Maurice Brinton
MAI 68
Die Subversion der Beleidigten

MaD Flugschrift


DER RAT DER SORBONNE

Am Samstag, dem 11. Mai, kurz vor Mitternacht, machte Premierminister Pompidou die Entscheidung seines Innenministers und seines Erziehungsministers rückgängig. Er kündigte an, daß die Polizei aus dem Quartier Latin abgezogen, die Fakultäten am Montag, dem 13.Mai, wieder eröffnet und daß das Gericht den Fall der vorige Woche verhafteten Studenten neu verhandeln werde. Dies war der größte politische Rückzug seiner Karriere. Für die Studenten und für viele andere stellte es den lebendigen Beweis dafür dar, daß direkte Aktion Erfolg hatte. Im Kampf waren Zugeständnisse errungen worden, die auf anderem Wege unerreichbar gewesen waren.

In aller Frühe wurden am Montag die CRS-Abteilungen, die den Eingang zur Sorbonne bewachten, diskret abgezogen. Die Studenten zogen ein. Erst in kleinen Gruppen, dann zu Hunderten, später zu Tausenden. Gegen Mittag war die Besetzung beendet. Jede 'Trikolore' wurde sofort eingezogen, jeder Hörsaal besetzt. Rote Fahnen wurden an den offiziellen Fahnenmasten und an vielen Fenstern an improvisierten Masten aufgezogen, einige davon ragten zur Straße hinaus, andere zum großen Innenhof. 20 Meter über den herumziehenden Studenten wehten auf der Kuppel der Kapelle rote und schwarze Fahnen Seite an Seite.

Was an den nächsten paar Tagen geschah, wird im französischen Erziehungssystem, in der Struktur der französischen Gesellschaft und - das ist am allerwichtigsten - im Gedächtnis derer einen bleibenden Eindruck hinterlassen, die während dieser hektischen ersten vierzehn Tage lebten und Geschichte machten. Urplötzlich verwandelte sich die Sorbonne von einem muffigen Ghetto, in dem der französische Kapitalismus seine Priester, seine Technokraten und Verwaltungsbürokrsten auswählte und zurechtformte, in einen ausbrechenden revolutionären Vulkan, dessen Lava sich weit ausbreitete und dabei die Gesellschaftsstruktur des modernen Frankreich versengte.

Der physischen Besetzung der Sorbonne folgte eine intellektuelle Explosion von vorher nicht gekannter Kraft. Alles, buchstäblich alles, stand plötzlich gleichzeitig zur Diskussion, wurde hinterfragt und gefordert. Es gab keine Tabus mehr. Es ist sehr einfach, den chaotischen Ausbruch von Gedanken, Ideen und Plänen, die unter solchen Umständen freigelassen werden, zu kritisieren. "Berufsrevolutionäre" und kleinbürgerliche Philister kritisierten nach Herzenslust herum. Aber auf diese Weise enthüllten sie nur, wie sehr sie selbst noch der Ideologie einer vergangenen Epoche verhaftet waren und wie wenig sie imstande waren, diese hinter sich zu lassen. Sie vermochten nicht die unerhörte Bedeutung des Neuen zu erkennen, nicht die Bedeutung von all dem, was in ihrer eigenen voreingenommenen Begrifflichkeit nicht erfaßt werden konnte. Dies Phänomen zeigte sich immer wieder, wie es wohl zweifellos in jeder wirklich großen historischen Umwälzung gewesen ist.

Bei Tag und Nacht war jeder Hörsaal überfüllt, Schauplatz ständiger leidenschaftlicher Diskussion über wirklich jedes Thema, das jemals das menschliche Dasein beschäftigt hat. Kein Redner hat jemals eine Zuhörerschaft so sehr erfreut, keinem wurde jemals mit solch angespannter Aufmerksamkeit zugehört - und keinem wurde jemals eine so kurze Frist zugebilligt, wenn er Unsinn erzählte.

Eine bestimmte Ordnung gewann schnell Oberhand. Vom zweiten Tag an wurde ein Informationsbrett in der Nähe des Eingangs angebracht, das ankündigte, wo worüber diskutiert werden sollte. Ich notierte mir: "Organisation des Kampfes"; "Politische und gewerkschaftliche Rechte in der Universität"; "Universitätskrise oder Krise der Gesellschaft"; "Bericht über politische Unterdrückung"; "5elbstverwoltung"; "Keine Auslese mehr" (oder wie man die Universitätstore für jedermann öffnen könnte); "Unterrichtsmethoden", " Examen" usw. Andere Hörsäle wurden dem Komitee zur Vereinigung von Studenten und Arbeitern übergeben, das bald große Bedeutung erlangen sollte. In noch anderen Räumen wurden Diskussionen über "sexuelle Unterdrückung", über die "Kolonialfrage" und über " Ideologie und Mystifikation" veranstaltet. Jede Gruppe von Leuten, die den Wunsch hatte, über welches Thema auch immer zu diskutieren, würde irgendeinen Hörsaal oder einen kleineren Raum erhalten. Glücklicherweise gab es Dutzende davon.

Der erste Eindruck war, als ob sich plötzlich ein riesiger Deckel hob, als ob plötzlich bisher zurückgehaltene Gedanken und Träume in das Reich des Wirklichen und Möglichen übertragen wurden. Indem sie ihre Umgebung verändern, verändern sich die Leute auch selbst. Leute, die es niemals gewagt haben, etwas zu sogen, bekamen plötzlich das Gefühl, daß ihre Gedanken das Wichtigste auf der Welt seien - und redeten auch so. Die Schüchternen wurden mitteilsam. Die Hoffnungslosen und Vereinsamten entdeckten plötzlich, daß gemeinsame Macht in ihren Händen lag. Die traditionell Apathischen erfuhren plötzlich, wie stark sie an der

Sache beteiligt waren. Eine ungeheure Woge von Gemeinschaft und Zusammenhalt er

griff diejenigen, die sich selbst zuvor nur als vereinzelte und machtlose Marionetten angesehen hatten, die von Institutionen beherrscht wurden, die sie weder kontrollieren noch verstehen konnten. Die Leute machten sich jetzt ganz einfach daran, ohne jede

Spur von Befangenheit miteinander zu reden. Dieser Zustand der Euphorie dauerte die ganzen vierzehn Tage an, in denen ich dort

weilte. Eine Inschrift, die auf eine Mauer gemalt worden war, bringt das wohl am besten zum Ausdruck: " Schon zehn Tage Glück".

Im Hof der Sorbonne rächten sich die politischen Verhaltensweisen, die eine ganze Generation lang mit Mißtrauen betrachtet wurden. Im ganzen Innenrund wurden Literaturstände aufgestellt. An den Wänden des Innenhofes erschienen riesige Portraits: Marx, Lenin, Mao, Trotzki, Castro, Guevara, eine revolutionäre Wiederauferstehung, die die Grenzen

von Zeit und Raum hinter sich ließ. Selbst

Stalin tauchte vorübergehend wieder auf

(an einem Stand der Maoisten), bis man den Genossen taktvoll klarmachte, daß er in einer solchen Gesellschaft wohl nicht ganz zu Hause sei.

An den Ständen selbst kam plötzlich jede Art von Literatur zum Vorschein: Flugblätter und Schriften von Anarchisten, Stalinisten, Maoisten, Trotzkisten (dreier verschiedener Richtungen), der PSU und von Nicht-Parteigebundenen. Der Hof der Sorbonne war zu einem riesigen revolutionären Laden geworden, in dem die meisten einschlägigen Produkte nicht mehr unter dem Ladentisch bleiben mußten, sondern nun offen verkauft werden konnten. Alte Ausgaben von Zeitungen, von den Jahren verblichen, wurden ausgegraben und oft ebenso gut verkauft wie das neue Zeitungsmaterial. Überall standen Gruppen von zehn oder zwanzig Leuten herum und diskutierten heftig, Leute sprachen über die Barrikaden, über die CRS, über ihre eigenen Erfahrungen, aber ebenso über die Kommune von 1 871, über 1905 und 1917, über die italienische Linke im Jahre 1921 und über Frankreich 1936. Eine Verbindung wurde geschlagen zwischen dem Bewußtsein der revolutionären Minderheiten und dem ganzer neuer Bevölkerungsgruppen, die Tag für Tag in den Strudel politischer Auseinandersetzungen hineingezogen wurden. Die Studenten lernten in ein paar Tagen, wozu andere ein ganzes Leben gebraucht hatten. Viele Schüler kamen, um zu sehen, was hier vor sich ging. Ich erinnere mich an einen Jungen von 14 Jahren, der einem ungläubigen Mann von 60 Jahren erklärte warum Studenten das Recht haben sollten, ihre Professoren abzusetzen.

Es geschahen aber auch andere Dinge. Ein großes Klavier tauchte pl5tzlich im Haupthof auf und blieb dort einige Tage lang. Wenn die Leute in den Hörsälen vom Neokapitalismus und seinen Manipulationstechniken sprachen, klangen Stücke von Chopin und Jazztakte, Fetzen der 'Carmagnole' und atonale Kompositionen durch die Luft. Einen Abend spielte jemand Trommel, dann traten einige Klarinettenspieler auf. Diese 'Abweichungen' mögen einige einfache Geister der Revolution in Wut versetzt haben, aber sie stellten ebenso ein wichtiges Teilstück der totalen Umwandlung der Sorbonne dar wie die revolutionären Lehren, die in den Hörsälen vorgetragen wurden.

Eines Morgens tauchte eine Ausstellung von Großaufnahmen von der 'Nacht der Barrikaden' in schöner Halbschattenbelichtung auf, die an Ständen angebracht waren. Niemand wußte, wer sie angebracht hatte. Jedermann stimmte zu, daß die Fotos den Schrecken und den Zauber, die Wut und die Hoffnung dieser schicksalsschweren Nacht in aller Kürze treffend zum Ausdruck brachten. Selbst die Türen der Kapelle, die zum Innenhof führten, wurden nun mit Inschriften verziert: "Öffnet diese Tür - Schluß mit den Tabernakeln"; "Die Religion ist die letzte Mystifikation". Ode r etwas prosaischer: "Wir wollen etwas zum Pissen, nicht zum Beten. "

Die massiven Außenwände der Sorbonne wurden ebenso bald mit Plakaten versehen, Plakate, die die ersten Sit-ln-Streiks dar: stellten, die die Lohnraten ganzer Gruppen von Pariser Arbeitern nannten, die Solidaritätsmärsche in Peking zeigten und die Polizeirepression und den Einsatz von CS-Gas (ebenso wie den von gewöhnlichem Tränengas) gegen die Demonstranten festhielten. Da gab es Plakate, die die Studenten vor der KP-Taktik, auf den fahrenden Zug aufzuspringen, warnten und darlegten, wie sehr die K P die Bewegung der Studenten attackiert hatte und wie sehr sie jetzt versuchte, sich die Führung anzumaßen. Es gab politische Plakate in Hülle und Fülle; aber ebenso andere, die einen neuen Ethos verkündeten. Ein großes Plakat - natürlich ganz in der Nahe des Haupteingangs - verkündete kühn: "Es ist verboten zu verbieten". Andere kamen in gleicher Weise zur Sache: "Nur die Wahrheit ist revolutionär"; "Unsere Revolution ist größer als wir selbst"; "Wir verweigern uns der Rolle, die man uns zugedacht hat, wir wollen nicht wie Polizeihunde dressiert werden.". Die Bedürfnisse der Leute waren verschieden, aber sie bewegten sich auf einen Punkt zu. Die Plakate reflektierten die wahrhaft libertäre vorherrschende Philosophie. "Die Menschheit wird erst dann frei sein, wenn der letzte Kapitalist mit den Gedärmen des letzten Bürokraten erhängt worden ist."; "Kultur ist zerstörerisch. Seid schöpferisch !"; "Ich nehme meine Wunsche für Realität, denn ich glaube an die Realität meiner Wunsche'' oder einfacher: "Kreativität, Spontaneität, Leben". Außerhalb auf der Straße hielten Hunderte von Passanten an, um diese improvisierten Wandzeitungen zu lesen. Einige gafften, einige kicherten, einige nickten zustimmend. Einige diskutierten. Einige brachten ihren Mut zum Ausdruck und betraten wirklich das ehemals unzugängliche Gelände, wie man sie ja auch durch zahlreiche Plakate aufgefordert hatte, indem man verkündete, die Sorbonne stehe jetzt allen offen. Junge Arbeiter, die sich noch einen Monat zuvor "an diesem Platz nicht hatten sehen lassen wollen", kamen nun in Gruppen her, erst ziemlich befangen, später, als würde die Stätte ihnen gehören, was sie natürlich auch tat.

Als die Tage verstrichen, begann eine andere Art von Invasion um sich zu greifen - die Invasion der Zyniker und Ignoranten oder nachsichtiger formuliert - derer, "die gekommen waren, um sich mal umzuschauen". Diese Unsitte gewann allmählich an Bedeutung. Denn von einem bestimmten Punkt an drohte sie die ernsthafte Arbeit, die getan werden mußte, zu paralysieren; diese Arbeit mußte zum Teil zu der ebenfalls von Studenten besetzten Fakultät für Literatur in Censier verlegt werden. Jedoch erachtete man es weiterhin als notwendig, daß die Türen 24 Stunden am Tag offenblieben. Die Mitteilung breitete sich sicher aus. Abordnungen kamen zuerst von anderen Universitäten, dann von Oberschulen, später von Fabriken und Büros, um zu sehen, Fragen zu stellen, zu diskutieren und kennenzulernen. Das wirkungsvollste Kennzeichen für das neue berauschende Klima jedoch fand sich an den Wänden der Korridore der Sorbonne. Um die Haupthörsäle herum gibt es eine Masse solcher Korridore: dunkel, staubig, deprimierend und bis dahin unbeachtet führen Passagen von - genau gesagt - nirgendwo nach nirgendwo. Plötzlich wurden diese Korridore lebendig, in einer Art Feuerwerk helleuchtender Mauer-Weisheit - vieles davon von den Situationisten inspiriert. Hunderte von Leuten hielten an, um Perlen wie diese zu lesen: "Konsumiere Marx nicht, lebe ihn"; "Die Zukunft wird nur das enthalten, was wir in sie hineinlegen"; "Wenn wir geprüft werden, dann werden wir mit Fragen antworten"; "Professoren, Ihr macht uns alt"; "Man kann sich nicht mit einer Gesellschaft zusammentun, die in der Auflösung begriffen ist"; "Wir müssen unangepaßt bleiben"; "Proletarier aller Länder, vergnügt Euch"; "Diejenigen, die eine Revolution nur halb machen, graben sich ihr eigenes Grab"(St.Just) "Bitte verlassen Sie die KP so sauber, wie Sie sie beim Eintritt vorfinden möchten"; "Die Tränen des Philisters sind der Nektar der Götter"; "Neapel sehen und sterben mit dem Club Méditerannée"; "Lang lebe die Kommunikation, nieder mit der Telekommunikation"; "Der Masochismus putzt sich heute genauso modisch heraus wie der Reformismus"; "Wir werden nichts beanspruchen Wir werden um nichts bitten. Wir werden nehmen. Wir werden besetzen"; "Die einzige Ausschreitung gegenüber dem Grabmal des unbekannten Soldaten war die, die ihn dorthin gebracht hat"; " Nein, wir wollen uns von der Großen Partei der Arbeiterklasse nicht schlucken lassen". Und eine große gut plazierte Inschrift: "Seit 1936 habe ich für Lohnforderungen gekämpft. Mein Vater hat vor mir ebenso für Lohnforderungen gekämpft. Ich besitze einen Fernseher, einen Kühlschrank, einen Volkswagen. Insgesamt gesehen ist mein Leben immer das eines Knechts gewesen. Diskutiert nicht mit den Bossen. Beseitigt sie."

Tag für Tag füllten sich Hof und Korridore, die Szene glich einem unaufhörlichen Flug in zwei Richtungen, hin zu jedem möglichen erreichbaren Winkel des riesigen Gebäudes. Es mag wie Chaos ausgesehen haben, aber es war das Chaos eines Bienenstocks oder eines Ameisenhügels. Eine neue Struktur entwickelte sich Schritt für Schritt. In einer großen Halle ist eine Kantine organisiert worden. Die Leute bezahlen, was sie aufbringen können, für Gläser Orangensaft, für 'Minze' oder 'Granatapfelsirup' und für Schinken oder Bratwurst. Ich frage, ob die Kosten denn gedeckt würden, und man sagt mir, daß sie gerade ausgeglichen werden. In einem anderen Teil des Gebäudes ist eine Kinderkrippe eingerichtet worden, anderswo eine Erste-Hilfe-Station wieder woanders ein Schlafsaal. Reguläre Reinigungsdienstlisten werden aufgestellt. Es werden Räume bereitgestellt für das Besetzungskomitee, für das Pressekomitee, das Propagandakomitee, für die Komitees zur Vereinigung von Studenten und Arbeitern, für die Komitees für die Probleme ausländischer Studenten, die Aktionskomitees der Schüler, die Komitees für die Verteilung der Räume und für die zahllosen Kommissionen, die besondere Aufgaben bewältigen wie z.B. die Erstellung einer Dokumentation über Polizeibrutalitäten, die Beschäftigung mit den Problemen der Autonomie, des Prüfungssystems usw. Jeder, der mitarbeiten möchte, kann leicht etwas finden.

Die Zusammensetzung der Komitees änderte sich ständig. Manchmal wechselte sie von einem Tag zum anderen, während die Komitees allmählich an Boden gewannen. Denjenigen, die noch sofortigen Lösungen für jedes einzelne Problem verlangten, wurde erwidert: "Geduld, Genosse. Gib uns Gelegenheit, eine Alternative zu entwickeln. Die Bourgeoisie hat diese Universität nahezu zwei Jahrhunderte lang kontrolliert. Sie hat keine Lösungen geschaffen. Wir sind dabei, ganz von unten aufzubauen. Wir brauchen einen Monat oder zwei... "

Angesichts dieser gewaltigen explosiven Entwicklung, die sie weder vorausgesehen hatte noch kontrollieren konnte, versuchte die Kommunistische Partei verzweifelt, von ihrem ramponierten Ruf zu retten, was sie konnte. Zwischen dem 3. und 13. Mai standen in jeder Ausgabe der 'Humanité' Artikel, in denen die Studenten entweder angegriffen oder schmutzige Unterstellungen über sie verbreitet wurden. Jetzt plötzlich änderte sich dieses Programm.

Die Partei entsandte Dutzende ihrer besten

Agitatoren in die Sorbonne, um den 'Fall' zu erklären. Die Angelegenheit stellte sich recht einfach dar. Die Partei "unterstützte die Studenten" - auch wenn sich unter deren Führern ein paar "zweifelhafte Elemente" befanden.

Das "hatte sie immer getan". Und sie würde es auch immer tun.

Es folgten erstaunliche Szenen. Jeder stalinistische "Agitator" wurde sofort von einer großen Gruppe gut informierter junger Leute umringt, die die konterrevolutionäre Rolle der Partei aufdeckten. Die Genossen von 'Voix Ouvriere' hatten eine Wandzeitung angebracht, in der täglich jede die Studenten angreifende Bemerkung, die in der 'Humanité' oder in einem der Dutzend Parteiflugblätter erschienen war, angeschlagen wurde. Die 'Agitatoren' kamen gar nicht zu Wort. Man ging ihnen sofort an den Kragen (nicht mit physischer Gewalt): "Die Sache ist nur allzu klar, Genosse. Wurden die Parteigenossen herzukommen belieben und ganz genau vorlesen, was die Partei vor noch nicht einmal einer Woche gesagt hat? Wurde die ' Humanité vielleicht den Studenten Platz einräumen, um auf einige der gegen sie erhobenen Anklagen zu antworten ? " Andere aus der Zuhörerschaft l

brachten dann die Rolle der Partei wahrend des Algerienkrieges auf den Tisch, die während des Minenarbeiterstreiks 1958 und während der Jahre des 'Triportismus' (1945-47). Die 'Agitatoren 'versuchten, sich wie ein Wurm hin und her zu winden, aber so konnten sie dieser Art der 'Sofort Erziehung' nicht entkommen. Es war interessant festzustellen, daß die Partei diese 'Rettungsaktion' nicht ihren jüngeren studentischen Mitgliedern anvertrauen konnte. Nur die 'älteren Genossen' konnten sich in dieses Hornissennest wagen. Dies war so eindeutig und auffallend, daß die Leute meinten, jeder in der Sorbonne über 40 Jahre sei entweder ein Polizeiknecht oder ein Stalinistenbüttel.

Die dramatischsten Zeiten während der Besetzung waren ohne Zweifel die 'Assemblees Generals" oder Vollversammlungen, die jeden Abend in dem riesigen Amphitheater abgehalten wurden. Sie stellten den Rat dar, wo letztlich alle Entscheidungen ihren Ursprung hatten, den Entstehungsort direkter Demokratie. Das Amphitheater konnte in seinem riesigen Halbrund, das noch von drei Rängen überragt wurde, 5.000 Leute aufnehmen. Häufig war noch nicht einmal jeder Sitzplatz eingenommen, schon wollte die Menge zu den Seitenrängen und aufs Podium stürmen. Eine schwarze und eine rote Fahne hingen über dem einfachen Holztisch, an dem der Versammlungsleiter saß. Wenn man gesehen hat, wie Versammlungen von fünfzig Leuten aus dem Häuschen gerieten, dann ist es eine erstaunliche Erfahrung mitanzusehen, wie eine Versammlung von fünf Tausend vonstatten geht. Wirkliche Ereignisse bestimmten die Themen und stellten sicher, daß der größte Teil der Diskussion wirklichkeitsnah blieb.

Nachdem man sich über das Thema der Diskussion geeinigt hatte, war es jedem erlaubt zu reden. Die meisten Redebeiträge wurden vom Podium aus gehalten, einige vom Halbrund aus, andere von den Balkonen. Die Lautsprecheranlage funktionierte gewöhnlich, manchmal jedoch nicht. Einige Redner konnten sich sofort Gehör verschaffen, ohne überhaupt die Stimme zu erheben, andere riefen durch ihren kreischenden Ton sofort eine feindselige Gegenstimmung hervor, durch ihre Heuchelei oder durch ihre mehr oder weniger offensichtlichen Versuche, die Versammlung zu manövrieren. Jeder, der schwafelte, in Erinnerungen schwelgte, Rollen rezitierte oder mit Phrasen um sich warf, wurde vom Auditorium nicht lange geduldet, einem Auditorium, das politisch das intelligenteste war, das ich jemals gesehen habe. Jeder, der praktische Vorschläge machte, hatte aufmerksame Zuhörer. So verhielt es sich mit denen, die die Bewegung im Zusammenhang mit ihren eigenen Erfahrungen zu interpretieren oder den weiteren Weg nach vorn aufzuzeigen versuchten.

Die meisten Redner bekamen drei Minuten Redezeit. Manche erhielten durch Abstimmung in der Zuhörerschaft sehr viel mehr. Die Menge selbst übte auf der Plattform und den Rednern gegenüber eine starke Kontrolle aus. Sehr schnell bildete sich eine gegenseitige Beziehung heraus. Die politische Reife der Versammlung zeigte sich am schlagendsten daran, daß man sehr schnell merkte, daß Buhen und Beifallklatschen während der Reden die eigenen Überlegungen der Versammlungen nur nachlassen ließen. Gute Reden wurden mit starkem Beifall bedacht - am Ende. Demagogische oder nutzlose Redebeiträge wurden ungeduldig beiseite geschoben. Bewußte revolutionäre Minderheiten spielten eine wichtige Katalysatoren-Rolle bei diesen Beratungen; sie versuchten jedoch nie - jedenfalls die intelligenteren von ihnen nicht - der großen Masse ihren Willen aufzuzwingen. Obwohl die Versammlung gerade in der Anfangsphase ihr gewisses Quantum an Exhibitionisten, Provokateuren und Spinnern aufwies, zeigten sich die Gesamtkosten der direkten Demokratie doch nicht so schwerwiegend, wie man hätte erwarten können.

Es gab Augenblicke der Spannung und solche der Erschöpfung. In der Nacht nach dem 13. Mai, am Tag der großen Demonstration durch die Straßen von Paris, sah Daniel Cohn-Bendit sich J. M. Catala, dem Generalsekretär der Union der kommunistischen Studenten, vor völlig überfülltem Auditorium gegenüber. Diese Szene hat sich tief in meine Erinnerung eingegraben:

"Erzähl uns", sagt Cohn-Bendit, "warum die Kommunistische Partei und die CGT ihre Militanten aufgefordert haben, sich bei Denfert Rocherau zu entfernen, warum hielten sie sie davon ab, mit uns zusammen eine Diskussion auf dem Marsfeld zu führen?"

"Wirklich ganz einfach", spottet Catala, "die zwischen der CGT, der CFDT, der UNEF und anderen verantwortlichen Organisationen geschlossene Übereinkunft beinhaltete, daß an einem vorher festgelegten Ort die Auflösung der Demonstration stattfinden sollte. Das gemeinsame verantwortliche Komitee hat keinerlei weitergehende Entwicklungen sanktioniert …"

"Eine enthüllende Antwort", antwortet Cohn-Bendit, "die Organisationen haben nicht vorausgesehen, daß wir eine Million auf der Straße sein würden. Aber das Leben ist größer als die Organisationen. Mit einer Million Leute ist fast alles möglich. Du sogst, das Komitee hätte nichts weitergehendes sanktioniert. Am Tage der Revolution wirst du uns sicher erzählen, wir sollten auf sie verzichten, 'weil das zuständige verantwortliche Komitee sie nicht sanktioniert hat …"

Das brachte die Versammlung aus dem Häuschen. Die einzigen, die nicht laut zu jubeln anfingen, waren einige Dutzend Stalinisten. Ebenso verhielten sich bezeichnenderweise diejenigen Trotzkisten, die schweigend die stalinistischen Vorstellungen akzeptierten - und deren einziger Streitpunkt mit der KP darin liegt, daß man sie davon ausschloß, eine der 'verantwortlichen Organisationen' zu sein.

In derselben Nacht fällte die Versammlung drei wichtige Entscheidungen. Von jetzt an sollte sich die Sorbonne als revolutionäres Hauptquartier konstituieren ("Smolny" rief jemand). Diejenigen, die dort arbeiteten, sollten ihre Hauptkraft nicht bloß auf eine Neuorganisierung des Erziehungssystems, sondern auf eine totale Umwälzung der bürgerlichen Gesellschaft legen. Von jetzt an sollte die Universität all denen offenstehen, die sich diesen Zielen verpflichtet fühlten. Nachdem die Vorschläge angenommen waren, erhob sich die Versammlung wie ein Mann und sang die lauteste und leidenschaftlichste 'Internationale', die ich jemals gehört habe. Das Echo muß bis zum Elysée-Palast auf dem anderen Ufer der Seine widergehallt haben.