Maurice Brinton
MAI 68
Die Subversion der Beleidigten

MaD Flugschrift


MONTAG, 13. MAI, 13.15 UHR

Die Straßen sind überfüllt. Die Reaktion auf den Aufruf zum eintägigen Generalstreik hat die gewagtesten Hoffnungen der Gewerkschaften noch übertroffen. Trotz der kurzfristigen Ankündigung ist Paris lahmgelegt. Der Streik war erst 48 Stunden zuvor beschlossen worden, nach der 'Nacht der Barrikaden'. Darüberhinaus ist er 'illegal'. Das Landesrecht verlangt, daß ein Streik fünf Tage vorher angekündigt werden muß, bevor 'offiziell' dazu aufgerufen werden darf. Zu dumm für die Legalität.

Eine starke Gruppierung von jungen Leuten zieht den Boulevard de Sébastopol entlang auf den Ostbahnhof zu. Sie marschieren zum Versammlungsort der Studenten für die große Demonstration, die gemeinsam von den Gewerkschaften, der Studentenorganisation UNEF und den Lehrerorganisationen FNE und SNEup angekündigt worden ist.

Kein Autobus oder Auto ist zu sehen. Die Straßen von Paris gehören heute den Demonstranten. Tausende von ihnen befinden sich schon auf dem Platz vor dem Bahnhof. Weitere Tausende bewegen sich noch hierher aus allen Richtungen. Der Plan, dem die für die Demonstration verantwortlichen Organisationen zugestimmt haben, besteht darin, daß sich die verschiedenen Gruppen getrennt treffen und dann zum Platz der Republik ziehen, von wo aus der Marsch weitergehen soll quer durch Paris, über das Quartier Latin zum Place Denfert-Rocherau.

Wir stehen schon dichtgedrängt wie Sardinen, soweit das Auge nur blicken kann, und noch ist mehr als eine Stunde Zeit, bis der Abmarsch beginnen soll. Die Sonne scheint den ganzen Tag. Die Frauen sind in Sommerkleidern gekommen, die jungen Männer in Hemdsärmeln. Eine rote Fahne weht über dem Bahnhof. Es gibt viele rote Fahnen in der Menge und auch einige schwarze.

Plötzlich taucht ein Mann auf, der einen Koffer voll abgezogener Flugblätter mit sich trägt. Er gehört zu irgendeinem linken 'Grüppchen'. Er öffnet seinen Koffer und verteilt vielleicht ein Dutzend Flugblätter. Aber er braucht damit gar nicht allein weiterzumachen. Es besteht ein unstillbares Verlangen nach Information, Ideen, Literatur, Argumenten und Polemik. Der Mann steht kaum da und schon wird er von Leuten umringt, die sich zu ihm vordrängen, um das Flugblatt zu bekommen. Einige Dutzend Demonstranten, die das Flugblatt noch nicht einmal gelesen haben, helfen ihm, es zu verteilen. Ungefähr 6.000 Stück werden in wenigen Minuten ausgegeben. Alle scheinen genau gelesen zu werden. Die Leute diskutieren, lachen, machen Scherze. Ich beobachte solche Szenen immer wieder.

Die Verkäufer von revolutionärer Literatur erfüllen eine gute Aufgabe. Eine Verordnung, die von den Organisationen der Demonstration unterzeichnet worden ist, und nach der "nur die Literatur von Organisationen, die für die Demonstration verantwortlich sind" erlaubt sein soll (siehe dazu Humanité vom 13. Mai 1968, S.5), wird enthusiastisch verspottet. Diese bürokratische Zwangsmaßnahme (die am vorigen Abend bei ihrer Ankündigung in Censier von den studentischen Delegierten im Koordinationskomitee heftig kritisiert wurde) läßt sich bei einer solchen Menschenmenge ganz offensichtlich nicht durchsetzen. Die Revolution ist eben größer als irgendeine Organisation, toleranter als irgendeine 'repräsentative' Institution und realistischer als die Verordnung irgendeines Zentralkomitees.

Einige Demonstranten sind auf die Mauern, auf die Dächer der Bushaltestellen und auf das Geländer vor dem Bahnhof geklettert. Einige haben Lautsprecher und veranstalten kurze Ansprachen. Alle 'politischen Richtungen' scheinen irgendwo in dem einen oder anderen Teil der Menge vertreten zu sein. Ich kann die Fahne der Revolutionären Kommunistischen Jugend sehen, Bilder von Castro und Che Guevara, die Fahne der FER, verschiedene Fahnen von "Dem Volke dienen" (einer maoistischen Gruppe) und die Fahne der Union de la Jeunesse Communiste Marxiste-Léniniste (UJCML), einer anderen maoistischen Gruppierung. Weiterhin auch die Fahnen von vielen Erziehungseinrichtungen, die jetzt von denen gehalten werden, die dort arbeiten. Große Gruppen von Oberschülern mischen sich ebenso wie Tausende von Lehrern unter die Studenten.

Ungefähr um 14 Uhr setzt sich die Abteilung der Studenten in Bewegung. Wir marschieren zu 20 bis 30 Mann in einer Reihe, die Arme verschränkt. Vor uns ist eine Reihe roter Fahnen, dann ein zehn Meter breites Spruchband mit den einfachen Worten: "Schüler, Lehrer, Arbeiter Hand in Hand". Es ist ein eindrucksvoller Anblick.

Der ganze Boulevard de Magenta ist eine dichtgedrängte kochende Menschenmenge. Wir können den Platz der Republik gar nicht betreten, da er schon voll von Demonstranten ist. Auf dem Bürgersteig kann man nicht entlanggehen und durch die Nebenstraßen auch nicht. Überall nichts als Menschen, soweit das Auge reicht.

Als wir langsam den Boulevard de Magenta entlangziehen, bemerken wir an einem Balkon im dritten Stockwerk, hoch zu unserer Rechten, ein Büro der Sozialistischen Partei. Der Balkon ist mit ein paar altaussehenden roten Fahnen bedeckt und mit einem Spruchband, das zur "Solidarität mit den Studenten" aufruft. Ein paar ältere Typen winken uns etwas befangen zu. Jemand in der Menge beginnt "Opportunisten!" zu rufen. Die Parole wird aufgenommen und von Tausenden im Rhythmus gerufen, zur Verwirrung der Leute auf dem Balkon, die einen eiligen Rückzug antreten. Die Leute haben den Einsatz der CRS gegen streikende Minenarbeiter nicht vergessen, der 1958 vom 'sozialistischen' Innenminister Jules Moch angeordnet wurde. Sie denken noch an den 'sozialistischen' Premierminister Guy Mollet und an seine Rolle während des Algerienkrieges. Gnadenlos zeigt die Menge ihre Verachtung für die diskreditierten Politiker, die jetzt versuchen, auf den fahrenden Zug aufzuspringen. "Guy Mollet, ins Museum!" rufen sie unter Gelächter. Es ist wirklich das Ende einer Epoche.

Gegen 15 Uhr erreichen wir endlich den Platz der Republik, von wo aus der Marsch durch Paris losgehen soll. Die Menge hier steht so dicht beieinander, daß einige ohnmächtig werden und in naheliegende Cafés gebracht werden müssen. Hier sind die Leute zwar fast ebenso dicht gedrängt wie auf der Straße, aber sie können wenigstens verhindern, verletzt zu werden. Die Fensterscheibe eines Cafés gibt dem Druck der Menge draußen nach. In einigen Teilen der Menge besteht echte Angst, zu Tode gestoßen zu werden. Glücklicherweise beginnen die ersten Gewerkschaftsblocks mit dem Abmarsch vom Platz. Kein Polizist ist zu sehen.

Obwohl die Demonstration als gemeinsame angekündigt worden ist, stellen die CGT-Führer immer noch verzweifelte Bemühungen an, eine Verbindung von Arbeitern und Studenten auf der Straße zu verhindern. Sie haben dabei nur mäßigen Erfolg. Gegen 16.30 Uhr verläßt der Block von Studenten und Lehrern, ungefähr 80.000 Menschen, endlich den Platz der Republik. Hunderttausende von Demonstranten sind ihm vorangegangen, Hunderttausende werden noch folgen, aber der 'linke Block' ist im wahrsten Sinne des Wortes eingeschlossen. Einige Gruppen, die endlich das Manöver der CGT durchschauen, brechen sofort aus, nachdem wir den Platz verlassen haben. Sie machen Abkürzungen über verschiedene Seitenstraßen und es gelingt ihnen, in Gruppen von ungefähr 100 Mann in die Blocks des Demonstrationszuges vor oder hinter ihnen einzudringen. Die stalinistischen Vertrauensleute, die Hand in Hand gehend den Demonstrationszug auf beiden Seiten säumen, haben keine Möglichkeit, diese plötzlichen Einfälle zu verhindern. Die studentischen Demonstranten zerstreuen sich wie Fische im Wasser, sobald sie in einen bestimmten Block eingedrungen sind. Die CGT-Demonstranten selbst sind recht freundlich und nehmen die Neuankömmlinge sofort auf, ohne sich ganz sicher zu sein, was das alles bedeuten soll. Das studentische Auftreten, die Kleidung und die Sprache machten es nicht so schnell möglich, sie als solche zu identifizieren.

Der Hauptblock der Studenten marschiert geschlossen. Jetzt, wo wir den Engpaß Platz der Republik hinter uns haben, ist das Tempo ziemlich schnell. Dennoch braucht der Zug der Studenten mindestens eine halbe Stunde, um einen gegebenen Punkt zu passieren. Die Parolen der Studenten stehen in schlagendem Gegensatz zu denen der CGT. Die Studenten rufen: "Alle Macht den Arbeitern!"; "Die Macht liegt auf der Straße"; "Befreit unsere Genossen!"; Die CGT-Mitglieder rufen: "Pompidou zurücktreten". Die Studenten rufen: "De Gaulle-Mörder" oder "CRS = SS". Die CGT: " Geld, keine Polizeikasinos" oder "Verteidigt unsere Kaufkraft". Die Studenten rufen "Nein zur Klassenuniversität". Die CGT und die stalinistischen Studenten, um das Spruchband ihrer Zeitung 'Clarté' geschart, rufen dagegen: "Demokratische Universität". Hinter den Unterschieden im Ausdruck verbergen sich tiefliegende politische Differenzen. Einige Parolen werden von jedem aufgenommen: "Zehn Jahre sind genug", "Nieder mit dem Polizeistaat" oder "Herzlichen Glückwunsch, General". Sie schwenken ihre Taschentücher, zur großen Erheiterung der Umherstehenden.

Als der Hauptblock der Studenten die Brücke St. Michel überquert, um ins Quartier Latin zu gelangen, stoppt der Zug plötzlich, um so schweigend der Verwundeten zu gedenken. Für einen Augenblick sind alle Gedanken bei denen, die im Krankenhaus liegen, deren Augenlicht durch zuviel Tränengas gefährdet ist oder deren Schädel oder Rippen von den Polizeiknüppeln Brüche davongetragen haben. Das plötzliche zornerfüllte Schweigen gerade dieses sonst geräuschvollsten Teils des Demonstrationszuges verleiht einen tiefen Eindruck von Stärke und Entschlossenheit. Man fühlt, welche handfesten Rechnungen noch zu begleichen sind.

Am Ende des Boulevard St. Michel schere ich aus dem Zug aus und klettere auf ein Geländer an den Luxemburg-Gärten und beobachte das ganze. Ich bleibe dort zwei Stunden lang, während eine Reihe nach der anderen vorbeidemonstriert, 30 Leute oder mehr in einer Reihe, eine Menschenflut von phantastischem, unvorstellbarem Anblick. Wie viele sind es? 600.000 oder 800.000? Eine Million? Oder 1.500.000? Niemand kann das wirklich genau beziffern. Die ersten Demonstranten haben den Zielpunkt der Demonstration Stunden vorher erreicht, ehe die letzten Reihen den Platz der Republik gegen 19 Uhr verlassen hatten.

Es sind Spruchbänder jedweder Art zu sehen: gewerkschaftliche, studentische, politische, nicht-politische, reformistische, revolutionäre, Spruchbänder der Bewegung gegen die Atombewaffnung, der verschiedenen Elternräte, Spruchbänder in jeder Größe und Gestalt, Spruchbänder, die alle die gemeinsame Abscheu darüber, was passiert war, und den gemeinsamen Willen weiterzukämpfen zum Ausdruck brachten. Einige Spruchbänder ernteten heftigen Applaus, wie dasjenige, das von einer Gruppe ORTF-Beschäftigter getragen wurde und das "freie Berichterstattung" forderte. Einige Spruchbänder gaben sich lebendigem Symbolismus hin wie zum Beispiel ein schauerliches, das von einer Gruppe von Künstlern getragen wurde und das menschliche Hände, Köpfe und Augen zeigte, jeweils mit einem Preisschild versehen und zur Schau gestellt an den Haken und Trögen eines Metzgerladens.

Endlos ziehen sie vorbei. Ganze Abteilungen von Krankenhauspersonal sind darunter, in weißen Kitteln, manche tragen Plakate mit der Aufschrift: "Wo sind die Verletzten, die vermißt werden?" Jede Fabrik, jede größere Arbeitsstätte scheint vertreten zu sein. Zahllose Gruppen von Eisenbahnern, Postbeamten, Druckern, U-Bahn-Personal, Metallarbeitern, Flughafenarbeitern, Marktarbeitern, Elektrikern, Juristen, Kanalarbeitern, Bankangestellten, Bauarbeitern, Arbeitern aus Glashütten und Chemiearbeitern, Kellnern, städtischen Angestellten, Malern und Dekorateuren, Gasarbeitern, Verkäuferinnen, Versicherungsangestellen, Straßenkehrern, Arbeitern aus Filmstudios, Busfahrern, Lehrern, Arbeitern aus den neuen Plastikindustrien - Reihe auf Reihe Fleisch und Blut der modernen kapitalistischen Gesellschaft, eine endlose Masse, eine Macht, die alles vor sich hinwegfegen könnte, wenn sie sich nur dazu entschließen würde, es zu tun.

Meine Gedanken wenden sich jetzt denjenigen zu, die behaupten, daß die Arbeiter sich nur für Fußball, Pferdewetten, Fernsehen und ihren jährlichen Urlaub interessieren würden und daß die Arbeiterklasse den Problemen des heutigen Lebens nicht auf den Grund gehen könnte. Das war so handgreiflich unwahr. Ich dachte ebenso an die, die meinen, daß zwischen den Massen und der totalen Umwandlung der Gesellschaft nur eine kleine und verrottete Führung als Hindernis liege. Das war ebenso unwahr. Heute beginnt die Arbeiterklasse, sich ihrer Macht bewußt zu werden. Wird sie sich morgen entschließen, davon Gebrauch zu machen?

Ich reihe mich wieder in den Zug ein und wir ziehen noch Denfert Rocherau. Wir kommen an einigen Statuen vorbei, gesetzten Herren, die jetzt mit roten Fahnen umhängt sind oder Parolen tragen wie "Befreit unsere Genossen!". Als wir an einem Krankenhaus vorbeiziehen, kommt wieder Schweigen über die endlose Menge. Irgend jemand beginnt, die 'Internationale' zu pfeifen. Andere schließen sich an. Wie eine Brise, die über ein großes Kornfeld streicht, tönt das Pfeifen in alle Richtungen. Von den Fenstern des Krankenhauses aus winken uns einige Krankenschwestern zu.

An verschiedenen Kreuzungen kommen wir an Ampeln vorbei, die merkwürdig träge zu funktionieren scheinen. Abwechselnd rot und grün, in bestimmten Zeitabständen, ebenso bedeutungslos wie die bürgerliche Erziehung, wie die Arbeit in der moderne Gesellschaft, wie das Leben derer, die vorbeigehen. Die Wirklichkeit von heute hat für einige Stunden alle Merkmale des Gestrigen in sich zusammensinken lassen.

Der Teil der Demonstration, in dem ich mich nun wiederfinde, nähert sich jetzt schnell dem von den Organisatoren festgelegten Ort der Auflösung der Demonstration. Die CGT ist verzweifelt darum bemüht, daß ihre Hunderttausend Sympathisanten ruhig auseinander gehen werden. Sie fürchtet sie, wenn sie zusammen sind. Die CGT will sie als namenlose Atome, die sich nach der Demonstration wieder in alle vier Himmelsrichtungen von Paris zerstreuen, machtlos hinsichtlich ihrer individuellen Befangenheit. Die CGT sieht sich selbst als die einzig mögliche Verbindung zwischen ihnen, gleichsam als das von Gott geweihte Instrument, ihrem gemeinsamen Willen Ausdruck zu verleihen. Die "Bewegung des 22.März" hat auf der anderen Seite einen Aufruf an die Studenten und Arbeiter herausgegeben, in dem sie diese auffordert zusammenzubleiben und zu den Rasenplätzen des Marsfeldes (am Fuße des Eiffelturms) zu ziehen, um eine große kollektive Diskussion über die Erfahrungen des Tages und über die anstehenden Probleme zu führen.

An dieser Stelle bekomme ich zum ersten Mal eine Kostprobe davon, was ein aus stalinistischen Vertrauensleuten zusammengesetzter 'Ordnungsdienst' wirklich bedeutet. Den ganzen Tag schon haben die Vertrauensleute offenbar diesen besonderen Moment erwartet. Sie sind sehr gespannt, offensichtlich erwarten sie 'Krawalle'. Vor allem fürchten sie das, was sie 'Überflügelung' nennen, d.h. links uberflügelt zu werden. Auf den letzten 800 Metern der Demonstration nehmen fünf oder sechs starke Reihen von ihnen Aufstellung auf beiden Seiten der Demonstranten. Die Arme untereinander verschränkt bilden sie einen massiven Schutzwall um die Demonstranten. CGT-Funktionäre rufen die zurückgehaltenen Demonstranten über zwei starke auf Lieferwagen angebrachte Lautsprecher an und fordern sie auf, sich über den Boulevard Arago ruhig zu entfernen, d.h. genau in die entgegengesetzte Richtung wie die zum Marsfeld. Andere Abzugswege vom Platz Denfert Rocherau sind durch Reihen von Vertrauensleuten mit ineinanderverketteten Armen blockiert.

Bei Gelegenheiten wie dieser ruft die Kommunistische Partei, wie man mir sagte, Tausende ihrer Mitglieder aus der Pariser Gegend zusammen. Sie trommelt ebenso Mitglieder aus der entfernteren Umgegend herbei, indem sie sie mit vielen Busladungen von so weit entfernten Orten wie Rennes, Orléans, Sens, Lille und Limoges herbeischafft. Die Gemeinden unter der Kontrolle der Kommunistischen Partei bringen weitere Hunderte dieser Vertrauensleute auf - nicht unbedingt Parteimitglieder, aber Leute, die aufgrund ihrer Arbeit und ihrer Zukunft vom guten Willen der Partei abhängig sind. Seit ihrem Höhepunkt bei der Regierungsbeteiligung 1945-1947 hat die Partei immer diese Art von Massenbasis in der Pariser Umgegend gehabt. Sie hat diese Basis unverändert bei Gelegenheiten wie der heutigen ausgenutzt. Auf der hiesigen Demonstration müssen es mindestens 10.000 solcher Vertrauensleute gewesen sein, möglicherweise sogar doppelt so viele.

Die Aufforderung der Vertrauensleute trifft auf ein unterschiedliches Echo. Ob sie Erfolg haben, bestimmte Gruppen dazu zu bewegen, sich über den Boulevard Arago zu entfernen, hängt natürlich von der Zusammensetzung der jeweiligen Gruppen ab. Die meisten von denen, in die die Studenten nicht erfolgreich eindringen konnten, gehorchen jetzt, obwohl auch hier einige der jüngeren Militanten Protest anmelden: "Wir sind eine Million auf der Straße. Warum sollten wir nach Hause gehen?" Andere Gruppen zögern, sind unschlüssig, fangen an zu diskutieren. Studentische Sprecher klettern auf die Mauern und rufen: "Alle, die zum Fernseher zurückkehren wollen, gehen den Boulevard Arago runter. Die, die für gemeinsame Diskussionen zwischen Studenten und Arbeitern und für das Weitertreiben des Kampfes sind, gehen den Boulevard Raspail runter und ziehen zum Marsfeld."

Diejenigen, die gegen die Aufforderung zum Zerstreuen protestieren, werden von den Vertrauensleuten sofort angegangen, als 'Provokateure' denunziert und in vielen Fällen tätlich angegriffen. Ich sah einige Genossen der "Bewegung des 22. März', die tätlich angegriffen wurden, denen man die Flüstertüten entriß, ihre Flugblätter zerriß und auf den Boden warf. In einigen Blocks schien es Dutzende, in anderen Hunderte und wieder in anderen Tausende von 'Provokateuren' zu geben. Eine Anzahl von kleineren Rangeleien gibt es, als die Vertrauensleute von diesen Blocks beiseite geschoben werden. Erhitzte Wortgefechte brechen aus, die Demonstranten bezeichnen die Stalinisten als 'Bullen' und als den 'letzten Schutzwall der Bourgeoisie'.

Die Tatsachentreue zwingt mich zuzugeben, daß die meisten Blocks den Anordnungen der Gewerkschaftsbürokraten Folge leisteten. Die wiederholten Verleumdungen durch die CGT- und KP-Führer hatten ihren Erfolg gezeigt. Die Studenten galten als 'Unruhestifter', 'Abenteurer', 'zweifelhafte Elemente'. Die von ihnen beabsichtigte Aktion würde nur zu "einer massiven Intervention der CRS" führen, die sich den ganzen Nachmittag wohlweislich nicht in Sichtweite gehalten hatte. "Das heute war nur eine Demonstration, nicht das Vorspiel zur Revolution". Unbarmherzig spielten sie ihr Spiel mit den rückständigsten Gruppen in der Menge und griffen die fortschrittlicheren Gruppen an; so hatten die Apparatschiks der CGT Erfolg dabei, die große Masse der Demonstranten dazu zu bringen, sich zu zerstreuen, oft allerdings unter Protest. Tausende gingen zwar zum Marsfeld, Hunderttausende gingen jedoch nach Hause. Die Stalinisten hatten einen Tag gewonnen, aber die Inhalte, die sich heute erstmals gezeigt hatten, werden sicher in den kommenden Monaten widerhallen.

Ungefähr gegen 20 Uhr ereignete sich ein Vorfall, der die Stimmung der letzten Blocks der Demonstration, die sich gerade dem Ziel näherten, umschlagen ließ. Ein Polizeiwagen kam plötzlich eine der Straßen entlang, die zum Platz Denfert Rochereau führen. Er muß von seiner geplanten Fahrtroute abgekommen sein, oder vielleicht hatte sein Fahrer angenommen, daß die Demonstration schon aufgelöst worden sei. Angesichts der Menge bekamen die zwei Gendarmen auf dem Vordersitz Angst. Der Fahrer war unfähig, noch rechtzeitig zu wenden und zurückzufahren, und kam zu dem Entschluß, daß sein Leben davon abhänge, sich einen Weg durch die am wenigsten dichte Stelle der Menge zu bahnen. Das Fahrzeug wurde schneller und stieß mit einer Geschwindigkeit von ungefähr 80 Stundenkilometern auf die Demonstranten zu. Die Leute rannten wie wild in alle Richtungen. Einige wurden zu Boden geworfen und zwei ernsthaft verletzt. Sehr viele konnten sich nur mit knapper Not retten. Der Wagen wurde schließlich umzingelt. Einer der Polizisten auf dem Vordersitz wurde herausgezerrt und von der aufgebrachten Menge mehrmals geschlagen, ja, man wollte ihn lynchen. Schließlich wurde er gerade im letzten Augenblick von den Vertrauensleuten gerettet. Sie trugen ihn mehr oder weniger eine Seitenstraße entlang - er war halb bewußtlos -, wo er wie eine geschlagene Blutwurst durch ein offenes Parterrefenster waagerecht hineingereicht wurde.

Hierfür mußten die Vertrauensleute ein Wettrennen mit einigen Hundert äußerst aufgebrachten Demonstranten veranstalten. Die Menge begann dann, den steckengebliebenen Polizeiwagen hin- und herzuschütteln. Der zurückgebliebene Polizist zog seinen Revolver und feuerte ab. Die Leute duckten sich. Wie durch ein Wunder wurde niemand verletzt. Ungefähr 100 Meter weiter schlug die Kugel ca. 60 cm über dem Erdboden in ein Fenster von 'Le Belfort' ein, einem großen Café am Boulevard Raspail Nr.297. Die Vertrauensleute eilten erneut zur Befreiung herbei und bildeten eine Barriere zwischen der Menge und dem Polizeiwagen, dem gestattet wurde, über eine Nebenstraße zu entkommen, gesteuert von dem Polizisten, der in die Menge gefeuert hatte.

Hunderte von Demonstranten drängten sich um das Loch in dem Fenster des Cafés. Pressefotografen wurden herbeigerufen, kamen und machten sogleich ihre Großaufnahmen - natürlich wurde keine davon veröffentlicht. (Zwei Tage später widmete die 'Humanité' dem Vorfall ein paar Zeilen - am Ende einer Kolumne auf Seite 5.) Ein Ergebnis des Vorfalls ist, daß einige Tausend Demonstranten mehr sich entschlossen, nicht wegzugehen. Sie machten kehrt und zogen zum Marsfeld, wobei sie "Sie haben auf dem Denfert auf uns geschossen!" riefen. Wenn der Vorfall nur eine Stunde früher passiert wäre, dann hätte der Abend des 13. Mai wohl etwas anders ausgesehen.