Maurice Brinton
MAI 68
Die Subversion der Beleidigten

MaD Flugschrift


DIE REVOLUTIONÄRE VON CENSIER

Zur gleichen Zeit, als die Studenten die Sorbonne besetzten, ergriffen sie auch Besitz vom 'Centre Censier', der neuen Pariser Universitätsfakultät für Literatur.

Censier ist eine ultramoderne Angelegenheit aus Stahlbeton und Glas. die in der südöstlichen Ecke des Quartier Latin gelegen ist. Seine Besetzung zog weniger Aufmerksamkeit auf sich als die der Sorbonne. Sie sollte sich jedoch als ein ebenso bedeutsames Ereignis erweisen. Denn während die Sorbonne das Schaufenster des revolutionären Paris war mit allem, was eine blendende Schaustellung mit sich bringt - war Censier die Antriebskraft, der Ort, wo Dinge wirklich vorangebracht wurden.

Für viele müssen die Maitage in Paris wie eine im wesentlichen nächtliche Angelegenheit ausgesehen haben: nächtliche Schlachten mit der CRS, nächtliche Barrikaden, nächtliche Diskussionen in den großen Amphitheatern. Aber dies war nur eine Seite der Medaille. Während die einen bis in die Nacht hinein in der Sorbonne diskutierten, gingen die anderen früh ins Bett, weil sie am Morgen an den Fabriktoren oder in den Vororten Flugblätter verteilen würden. Flugblätter, die erst entworfen, dann getippt, dann abgezogen werden mußten und deren Verteilung sorgfältig zu organisieren war. Diese geduldige systematische Arbeit wurde in Censier geleistet. In nicht geringem Umfang trug sie dazu bei, dem neuen revolutionären Bewußtsein einen deutlichen Ausdruck zu verleihen.

Bald nachdem Censier besetzt worden war, belegte eine Gruppe von Aktivisten einen großen Teil des dritten Stockwerks in Beschlag. Dieser Gebäudeteil sollte das Hauptquartier ihrer geplanten 'Aktionskomitees von Arbeitern und Studenten' sein. Die allgemeine Vorstellung bestand darin, Verbindungen zu Gruppen von Arbeitern - wie klein sie auch seien -, die die generelle libertär-revolutionäre Auffassung dieser Studentengruppe teilten, herzustellen. Sobald Kontakte geknüpft seien, sollten Arbeiter und Studenten beim Herstellen von Flugblättern zusammenarbeiten. Die Flugblätter sollten die unmittelbaren Probleme besonderer Arbeitergruppen behandeln, aber im Lichte dessen, was die Studenten in ihrem Kampf als möglich aufgezeigt hatten. Ein fertiges Flugblatt sollte von Arbeitern und Studenten gemeinsam verteilt werden, draußen vor der jeweiligen Fabrik oder dem jeweiligen Büro, auf die sich das Flugblatt inhaltlich bezog. In einigen Fällen müßte die Verteilung von Studenten allein vorgenommen werden, in anderen wäre kaum ein einziger Student erforderlich.

Was die Genossen in Censier zusammenbrachte, war ein tief empfundener Sinn für die revolutionären Möglichkeiten der gegenwärtigen Lage und das Wissen, daß man keine Zeit zu vergeuden hatte. Sie alle verspürten das dringende Bedürfnis nach der Propaganda der direkten Aktion und daß die Dringlichkeit der Situation es erforderlich machte, daß sie alle doktrinären Unterschiede, die sie vielleicht haben mochten, hinter sich ließen. Es waren alles stark politisch engagierte Leute. Im großen wie im kleinen war ihre Politik die jener neuen und immer wichtiger werdenden historischen Art: sie waren ehemalige Mitglieder der einen oder anderen revolutionären Organisation. Welches waren ihre Ansichten? Im Grunde genommen liefen sie auf ein paar einfache Dinge hinaus. Was im Moment erforderlich war, war eine schnelle autonome Entwicklung des Kampfes der Arbeiterklasse, der Aufbau gewählter Streikkomitees, die die Verbindung zwischen den gewerkschaftlichen und nicht-gewerkschaftlichen Mitgliedern in allen dem Streik angeschlossenen Fabriken und Unternehmen herstellen würden, regelmäßige Versammlungen der Streikenden, so daß die grundlegenden Entscheidungen in den Händen der Basis blieben, Verteidigungskomitees der Arbeiter, um die Streikposten vor Einschüchterungen durch die Polizei zu schützen, und ein ständiger Dialog mit den revolutionären Studenten, alles mit dem Ziel, in der Arbeiterklasse deren eigene Tradition von direkter Demokratie und deren eigenes Verlangen nach Selbstverwaltung wiederherzustellen, derer die Bürokraten der Gewerkschaften und der politischen Parteien sich bemächtigt hatten.

Eine ganze Woche lang nahmen die verschiedenen trotzkistischen und maoistischen Grüppchen nicht einmal zur Kenntnis, was in Censier vor sich ging. Sie vergeudeten ihre Zeit in öffentlichen und oft scharf geführten Debatten in der Sorbonne wie zum Beispiel über die Frage, wer die beste Führung darstellen würde. Unterdessen schritten die Genossen in Censier ständig in ihrer Arbeit voran. Die Mehrheit von ihnen war mit beiden, stalinistischen und trotzkistischen Organisationen 'fertig'. Sie hatte sämtliche Vorstellungen hinter sich gelassen, nach denen ' Intervention' nur in Begriffen der potentiellen Rekrutierung für die eigene spezielle Gruppe Bedeutung hatte. Alle erkannten die Notwendigkeit einer revolutionären Bewegung mit großer Basis und mit maßvoller Struktur an, aber keiner von ihnen sah in dem Aufbau einer solchen Bewegung eine unmittelbare, über alles wichtige Aufgabe, um die sich die Propaganda jetzt zentrieren müßte.

Vervielfältigungsapparate aus dem Besitz der 'subversiven Elemente' wurden herbeigeschafft, die der Universität wurden eingezogen. Papier und Druckfarbe bekam man aus den verschiedenen Quellen und mit verschiedenen Mitteln. Allmählich kamen Flugblätter heraus, erst zu Hunderten, dann zu Tausenden, dann zu Zehntausenden, in dem Umfang, wie Verbindungen zu einer Arbeiterbasisgruppe noch der anderen entstanden. Allein am ersten Tag wurden Kontakte zu Renault, Citroen, Air France, Boussac, Nouvel les Messageries de Presse, Rhone-Poulence und zu RATP (Metro) geknüpft. Die Bewegung weitete sich dann schneeballartig aus.

Jeden Abend erstatteten in Censier die Aktionskomitees einer Vollversammlung Bericht, die ausschließlich zu diesem Zweck zusammentrat. Man schätzte die Reaktion auf die Verteilung der Flugblätter ein, der Inhalt künftiger Flugblätter wurde diskutiert. Diese Diskussionen wurden gewöhnlich von dem Arbeiter-Verbindungsmann begonnen, der den Eindruck des Flugblatts auf seine Kameraden beschrieb. Die hitzigsten Diskussionen bewegten sich um die Frage, ob man die CGT-Führer direkt angreifen sollte oder ob bloße Vorschläge dazu, was für den Sieg erforderlich sei, genügen würden, um jedermann aufzuzeigen, was die Gewerkschaftsführer alles getan hätten (und was nicht) und was sie alles in allem bedeuteten. Der zweite Standpunkt war der vorherrschende.

Die Flugblätter waren gewöhnlich sehr kurz, keinesfalls mehr als 200 oder 300 Worte. Nahezu alle begannen damit, daß sie Beschwerden der Arbeiter aufzählten oder daß sie ganz einfach deren Arbeitsbedingungen beschrieben. Am Ende forderten sie die Arbeiter dazu auf, in Censier oder in der Sorbonne zusammenzukommen. "Diese Orte gehören jetzt auch Euch. Kommt her und diskutiert Eure Probleme mit anderen, Nehmt es selbst in die Hand, den Leuten um Euch herum Eure Probleme und Forderungen bekannt zu machen" Zwischen diesem Anfang und diesem Ende enthielten die meisten Flugblätter ein oder zwei politische Schlüsselfragen.

Die Antworten kamen augenblicklich. Mehr und mehr Arbeiter fanden sich ein, um gemeinsam mit den Studenten Flugblätter zu verfassen. Bald war kein Raum mehr groß genug für die tägliche Vollversammlung. Die Studenten lernten von der Selbstdisziplin der Arbeiter eine Menge und von ihrer systematischen Art, mit der sie ihre Berichte vorlegten. Das war alles grundlegend anders als die 'Hickhacks' der politischen Sekten. Es war allgemein anerkannt, daß dies die besten Vorlesungen waren, die jemals in Censier gehalten wurden.

Von den wirkungsvolleren Abschnitten dieser Flugblätter habe ich mir folgendes notiert:

AIR FRANCE FLUGBLATT:
"Wir weigern uns, eine erniedrigende 'Modernisierung' zu akzeptieren, die bedeutet, daß wir ständig bewacht werden und uns Bedingungen unterwerfen müssen, die für unsere Gesundheit, unser Nervensystem schädlich sind und die eine Beleidigung unserer Existenz als Menschen darstellen… Wir weigern uns, unsere Forderungen noch länger vertrauensvoll in die Hände professioneller Gewerkschaftsführer zu legen. Wir müssen wie die Studenten unsere Angelegenheiten in unsere eigenen Hände nehmen".

RENAULT-FLUGBLATT:
"Wenn wir wollen, daß unsere Lohnerhöhungen und unsere Forderungen hinsichtlich der Arbeitsbedingungen Erfolg haben, wenn wir nicht wollen, daß sie ständig bedroht sind, dann müssen wir jetzt für eine grundlegende Veränderung in der Gesellschaft kämpfen … Als Arbeiter sollten wir selbst danach streben, den Gang unserer Unternehmen zu kontrollieren. Unsere Forderungen sind denen der Studenten ähnlich. Die Verwaltung der Industrie und die der Universität sollten von denen, die dort arbeiten, auf demokratischem Weg sichergestellt werden…"

RHONE-POULENC-FLUGBLATT:
"Bis jetzt haben wir versucht, unsere Probleme auf dem Weg von Bittschriften, Teilkämpfen und der Wahl besserer Führer zu lösen. Das hat uns zu nichts geführt. Die Aktion der Studenten hat uns gezeigt, daß einzig und allein Basisaktionen die Autoritäten zwingen können nachzugeben… Die Studenten stellen den ganzen Sinn und Zweck der bürgerlichen Erziehung in Frage. Sie wollen die grundlegenden Entscheidungen selbst in die Hand nehmen. So sollten wir es auch tun. W i r sollten über den Zweck der Produktion entscheiden und auf wessen Kosten die durchgeführt wird."

STADTTEIL-FLUGBLATT:
(Dieses Flugblatt wurde in den Straßen von Boulogne Billancourt verteilt):
"Die Regierung fürchtet die Ausweitung der Bewegung. Sie fürchtet die Entwicklung der Einheit von Arbeitern und Studenten. Pompidou hat erklärt, daß 'die Regierung die Republik verteidigen wird'. Armee und Polizei stehen bereit. De Gaulle wird am 24.sprechen. Wird er die CRS schicken, um die Streikposten von den am Streik beteiligten Fabriken zu entfernen? Seid vorbereitet. Bezieht die Selbstverteidigung an Euren Arbeitsplätzen und an den Fakultäten in Eure Überlegungen mit ein…"

Dutzende solcher Flugblätter wurden jeden Tag diskutiert, getippt, vervielfältigt und verteilt. Jeden Abend hörten wir von der Resonanz, die sie fanden: "Die Genossen finden sie unheimlich gut. Es ist genau das, was sie auch denken. Die Gewerkschaftsfunktionäre reden nie so." "Die Genossen fanden das Flugblatt ganz gut. Sie sind skeptisch, was die 12% betrifft. Sie sagen, die Preise würden in die Höhe schnellen, so daß wir das Ganze in wenigen Monaten wieder verlieren würden. Einige sagen, laßt uns jetzt alles zusammenhauen und das Steuer in die Hand nehmen." "Das Flugblatt hat ganz sicher bewirkt, daß die Leute anfingen zu reden. Noch nie hatten sie so viel zu sogen. Die Funktionäre mußten warten, bis sie mit dem Reden an der Reihe waren…"

Lebhaft erinnere ich mich an einen jungen Drucker, der eines Abends sagte, diese Versammlungen seien das Spannendste, was er bisher überhaupt mitgemacht habe. Sein ganzes Leben habe er davon geträumt, Leute zu treffen, die auf diese Art dachten und sprachen. Aber jedesmal, wenn er dachte, er habe einen getroffen, dann war alles, woran der interessiert war, wie er etwas von ihm bekommen könnte. Dies sei das erste Mal, daß ihm uneigennützige Hilfe angeboten worden sei.

Ich weiß nicht, was in Censier seit Ende Mai geschehen ist. Als ich dort wegging, bereiteten gerade verschiedene Trotzkisten ihren Einzug vor, mit der Absicht, "die Flugblätter zu politisieren" (ich nehme an, sie meinten damit, daß die Flugblätter jetzt von der 'Notwendigkeit' handeln sollten, 'die revolutionäre Partei aufzubauen' ). Wenn sie Erfolg loben, woran ich zweifle, da ich das Kaliber der Genossen in Censier kenne, wird es eine Tragödie sein.

Tatsächlich jedoch waren die Flugblätter politisch. Während meines ganzen kurzen Aufenthaltes in Frankreich sah ich nichts intensiver oder wesentlicher Politisches (im besten Sinne des Wortes) als die Kampagne, die von Censier ausging, eine Kampagne für eine ständige Kontrolle des Kampfes von unten, für Selbstverteidigung, für die Verwaltung der Produktion durch die Arbeiter, für die Verbreitung des Konzepts der Arbeiterräte, um allen und jedem die ungeheure Bedeutung zu erklären, die in einer revolutionären Situation revolutionäre Forderungen, organisierte Selbstaktivität und kollektives Selbstvertrauen haben.

Als ich Censier verließ, mußte ich unwillkürlich daran denken, daß dieser Ort einen Abriß der Krise des modernen bürokratischen Kapitalismus gegeben hat. Censier ist kein Erziehungsslum. Es ist ein ultramodernes Gebäude, eines der Schaustücke gaullistischer 'Größe'. Es hat Kabelfernsehen in den Hörsälen, moderne Installation und Automaten, die 24 verschiedene Sorten Essen - in sterilen Behältern - und 10 verschiedene Sorten Getränke ausgeben. Über 90 % der Studenten kommen dort aus kleinbürgerlichen oder bürgerlichen Verhältnissen. Doch ihre Ablehnung der Gesellschaft, die sie aufgezogen hat, ist so stark, daß sie 24 Stunden am Tag Abzugsmaschinen bedienten und eine Flut revolutionärer Literatur herausbrachten, in die noch keine moderne Stadt jemals zuvor hineingestoßen wurde. Diese besondere Aktivität hat die Studenten verändert und hat zur Veränderung ihrer Umgebung beigetragen. Sie brachen gleichzeitig die Gesellschaftsstruktur auf und hatten Zeit für ihr Leben. Um es mit den Worten einer Parole an einer Mauer zu sagen: "Man ist nicht dazu da, sich zu langweilen".