion und das wäre in Anknüpfung an unsere Diskussion letzte Woche, in der die Regeln, die damals galten, verletzt wurden: Das war die Störung des rassistischen Films von Jacopetti: "Africa addio". Der "Africa addio", der hier in West-Berlin, im Capitoltheater war das, glaube ich1, durch Studenten der FU, Mitglieder des SDS und Mitglieder der späteren Kommune I verhindert wurde. Das also nur als Vorgeschichte. Es gab also ein Bewußtsein über die Probleme der 3. Welt, es gab sehr viele Arbeitskreise im SDS über die Probleme der 3. Welt. Ich würde jetzt Bahman Nirumand bitten, die Diskussion mit einem Beitrag zu eröffnen.

BahmanNirumand: Ja es fällt mir natürlich nicht leicht, jetzt nach diesen Debatten, die mich an frühere Zeiten erinnern. einen Beitrag zu bringen, in diese Zeiten zurückzukehren. Ich denke, daß wir doch vielmehr versuchen sollten, uns mit der Gegenwart auseinanderzusetzen, auch in Bezug auf den Internationalismus und der internationalen Solidarität. Dennoch so ist es ja geplant. Ich will versuchen, ein paar kurze Worte zu dem zu sagen, was ich während dieser Zeit und danach selbst erlebt habe. Ich denke, daß es angebracht wäre, statt theoretischer Auseinandersetzungen, die ja in vielen Büchern und Schriften bisher geführt worden sind, zu erzählen wie es mir ergangen ist und was ich so erlebt habe. Ich bin also, wie Jochen Staadt schon gesagt hat, 1965 aus dem Iran geflüchtet und zwar vor einer Diktatur, über die ihr ja auch sicherlich genügend gehört habt. Mit einem Koffer voller Akten und Unterlagen über die Situation im Iran. Ich hatte im Iran kurz den deutschen Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger kennengelernt, der mir empfohlen hatte, aus diesen Unterlagen doch ein Buch zu machen und ich habe es gemacht. Und als ich hier ankam, noch voll unter den Eindrücken im Iran, diese große Armut, die Unterdrückung, und all das, was ich erlebt habe, viele Menschen in Gefängnissen usw., war ich sehr verwundert, über die Gesellschaft, die ich hier vorfand. Dieser Reichtum, dieser Überfluß, diese satten Menschen, die eigentlich 20 Jahre nach dem Krieg sich wieder sehr wohl fühlten und ihre Vergangenheit hinter sich gelassen hatten. Aber bei genauem Beobachten habe ich natürlich auch viele Menschen getroffen, die diese Zufriedenheit und diesen Wohlstand nicht so sehr gut fanden, und auch der Meinung waren, daß die Vergangenheit noch längst nicht bewältigt war. Die sich natürlich unwohl fühlten in einer autoritären Gesellschaft, diese autoritären Beziehungen innerhalb der Universität, in den Schulen, in der gesamten Gesellschaft.

Und irgendwie trafen wir uns, d.h. wenn ich wir sage, die Angehörigen, geflüchteten, emigrierten Menschen aus den Ländern der 3. Welt. Und die Unzufriedenen hier aus den Metropolen. Und wir reichten uns die Hände und dachten daß es möglich wäre, durch eine Zusammenarbeit, durch gemeinsamen Kampf die Welt zu verändern. So, weniger ging unser Anspruch nicht. Wir wollten also die Welt verändern. Und da gab es Theoretiker und Praktiker. Die Theoretiker saßen im SDS, die Praktiker mehr da am Rande oder in der Kommune I. Und als dann die erste Nachricht bekannt wurde, daß der Schah von der BRD eingeladen worden sei, und er kommen sollte, da gab es hier ja eine iranische Opposition, die ziemlich stark war, die CISNU2. Und wir haben uns natürlich zuerst an die Theoretiker gewandt, an den SDS, mit der Bitte, uns zu unterstützen, hier in der BRD eine Kampagne durchzuführen. Und zu versuchen diese Freundschaft da oben, die zwischen der Bundesregierung und dem Schah bekundet werden sollte, zu verhindern. Der SDS hat unsere Bitte zunächst abgelehnt. Und zwar mit der Begründung, daß es jetzt darum geht, sich auf Vietnam zu konzentrieren und man dürfe sich nicht so verzetteln. Und naja der Schah, der sei auch nicht so wichtig. Und unsere Argumente, daß das jetzt etwas ist, was fühlbar und eigentlich 'was ganz konkretes ist, gegen das man sich wehren sollte, wurden nicht akzeptiert. Wir wandten uns an die Kommune I. Und da wurden wir sehr freundlich empfangen, und sofort wurden Aktivitäten gestartet. Der SDS und die Theoretiker, die kamen erst zum Schluß, als es klar wurde wie brisant dieser Besuch sein wird.

Ich denke, daß diese Geschehnisse am 2. Juni doch sehr viel die Bewegung hier in der BRD beeinflußt haben. Nicht zuletzt deshalb, daß zum ersten mal die staatliche Gewalt sehr offenbar wurde, und es einen Toten gab, Benno Ohnesorg. Darf ich in Klammern sagen, daß ich mich sehr wundere, daß es in der BRD und natürlich auch in West-Berlin überhaupt kein Gedenken und nichts an Benno Ohnesorg gibt. Der Versuch wenigstens eine Gedenktafel in der Krumme Straße anzubringen ist bisher gescheitert.3 Wir haben wenigstens im Iran gleich am zweiten Tag nach dem Sturz des Schahs eine Straße nach Benno Ohnesorg benannt, die heißt immer noch so. Ich will jetzt nicht theoretisch auf den damaligen Internationalismus eingehen, ich will sagen: Aus der Sicht der Länder der 3. Welt war die Unterstützung, die wir hier erhalten haben, von sehr großer Bedeutung für uns. Ich denke, daß die vietnamesische Revolution, auch die iranische Revolution, in der Form oder in der Zeit, in der sie stattgefunden haben, nicht möglich gewesen wären ohne diese Unterstützung, die wir vom Ausland und auch von der BRD her erhalten haben. Für uns war also diese Unterstützung von großer Bedeutung.

Ich habe jetzt nachträglich versucht, mir aus der Sicht der Deutschen zu überlegen, wie es dazu kam, daß diese Solidarität in dieser breiten Form stattgefunden hat. Ich denke, daß es einmal die Moral war, also ein moralisches Engagement war. Man hat sich Gedanken gemacht über den Widerspruch, den es gab zwischen den verbalen Bekundungen zu Menschenrechten, zur Humanität hier in den Metropolen, und den Napalmbomben in Vietnam. Viele haben behauptet, daß die Freiheit Berlins in Vietnam verteidigt werden würde. Und das war ein moralisches Engagement, sich für die Befreiungsbewegungen einzusetzen. Zweitens gab es theoretische Überlegungen, einfach gesagt, die Theorie von dem Kampf von den Dörfern in die Städte, die Dörfer waren die Entwicklungsländer, die Städte die Metropolen. Und gemäß dieser Theorie sollte zunächst ein Sieg der Befreiungsbewegungen der 3. Welt herbeigeführt werden, und danach die Revolution in den Metropolen. Und ich denke, es ist viel wichtiger, daß dieses Engagement auch psychologisch betrachtet werden muß. Die mit der eigenen Gesellschaft Unzufriedenen projizierten ihre Wünsche in eine andere Welt, in Angehörige der 3. Welt. Und ich denke, daß es dafür auch viele Gründe gab. Ich denke also, wenn man Vergleiche anstellt zwischen Che Guevara und Heinrich Lübke oder Kurt Georg Kiesinger, rein vom Aussehen her, daß das also sehr viel schon erklärt. Dieses psychologische Moment führte dazu, daß wir, daß plötzlich die Länder der 3. Welt zum Subjekt der Geschichte erklärt wurden. Jeder Angehörige der 3. Welt wurde hier in die Rolle eines politischen Helden gedrängt, ob er das wollte oder nicht. Ich habe da also ganz kuriose Situationen miterlebt, daß Leute, die mit Politik überhaupt nichts zu tun hatten, plötzlich in die Rolle gedrängt wurden, jetzt politisch sich zu engagieren und als Helden der Geschichte aufzutreten.

Die Studentenbewegung ging meiner Ansicht nach wenige Monate nach dem Attentat auf Rudi Dutschke zuende. Die Ergebnisse waren meiner Ansicht nach die die außenpolitisch zu sehen sind, wozu sie beigetragen hatten, das kennen wir: die vietnamesische Revolution und alles, was in der 3. Welt geschehen ist. Zum Inneren der BRD wird wahrscheinlich Peter mehr sagen.

Ich will nur wieder auf meine eigene Geschichte zurückkommen. Ich bin also mit all diesen Theorien, die wir während der 70er Jahre noch genauer definierten, vom Kampf des Proletariats, vom Klassenkampf, von der Befreiung usw., mit all diesen Theorien im Kopf und mit sehr großen Hoffnungen in den Iran gereist und habe sozusagen tagtäglich eine wirkliche Revolution miterlebt. Und ich mußte tagtäglich, das muß ich jetzt nachträglich zugeben, tagtäglich Abstriche machen, von diesen Theorien, die wir damals im Kopf hatten. Viele von uns dachten nach dem Sturz des Schahs, das sei jetzt die Februarrevolution, es würde dann bald die Oktoberrevolution kommen, und das hatte ja auch tatsächlich im Februar stattgefunden. Aber die Geschichte verlief völlig anders, als wir uns das gedacht hatten. Ich mußte feststellen, daß es nicht so war, daß die Massen immer recht hatten, im Gegenteil, ich mußte feststellen, daß revolutionäre Gewalt nicht zur Befreiung führt. Ich mußte feststellen, daß ökonomische Widersprüche zwischen den ökonomisch definierten Klassen nicht zur Revolution führen, daß da kulturelle Momente eine viel wichtigere Rolle spielen usw. Vielleicht kommen wir in der Diskussion noch dazu, darüber zu reden. Und ich denke, diese Befragungen einer wirklichen Revolution sind sehr bedeutend und wichtig. Ich bin dann mit großer Enttäuschung gezwungenermaßen, weil ich nach zwei Jahren wieder in den Untergrund gehen mußte, wieder in die BRD geflüchtet, und hier habe ich ein anderes Land vorgefunden. Ich habe gesehen, wie die neue Subjektivität, wie die neue Innerlichkeit da Fuß gefaßt hatte. Ich habe ein Erlebnis gehabt, und zwar in Frankfurt, da gab es eine Veranstaltung über den Golfkrieg, und diese Veranstaltung war sehr breit propagiert worden, es waren prominente Redner eingeladen. Und einige Schritte daneben lief ein Film von Kluge, "Die Macht der Gefühle" hieß der, glaube ich, und da hatte sich eine ganz lange Schlange gebildet, während in diesem Saal, wo über den Golfkrieg gesprochen wurde, kaum 50 Menschen teilgenommen haben. Und wir sehen das ja auch heute, wie der Internationalismus als eine wichtige Frage empfunden wird. Ich denke, daß die Leute sich hier weitgehend zurückgezogen haben. Diese Solidarität, die es früher in den 60er Jahren gegeben hat, die gibt es in der Weise heute hier nicht. Das hat sehr viele Gründe, ich denke, daß man sich jetzt viel mehr auf die Probleme in der BRD, auf ökologische Probleme, auf Rüstungsprobleme konzentriert hat. Dennoch muß ich sagen, daß ich mich sehr wundere, daß z.B. eine Friedensbewegung, die also für den Frieden kämpft, sich so gut wie gar nicht gegen einen Krieg engagieren kann, der schon seit 7 1/2 Jahren dauert, und über eine Million Tote und mehrere Millionen Verwundete und Invaliden zum Opfer gehabt hat. Ich denke, daß da irgend etwas nicht ganz stimmt, und vielleicht können wir darüber reden. Ich höre jetzt auf, ich sehe daß ich viel zu lange geredet habe.

PeterSchneider: Vielleicht wundern sich einige von Ihnen, ebenso wie ich selbst, daß ich bei diesem Thema hier sitze. Ich bin selbstverständlich kein Experte in Internationalismus. Ich bin glaube ich deswegen eingeladen worden, weil ich bei dem SDS-Wiedersehen vor 2 1/2 Jahren einen vehementen Exkurs gemacht habe darüber, daß nur historische Betrachtungen angestellt wurden über den Internationalismus der Studentenbewegung, und ich den Eindruck hatte, daß die Betreffenden, die diese Analysen anstellten, immer noch da waren und lebten, und mich vielmehr interessierte, was sie inzwischen dachten, nachdem sie ja, verschiedene 15 Jahre lange Erfahrungen damit gemacht hatten. Und davon war eben so wenig die Rede.

Und ich will auch diese Gelegenheit benutzen, hier einige von meinen Schlußfolgerungen vorzutragen. Das wird aber nur zum Teil reflektierend sein, zum Teil erzählend. Einen kleinen historischen Exkurs muß ich wohl doch machen, nämlich über etwas, was ich den emotionalen Internationalismus der Studentenbewegung nennen möchte. Es gibt nämlich keine zwingenden politischen Gründe, die erklären, warum dieser Internationalismus eine so gewaltige Kraft wurde innerhalb der Studentenbewegung. Ich glaube, daß man das zunächst einmal so erklären muß, und ich spreche eigentlich da ganz bürokratisch. Der Internationalismus war ein Mittel, aus einer verhaßten Haut herauszukommen, der Haut, ein Deutscher zu sein. Es war ja für einen einigermaßen aufmerksamen Menschen in meiner Generation nicht eben einfach, sich irgendwie wohl zu fühlen als junger Deutscher. Und ich weiß nicht, wie dies heute empfunden wird von denen, die heute so alt sind. Es gab sozusagen für jeden, der sich ein bißchen mit der Vergangenheit und übrigens mit der Gegenwart dieser 50er und 60er Jahre auseinandersetzte, eine Art Zwang, auch eine Verführung: Raus, raus aus diesen Nationalismen, raus aus der Identität, Deutscher oder Europäer zu sein. Es gab einen, finde ich, kräftigen und sehr schönen Wunsch, ein Weltbürger zu sein. Mir hat damals immer dieser Satz von dem russischen Anarchisten und Futuristen gefallen. "Jeder Mensch hat ein Recht auf ein Zimmer in jeder Stadt".4 Das war so ein Gefühlsgrund, das kommt ja längst vor politischen Optionen und Statements. Und es ist dann interessant zu sehen, wie sich dieser emotionale Internationalismus in der Folge entwickelt und ganz andere Richtungen eingeschlagen hat.

Ich möchte zunächst 'mal von zwei Erfahrungen sprechen, die im Abstand von 15 Jahren die eigene Position umreißen. Als die Studentenbewegung anfing, kam ich gerade aus England zurück. Mit einer der ersten Redner, die ich auf dem Podium sah, war Bahman Nirumand, der hier neben mir sitzt. Ich will es auch wieder emotional beschreiben. Ich hatte mich natürlich mit Persien beschäftigt. Ich hatte das Buch von Bahman gelesen, es war damals erschienen. Ich hatte kurz zuvor diesen Steckbrief mitverfaßt.5 Das, was für mich in der Vorbereitungssitzung der Vollversammlung des 2. (richtig 1., S.L.) Juni entstand, war das Gefühl, daß hier endlich jemand wußte, wovon er sprach. Es war eine Befreiung von all den großen Undeutlichkeiten, den allzu großen Begriffen, wo man nicht genau wußte, wie man die füllte. Es war sozusagen ein Abgesandter aus einer schlimmen und deshalb besseren Welt, der wußte, wovon er sprach. Der klare Ziele angeben konnte. Das Wort "Mitbestimmung, Freiheit" bekam plötzlich einen Sinn. Und tatsächlich haben wir die spontane Identifikation mit den Unterdrückten in den armen Ländern ja so aufgefaßt und dazu benutzt, uns selber besser zu verstehen, oder unsere eigenen Probleme besser zu verstehen. Es lief ja auch in der Tat so, daß sobald man in Sachen Persien, in Sachen Vietnam auf die Straße ging, sofort eine interne Kette von Repressionen einsetzte, die uns zum ersten Mal mit dem Potential von Repressionen im eigenen Land bekannt gemacht haben. Ich habe damals in einer Rede das so formuliert, wir haben monatelang, jahrelang über Vietnam, über Persien gesprochen, ohne daß sich irgend etwas regte. Und wir mußten nur einmal den Rasen betreten, dessen Betreten verboten war, um einhellige und nachhaltige Empörung zu erregen und dann haben wir erstmal begriffen, daß wir den Rasen betreten, die Marschordnung ändern müssen, bevor sich irgend etwas in Bewegung setzt.6 Es gab also diese Vermittlung zwischen dem Engagement für die 3. Welt, und der Sichtbarmachung der Konflikte und Widersprüche im eigenen Land.

Ich mache jetzt einen Sprung, und erzähle kurz davon, daß ich - wie viele von uns damals - eines der ersten Lektüreopfer des Roten Buches (von Mao Tse-Tung) wurde. Ich war ein begeisterter Anhänger der chinesischen Kulturrevolution. Und ich will jetzt keine theoretischen Ausflüge machen, es gab ja auch gute Gründe für uns, nachdem wir an das klassische Revolutionsmodell nicht mehr glaubten, uns für dieses neue Modell zu begeistern, das uns China vorzuführen schien. Ich will nur kurz von einer Aktion berichten, die so ein bißchen das Klima dieser Jahre und dieses Überschwangs schildert. Ich bekam ausgerechnet 1968 einen Preis zuerkannt, den kleinen Fontane-Preis, der wurde damals von dem Bürgermeister Schütz verabreicht im Charlottenburger Schloß. Es war die Zeit der größten Demonstrationen, es war die Zeit des sichtbaren Polizeiterrors, kurz zuvor war Benno Ohnesorg erschossen worden. Wir haben damals im SDS darüber gesprochen, wie wir das machen mit diesem Preis, und es wurde beschlossen, daß wir alle hingehen. Oder jedenfalls mindestens 20. Und so war es auch, wir sind zu 20 Leuten, alle waren dabei, Semler, Rabehl usw., und wir sind in das Chalottenburger Schloß gegangen. Zum ersten Mal habe ich die Genossen in Anzügen gesehen, weil das die Bedingung war, da reinzukommen. Und ich hatte mir einen Schaumgummihammer besorgt, dem ich dem Bürgermeister Schütz in dem Moment auf den Kopf schlagen wollte, als ich die Urkunde übernahm und es sollten die Genossen aufspringen und rufen "Für alles Reaktionäre gilt, das es nicht fällt, wenn man es nicht niederschlägt". Das ist ein Spruch aus dem Roten Buch. Ich war aber bei aller revolutionären Begeisterung jemand, der sich auch bei so was juristisch absicherte, und habe mich mit Otto Schily unterhalten, was mir diese Aktion bringen würde. Er meinte mindesten drei Monate, und da habe ich den Schaumgummihammer leider zu Hause gelassen. Was jedenfalls passierte war, daß dann tatsächlich, als ich aufgerufen wurde, die Genossen alle aufsprangen, auch solche Sprüche waren zu hören. Es sprangen ebenso viele Zivilbullen auf, die sich sofort in einen handfesten Faustkampf mit den Genossen verstrickten, und so bin ich von den Genossen halb gezogen, halb getragen auf die Bühne gelangt. Das weitere ist jetzt nicht weiter wichtig.

Ich mache einen Sprung von gut 15 Jahren. Im Jahr 1982 war ich als Mitglied einer Schriftstellerdelegation in China. Und wir saßen ein Woche lang mit chinesischen Schriftstellern zusammen, auch einigen Parteifunktionären, um uns über die Literatur beider Länder zu unterhalten. Ich habe dort, und ich wußte daß es peinlich werden würde, an einen der ersten Tage gesagt, daß ich ein begeisterter Anhänger der chinesischen Kulturrevolution war. Die Leute, die mir gegenüber saßen, waren samt und sonders die Opfer der Kulturrevolution gewesen. Es sind ja in der Tat die Leute, die heute in China an der Macht sind, diejenigen, die während der Kulturrevolution in den Lagern waren. Das ist eigentlich die neue Machtelite. Die Chinesen haben sehr höflich auf diese Information reagiert, es fiel ihnen allerdings schwer, mich auszufragen. Mir fiel es auch nicht leicht, mit ihnen zu reden, wenn sie mir z.B. erklärten, daß die Kulturrevolution ihr Faschismus gewesen sei, daß es ungefähr dem entsprach, was bei uns der Faschismus gewesen sei. Und daß meine Mitteilung so klänge, als würde jemand bei uns erklären, wie begeistert er damals den Hitlerfaschismus mitgemacht und die Judenverfolgung gebilligt habe. Es war also eine sehr harte und peinliche, mich und auch die anderen sehr bewegende Diskussion. Und natürlich habe ich sie nicht mehr naiv geführt. Es waren ja schon längst Informationen zu uns gelangt, wie diese Kulturrevolution wirklich verlaufen war. Aber hier ist nun etwas Wichtiges zu vermerken. Als die ersten Nachrichten kamen, was in China wirklich geschah - man weiß es ja bis heute noch nicht genau, die Schätzungen liegen zwischen einer und drei Millionen Toten, viel viel mehr Millionen haben 20 oder 22 Jahre in Gefängnissen und Lagern zugebracht - als diese Nachrichten kamen, wollten wir nichts davon hören, wir wollten sie nicht wissen. Jemand, der sie transportierte, wurde als Konterrevolutionär angesehen. Diese Nachrichten standen auch hauptsächlich in der bürgerlichen Presse und damit waren sie sozusagen schon für sich selbst erledigt, es waren eben Springer-Nachrichten, Propagandanachrichten. Es hat sehr lange gedauert, bis wir anfingen, diese Nachrichten nicht nur zu lesen, sondern sie auch allmählich in unser Denken, in unser Begriffssystem einzulassen. Und hier ist noch etwas, was mir seither sehr zu denken gegeben hat, daß eigentlich der Internationalismus, den wir historisch in der Studentenbewegung vorfinden, ob er sich nun auf Vietnam bezieht, auf die Kulturrevolution in China, auf Kuba bis hin zu Nicaragua, eigentlich ein Internationalismus gewesen ist, der auf die Höhepunkte angewiesen war und auf den jeweiligen Höhepunkt spekulierte, den Ausbruch der Rebellion. Der nichts mehr wissen wollte von dem Alltag, der darauf folgte. Kaum einer von uns ist hingefahren nach Vietnam, um nachzuforschen, ob das Selbstbestimmungsrecht, damals die zentrale Forderung des Anti-Vietnamprotestes, das Selbstbestimmungsrecht des vietnamesischen Volkes, ob und wie das inzwischen eingelöst worden ist. Kaum einer von uns hat sich ins Denken eingelassen, als er von den Tausenden von Gefangen auf Kuba hörte, und ich weiß nicht, wie es mit der Solidarität mit Nicaragua aussieht, nachdem sich Ortega jetzt mit den Contras an einen Tisch setzt, und vielleicht dabei herauskommt, daß die eine Partei gründen dürfen. Wie sieht es dann aus mit der Solidarität? Mit anderen Worten, was ich damit sagen will, es ist mir der Gedanke gekommen, daß dieser Internationalismus, so toll er vom Ansatz her war, so befreiend er für uns war von dem deutschen Muff und dieser deutschen Misere, ein sehr narzistischer oder auch panischer Internationalismus war, d.h. man hat den Internationalismus immer nur so lange aufrecht erhalten, so lange er der Affirmation der eigenen Ideen und Vorstellungen diente. Und man war bitter enttäuscht, bis zur Blindheit und zum Weghören enttäuscht, wenn der wirkliche Verlauf dann anders, weniger erhebend, weniger revolutionär sich gestaltete als man sich das vorstellte und wünschte. Ich hoffe, daß wir nachher noch im einzelnen zu diesen Punkten kommen.

Ich meine nur, daß es auch etwas Kritisches geben könnte, etwas was ich 'mal nennen will: einen zur Frage bereiten und zum Zuhören fähigen Internationalismus. Ich glaube nämlich nicht, daß wir den armen Völkern helfen - und wir hatten und haben guten Grund, uns für diese Völker einzusetzen -, indem wir ihnen praktisch vorschreiben, wer ihre wahren Unterdrücker, was ihre wahren Bedürfnisse sind, ob sie nun einen VW haben dürfen oder nicht, einen Fernseher haben dürfen oder nicht. Ein Internationalismus, der mit der alten Projektion arbeitet, die wir aus der Aufklärung kennen: der gute Wilde, hat, glaube ich, keine Zukunft. Das sind also alles total andere Menschen als wir, die sind weder von den Korruptionen, die wir an uns selbst erlebt haben, noch von den Bedürfnissen, die wir uns zwar erfüllen, aber hassen, von all dem sind die nicht erreichbar. Es sind gleichsam die umgekehrten Götter, so wie damals die Azteken die Europäer für Götter gehalten haben, als sie in Mexiko ankamen. Diese Art von Projektionen, von diesem Projektionsinternationalismus, den halte ich für sehr wackelig, und wenn ich von einem zuhörbereiten und einem fragenden Internationalismus spreche, dann glaube ich, daß wir uns erst einmal erkundigen müssen, was diese Völker von uns erwarten. welche Elemente von unserer Zivilisation sie übernehmen wollen und welche nicht.

Mit Schuldgefühlen allein ist es nicht getan. Es ist besser, etwas zu wissen, und wenn man von diesem Wissen etwas abgeben kann, dann soll man es tun. Das ist die Art von Internationalismus, die ich für lebensfähig halte, für wünschbar.

Und ich möchte einfach, weil ich jetzt dringend hier abschließen will, nur einen letzten Punkt, einen ganz praktischen Punkt erwähnen. Es gibt da ein Versagen im Internationalismus, ein ganz praktisch alltägliches, wie wir es alltäglich auch in dieser Stadt erleben. Wenn man mich fragen würde, ob ich mit einem Satz die Wende7, die sogenannte Wende beschreiben würde, dann würde ich sagen, das Schlimmste an der Wende ist, daß es einen nicht gerade staatlich geförderten, aber einen staatlich geduldeten und mit Regeln ausgestatteten Ausländerhaß gibt. Und ich stoße also praktisch täglich in der Zeitung auf Nachrichten, die zeigen, daß es auf diesem ganz elementaren Gebiet auch nicht den Ansatz von Internationalismus gibt. Vor einigen Tagen las ich in der Zeitung, ein deutscher Mieter, der zusammen mit Tamilen im selben Haus wohnt, darf aus diesem Grund die Miete um 20 % mindern. Das ist ein Gerichtsurteil in Bayern. Sie alle kennen die Beispiele, es gibt Tausende davon, man kann sie jeden Tag in der Zeitung finden. Und ich weiß, daß dem Bahmand diese Wendung der Dinge, die ich im Augenblick verfolge, nicht so recht ist, weil es die Völker draußen außer acht läßt. Das habe ich überhaupt nicht vor, ich meine nur, daß dieser ganz praktische Internationalismus eigentlich der ist, den wir täglich üben könnten.

Staadt:Ich möchte gerne an Bahmand und Peter folgende Frage stellen - in euren beiden Beiträgen ist das aufgetaucht, aber ich denke, daß man darüber noch einen Moment diskutieren sollte: Ein wesentliches Element der Betrachtung der Ereignisse der 3. Welt in der Studentenbewegung war ja auch die Begeisterung für Revolution. Die Revolution wurde als das Prinzip der Befreiung schlechthin gesehen, Entwicklungen, die in Ländern der 3. Welt nicht revolutionär verlaufen sind, wurden eher nicht beachtet. Ich würde jetzt fragen. Wie seht ihr das jetzt aus den Erfahrungen, über die ihr gesprochen habt? Wie würdet ihr heute die Frage beantworten: Was heißt Entwicklung in der 3. Welt? Spielen Revolutionen, so wie wir sie 'mal verstanden haben, überhaupt noch eine Rolle? Oder seht ihr andere Entwicklungsmodelle, die eine Rolle spielen könnten?

Nirumand:Also Peter hat gesagt, daß er nachträglich nach diesen Jahren die Erkenntnis gewonnen hat, daß die Völker der 3. Welt völlig andere Menschen seien als die der europäischen Länder, und daß sie andere Wünsche, andere Vorstellungen haben. Ich denke, daß das teilweise zutrifft. Darüber will ich jetzt aber nicht diskutieren, denn wenn man das voll aufrecht erhält, dann kommt man - und das will ich dem Peter natürlich nicht unterstellen - zu dem Schluß, zu dem Ergebnis, was ein SPD-Abgeordneter nach seiner Rückkehr aus dem Iran erklärt hat. Als er gefragt wurde, wie es denn dort mit den Menschenrechten bei diesen Hinrichtungen, Steinigungen und Auspeitschungen sei, hat er gesagt: Ja das sind eben andere Länder und die haben andere Sitten und andere Methoden, andere Moral, überhaupt andere Vorstellungen vom Leben. Ich habe ihm, weil er das öffentlich geäußert hat, einen Brief geschrieben und habe gesagt, ob er einverstanden wäre, wenn ich sagen würde: Gut, also die Steinigungen gehören zu der Art des persischen, des iranischen Menschen, und die Konzentrationslager zu der Art der deutschen Menschen, ob er damit einverstanden wäre?

Ich denke, wenn man so urteilt, und das ist jetzt ein Argument, das oft aufgetaucht ist, dann kommt man weder im Internationalismus weiter, noch kann man ein Engagement haben für diese Länder. Ich denke, das Gleiche zwischen diesen Menschen ist, daß sie Menschen sind und gewisse Rechte haben. Gut, die Menschenrechte sind vielleicht zum ersten Mal in Europa formuliert worden. Aber sie gelten für die Afrikaner genauso wie für die Asiaten, und ich denke, daß dort der eigentliche Internationalismus beginnt, sich einzusetzen für Erhaltung oder Durchsetzung der Menschenrechte, daß Menschen einfach nicht getötet werden. Wenn wir in unseren Ländern die Garantie hätten, daß wir nicht einfach willkürlich getötet werden, das wäre der größte Schritt, den wir in unserer Geschichte erreicht hätten, und das wäre der Beginn einer wirklichen Entwicklung. Und ich denke, daß die Solidarität gerade darin besteht, sich für diese Ziele, für diese elementarsten aber sehr wichtigen Ziele einzusetzen.

Und da komme ich auf die Frage von Jochen Staadt zu sprechen. Was ich erlebt habe im Iran, war die Erfahrung, daß sehr viele Revolutionäre, die die Menschen von Unterdrückung, von Terror, von Diktatur befreien wollten, selbst mit diesen Menschenrechten sehr leichtfertig umgegangen sind. Und das hat mich sehr bedenklich gestimmt. Ich denke, das Wichtigste ist, wenn man dieses, oder was immer - oder innerhalb der Linken oft - gesagt wurde, daß der Zweck die Mittel heilige, daß wir diesen Satz wirklich verdammen und sagen, daß das nicht wahr ist. Denn wenn unmenschliche Mittel angewandt werden, und das tun oft Revolutionäre genauso wie Konterrevolutionäre, dann wird sich das fortsetzen, und wenn diese Revolutionäre die Macht übernommen haben, wird das weitergehen. Wir haben das in vielen Ländern erlebt. Ich habe das im Iran selbst erlebt.

Ich habe erlebt, als die ersten Angriffe gegen die Frauen im Iran stattgefunden haben, da haben viele Linke gesagt, das seien Nebenwidersprüche, und der Hauptwiderspruch sei der Kampf gegen den Imperialismus. Und wir haben gesehen, daß das dazu geführt hat, daß im Iran die größte Unterdrückung und Erniedrigung, die es je in einem Land, glaube ich, gegen Frauen gegeben hat, heute im Iran zur täglichen Praxis geworden ist. Damals haben die Linken sich gegen die Mißachtung dieser Rechte oder der Pressefreiheit usw. nicht gewehrt. Revolutionen sind oft wie ein Naturereignis in der Geschichte der Länder. Das hängt nicht von unserem Willen ab. Aber ich denke, daß wir einen Weg gehen müssen, der versucht, diese Menschenrechte herzustellen und demokratische Zustände herzustellen. Ich halte nichts von Diktaturen, ob das die Diktatur des Proletariats ist oder ähnliches, auch wenn sie die Menschen befreien wollen. Die Geschichte hat gezeigt, daß das ein Irrweg ist.

Schneider:Bahmand, das war natürlich total daneben, wenn du ausgerechnet mich als Sprungbrett dafür benutzt, um auszuführen, daß man tatsächlich von der Universität von Menschenrechten ausgeht. Meine ganzen Ausführungen machen natürlich nur Sinn, wenn ich das unterstreiche. Ich habe ja gesagt, das Problem dieses narzistischen Internationalismus bestand darin, daß er von der Fiktion ausging, die anderen wären ganz anders und bei denen wäre alles ganz anders als bei uns, dort könnten auch andere Entwicklungsmodelle, andere gesellschaftliche Veränderungsmodelle, auch andere Kulturen und Sitten, die wir verabscheuen, das alles würde bei denen gelten. Diese Sehnsucht nach dem ganz anderen, die habe ich ja gerade karikiert und gegeißelt. Ich möchte aber der Sache nachgehen, denn das ist ja keine Kleinigkeit, die der Bahmand hier sagt.

Wenn ich es recht verstehe, hat er eigentlich gesagt, daß er sehr skeptisch geworden ist gegen das Modell Revolution. Er hat hier eine Skepsis geäußert, ob Revolution - und er hat nicht gesagt nur in Europa, sondern überhaupt - ob Revolution ein geeignetes Mittel ist, die Gesellschaft in der Richtung, die wir immer verfolgt haben: Befreiung von Ausbeutung und Hunger und überflüssiger Herrschaft, ob Revolutionen ein Mittel sind, eine Gesellschaft in dieser Richtung zu verändern. Wir können diese Frage sicherlich nicht beantworten, ich finde es schon 'mal sehr interessant, daß sie Leuten, die sich seit 15 oder 20 Jahren damit beschäftigen, überhaupt gekommen ist. Aber eine andere Frage kann man vielleicht gleich ganz praktisch stellen, die wäre dann auch an Sie gerichtet. Wie ist es denn z.B. zu erklären, daß die Linke, die - sofern sie stolz auf diese Bezeichnung ist, ich bin es nach wie vor - sich im Prinzip eher für eine Solidarität mit revolutionären Modellen erwärmen läßt als z.B. für einen Reformweg? Wie kommt es, daß wir alle, glaube ich, ohne es recht zugeben zu wollen, nicht mehr an eine Revolution in Europa glauben, aber immer noch denken, daß Revolutionen genau das richtige sind für die Länder der 3. Welt? Vielleicht das einzig Mögliche, wobei ich jetzt zu unterscheiden bitte zwischen Revolution als geschichtlicher Tatsache, als notwendiger Umwälzung und Revolution als Option, als etwas, was man wünscht. Das sind ja ein großer Unterschied, ob man das, was geschieht, wünscht und unterstützend favorisiert, oder ob man sagt, das mußte geschehen, aber ein anderer Weg wäre vielleicht besser gewesen.

Wie ist es zu erklären, daß man z.B. noch vor kurzem nur für Waffen in El Salvador gesammelt hat, aber auf keinen Fall ähnliche Unterstützung für Reformbestrebungen in El Salvador bekommen hätte? Woher nehmen wir die Sicherheit, daß z.B. ein demokratischer Versuch, den wir für uns absolut in Anspruch nehmen, in Nicaragua zum Scheitern verurteilt ist oder auf den Weg des Imperialismus zurückführt? Das ist ja immer die Operation mit der Fiktion des ganz anderen in der 3. Welt.

Und ich möchte noch ein letztes Beispiel für diese Frage erwähnen. Ich habe Gelegenheit gehabt, in Lateinamerika mit einer ganzen Reihe von Tupacamaros zu diskutieren. Und es war auch eine seltsame und bewegende Diskussion. Diese Leute haben mir erklärt, warum sie zu dem Ergebnis gekommen sind, daß der bewaffnete Kampf, so wie sie ihn geführt haben, nicht zu einem Erfolg führen kann, und daß selbst wenn er es würde, der Erfolg nicht wünschenswert wäre. Dieselben Leute aber schwärmten von der RAF und sagten: "Na Gott sei Dank, ihr bei euch in Deutschland, ihr beweist ja, daß es noch geht." Ich finde es wichtig, bei dem Internationalismus, diese wechselseitige Projektion zu untersuchen.

Staadt:Ich würde jetzt Hansi Scharbach bitten, aus seiner Sicht einmal darauf einzugehen, aus den Erfahrungen, die er in Lateinamerika gemacht hat. Und um den Stand der Diskussion jetzt 'mal ein bißchen weiter zu führen, auf die Ebene der konkreten Arbeit, etwa im Sinne auch, was Peter genannt hat, lernen, was überhaupt Bedürfnisse in Ländern der 3. Welt sind. Und vielleicht auch im Hinblick auf die Diskussionen, die hier zum Teil an der Universität gelaufen sind. Einmal zu überlegen, welche Möglichkeiten gibt es, dieses Lernen umzusetzen in Arbeit, die hier auch geleistet werden kann, auch als Vorbereitung auf Unterstützung oder Hilfestellung in der 3. Welt.

HansiScharbach:Hier wurde ja immer so historisch abgehandelt, was jeder so gemacht hat. Für mich war die Studentenbewegung in den 70er oder 68/70er Jahren nicht so interessant, weil ich nie studiert habe, also arbeiten gegangen bin. Und in der Zeit mich auch nicht theoretisch damit auseinandergesetzt habe, was Internationalismus bedeutet. Ich war halt mehr auf der Straße oder bei solchen Geschichten wie Georg-von-Rauch-Haus, die nicht so sehr mit der Uni verstrickt waren. Internationalismus, das war aber immer in dem Zusammenhang klar, war eine ganz wichtige Komponente in jeder Diskussion, durch die ganzen Kontakte, die man auf Grund der politischen Arbeit gemacht hat. Wir haben viel mit der "Roten Hilfe", der "Schwarzen Hilfe" für Gefangene gemacht, da gab's eben die näheren Kontakte, was Italien, Frankreich oder Spanien anbelangt hat. Und dadurch ging es auch immer weiter, daß man auch im Laufe der Jahre Leute getroffen hat oder über die Situation der Leute unterrichtet worden ist, die eben in dieser sogenannten 3. Welt dort kämpften.

Also, wir haben inzwischen einen Verein gegründet, der sich "Verein für angewandte Technologie in der 3. Welt" nennt. Eigentlich aus einem formalen Grund heraus, weil man, um diese ganzen Sachen finanzieren zu können, Geld braucht. Geld ist sehr schwer zu kriegen, wenn man sich das nicht irgendwie auf der Bank abholen kann auf Grund seines Gehaltschecks. Oder wenn man's nicht mit der Pistole abholt. Also muß man sammeln gehen, und für solche Sachen braucht man eben einen Verein, was wir alle nicht so gut fanden.

Aus diesen Kontakten mit den verschiedenen Befreiungsbewegungen ergaben sich eben auch Fragen. Ursprünglich war, wie Peter und Bahmand das gesagt haben, hier eigentlich der Schwerpunkt. Man hat demonstriert, man hat versucht, Öffentlichkeit herzustellen. Und damit hat es sich dann gehabt mit dem Internationalismus. Keiner hat gesagt: Okay, ich gehe nach Vietnam und kämpfe da mit. Auch später sind ganz wenige Leute nach Nicaragua gegangen und haben gesagt: Wir unterstützen den bewaffneten Kampf direkt, was eben früher die Leute im spanischen Bürgerkrieg gemacht haben. Wir wurden des öfteren darauf angesprochen. Es gab diese Nicaragua-Komitees, es gab dieses El Salvador-Komitee, und da hatten wir überall so ein bißchen mitgemacht, hier, wo wir wohnen, politisch gearbeitet. Und das ist auch so der eine wichtige Punkt, daß wir hier in irgendwelchen Zusammenhängen stecken, sei es im Häuserkampf, oder jetzt zuletzt IWF8 oder was immer auch gewesen war. Hier ist eigentlich unser Schwerpunkt und dieser Internationalismus, der läuft so auf einer anderen Schiene, der bedeutet halt eben auch, daß wir einmal diese Geldbeschaffungsmöglichkeit haben, über Spenden und Konzerte, was weiß ich, und zum anderen technisches Wissen oder Fähigkeiten, um z.B. in Nicaragua solche Leute oder die ganze Mittelschicht zu ersetzen, die ja nach der Revolution alle abgehauen sind, wo solche Leute eben fehlen. Dann kam klar die Frage: Inwieweit ist es für euch möglich, nicht nur das Geld und diese ideologische Unterstützung zu organisieren, sondern uns auch praktisch zu unterstützen?

Ich war 1983 das erste Mal in Nicaragua und wir hatten hier eine große Kampagne gestartet, um Geld zu sammeln und dort drüben dann eine Schule zu bauen, in diesem Falle in Zusammenarbeit mit Ministeria de Education, also mit dem Erziehungsministerium, die uns gesagt haben, wo das stattzufinden hat und wie. Also wir haben die Baupläne gekriegt und alles. Wir hatten das Geld, sind dorthin gefahren, haben die Materialien gekauft und haben ein Schulhaus gebaut, mit einer Brigade von 14 Leuten. Aber ein Schulhaus hätten die Nicaraguaner auch selbst bauen können, das ist klar, dazu brauchten sie uns nicht, daß wir da ein paar Mauern hinstellen. Aber es war eben so: Da der Krieg permanent an den Grenzen tobt, fließen die ganzen Finanzen zum großen Teil in den Militärhaushalt. Auch bei der Frage: Wie wird der Zement verteilt? Nicaragua hat z.B. eine Zementfabrik, der Rest wird aus der UdSSR oder Bulgarien importiert. Wer kriegt Zement zum Bauen? Er ist vorwiegend an der Grenze für militärische Zwecke. Also mußt du z.B. wieder zwei Wochen warten, bis du Zement kriegst zum Schulbau. Wir haben immer bei Einheimischen im Haushalt in dem jeweiligen Stadtteil oder in dem Dorf gewohnt. Das Wichtigste, was da an Erkenntnis 'rüberkam und was diese Internationalismusgeschichte auch immer klar hervorgehoben hat, ist, daß die gesagt haben: Es ist toll, daß ihr hier herkommt, daß ihr seht, was hier los ist, daß ihr das vor Ort mitkriegt, was wir dazu denken, was wir dazu machen; aber viel wichtiger ist, daß ihr wieder abhaut, wieder zurückgeht und daß ihr dort, wo ihr herkommt, sagt, was hier los ist, und die nicht über einen TAZ-Schreiberling die Information von drüben kriegen. Sondern wir können sagen, wir haben vor Ort die und die Eindrücke gewonnen und wir finden es aus dem Grund auch wichtig, solche Projekte weiter zu fördern und voranzutreiben.

Ich kann da schon hingehen und sagen, ich erzähle euch, was ihr zu machen habt, weil ich aus Deutschland komme, und wir ja so helle Köpfe sind die ganze Zeit über. Die haben uns gesagt, du kannst uns jetzt sagen, was du davon hältst, aber was hier zu machen ist, das wissen wir selbst gut genug. Und das stimmt halt auch absolut. Also ich bin jetzt vor 2 Wochen wieder zurück gekommen, ich war vier Monate im Süden von Nicaragua, in (?)Chan-Thales, einem absoluten Kriegsgebiet. (?)Santo Thomas ist eine Ortschaft, eine Stadt mit 38.000 Einwohnern, die von den Contras angegriffen wurde, und ich war in Nue Ginea. Also in der Zeit, in der wir da waren, bestand einfach die Gefahr, daß die Contras diese Dörfer angreifen. Und da ist mir oder uns aus der Brigade klar geworden, welche Intensität bei diesem Kampf, bei diesen Leuten dahintersteckt. Die haben rundum die Uhr die Stadtgrenzen verteidigen müssen. Die Contras kamen bis auf vier km 'ran. Aber die haben dann in der Stadt zur gleichen Zeit total gewirbelt, als wir dort eine Radiostation aufgebaut haben. Die haben ihre ganzen Projekt, die da am Laufen waren, voll und ganz durchgezogen, und haben halt klar gesagt, hier wir müssen an das glauben, was kommt, und nicht an das was, im Moment ist.

...

Schneider:Im Grunde, ist jetzt an deinem Beispiel so ein Punkt angesprochen worden, dem ich kurz ganz gerne nachgehen würde. Mir will es nicht so schnell über die Lippen, daß wenn ein Land im Kriegszustand mit den Contras ist wie im Falle Nicaraguas, daß es dann doch völlig klar ist, daß man eine Zeitung wie Prensa schließt. Und daß sie, da sie ja ihr Papier und auch all ihre Artikelschreiber vom Imperialismus, sprich von der CIA, bezahlt bekommen, also diese Art von Verständnis und Solidarität, die kommt mir zu schnell. Das kann nicht unsere Aufgabe sein. Ich weiß z.B., daß zumindest die Gründer von Prensa selber in der sandinistischen Revolution aktiv waren. Dann ist es ja auch bekannt, daß wenn dann eine revolutionäre Regierung beschließt, kein Papier mehr zu bewilligen, daß man sich dann umsieht, woher man das Papier kriegt. Daß dann "die anderen" die ersten sind, die zahlen, ist auch wieder wahr. Aber zumindest ist es ein Konflikt, den wir nicht vorschnell entscheiden, und sagen, das ist doch völlig klar und richtig, daß die jetzt nur noch eine Meinung zulassen. Neulich hat es eine Demonstration gegeben, die sofort mit Polizeigewalt aufgelöst wurde. Ich weiß nicht ob es richtig oder falsch ist, ich weiß es einfach nicht. Nur ich war entsetzt, als z.B. vor zwei Jahren der Ernesto Cardenal hier war, da war dort gerade zwei oder drei Tage vorher der Ausnahmezustand verkündet worden. Die Akademie der Künste war voll, Ernesto Cardenal ist ja nicht nur ein Poet, sondern auch ein Minister. Jeder, der im Saal gefragt hat, was es mit diesem Ausnahmezustand auf sich hatte, ob er berechtigt sei, wie lange er dauern würde, ist von dem Publikum, nicht von Ernesto niedergebrüllt worden. Also wie ein Verräter, wie ein CIA-Mann, der solche Fragen stellt. Das sind doch hysterische Formen des Internationalismus, die nichts mit den wirklichen Interessen der Leute, für die dort gekämpft wird, zu tun haben. Sondern nur mit der narzistischen Bestätigung eigener Vorstellungen und Ideale.

Anmerkungen:

1 Es war das Astor am Kurfürstendamm, am 2. August 1966. Die erste große Aktion war die Tschombé-Demonstration am 18. Dezember 1964.

2 (?) CISNU = Conförderation Iranischer Studenten

3 Inzwischen gibt es eine im Jahre 1990 von Hredlizka gestaltete und von ihm auf eigene Kosten (?) aufgestellte Gedenktafel vor der Deutschen Oper Berlin.

4 (?) (Von wem?).

5 "MORD - Gesucht wird Schah Mohamed Reza Pahlewi wegen Mord und Folterungen ...", Siegward Lönnendonker, Tilmann Fichter, Freie Universität Berlin, 1948-1973, Hochschule im Umbruch, Teil IV, 1964-1967, "Die Krise", Berlin 1975, S. 168

6 Peter Schneider; "Wir haben Fehler gemacht ...", Rede gehalten auf der Vollversammlung aller Fakultäten der Freien Universität Berlin am 5. Mai (19. April?), in: Bernard Larsson; Demonstrationen. Ein Berliner Modell, o.O. (Berlin), o.D. (1967), S. 158ff.

7 Wir schreiben das Jahr 1988!

8 Internationaler Währungsfond

9 (?)

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