Maurice Brinton
MAI 68
Die Subversion der Beleidigten

MaD Flugschrift


RUE GAY- LUSSAC

Sonntag, 12. Mai.

Die Rue Gay-Lussac trägt noch die Zeichen der 'Nacht der Barrikaden'. Ausgebrannte Autos entlang der Bürgersteige, ihre Gerippe dreckig grau unter der fehlenden Farbe. Die Pflastersteine sind von der Straßenmitte beseitigt worden und liegen aufgehäuft an beiden Straßenseiten. Ein vager Geruch von Tränengas liegt immer noch in der Luft.

An der Kreuzung mit der Rue des Ursulines ist eine Baustelle. Der Maschendraht ist an vielen Stellen durchbrochen. Von hier kam das Material für mindestens ein Dutzend Barrikaden: Bohlen, Schubkarren, Kabeltrommeln, Stahlträger, Steinblöcke. Die Baustelle lieferte auch einen Preßlufthammer. Die Studenten konnten ihn natürlich nicht benutzen - nicht, bis ein zufällig vorbeikommender Bauarbeiter es ihnen erklärte, vermutlich der erste Arbeiter, der aktiv die Studentenrevolte unterstützte. Einmal aufgebrochen lieferte die Straßendecke Pflastersteine, die bald für alles mögliche benutzt wurden.

All das ist bereits Geschichte.

Leute laufen die Straße auf und ab, wie um sich zu überzeugen, daß es wirklich geschehen ist. Es sind keine Studenten. Denn die wissen, was geschah und warum. Es sind auch keine Anwohner. Die sahen, was geschehen ist. Die Brutalität der CRS-Angriffe, die Attacken auf die Verwundeten, auf unschuldige Zuschauer, die ungezügelte Wut einer Staatsmaschinerie gegen die, die sie bedrohen: Die Leute in den Straßen sind die normalen Leute von Paris, Leute aus den angrenzenden Bezirken, schockiert von dem, was sie im Radio hörten oder in ihren Zeitungen gelesen haben. Sie machen einen schönen Sonntagsspaziergang, um sich selbst zu überzeugen. In kleinen Menschentrauben sprechen sie mit den Bewohnern der Rue Gay-Lussac. Die Revolution, die für eine Woche die Universität und die Straßen des Quartier Latin in Besitz genommen hatte, beginnt, sich im Bewußtsein der Leute festzusetzen.

Am Freitag den 3. Mai hatte die CRS ihren historischen Besuch an der Sorbonne gemacht. Sie war von Paul Roche, dem Rektor der Pariser Universität, eingeladen worden. Ziemlich sicher hat der Rektor mit dem stillschweigenden Einverständnis von Alain Peyrefitte, wenn nicht gar mit dem Elysee selbst gehandelt. Viele Studenten wurden verhaftet, zusammengeschlagen und einige vom Schnellgericht verurteilt.

Die unglaubliche - doch vollkommen vorhersehbare - Absurdität dieser bürokratischen 'Lösung' des 'Problems' der Unzufriedenheit der Studenten verursachte eine Kettenreaktion. Sie lieferte dem aufgestauten Ärger, der Empörung und der Frustration zehntausender junger Leute einen Grund für weitergehende Aktionen und ein erreichbares Ziel. Vertrieben aus der Universität gingen die Studenten auf die Straße und forderten die Freiheit ihrer Genossen, die Wiedereröffnung der Fakultäten, den Abzug der Polizei. Immer neue Kreise von Leuten wurden in den Kampf einbezogen. Die Studentengewerkschaft (UNEF) und die Gewerkschaft des universitären Lehrpersonals (SNESup) riefen zum unbegrenzten Streik auf. Mit immer größeren und militanteren Straßendemonstrationen hielten die Studenten eine Woche lang die Stellung. Am Dienstag, den 7. Mai marschierten 50.000 Studenten und Lehrer hinter einem einzigen Transparent mit der Aufschrift "Vive la Commune" durch die Straßen. Am Denkmal des Unbekannten Soldaten, am Arc de Triomphe sangen sie die Internationale. Am Freitag den 10. Mai entschieden sich die Studenten und Lehrer, massenhaft das Quartier Latin zu besetzen. Sie fühlten, daß sie mehr Rechte hatten, dort zu sein, als die Polizisten, für die überall Kasernen bereitstanden. Der Zusammenhalt und die Entschiedenheit der Demonstranten erschreckte das Establishment. Die Macht durfte nicht dem Mob zufallen, der sich sogar erdreistet hatte, Barrikaden zu errichten.

Noch eine absurde Geste war nötig. Ein weiterer administrativer Reflex wurde zur rechten Zeit verwirklicht. Fouchet (Innenminister) und Joxe (Vize-Premier) befahlen Grimaud (Pariser Polizeipräsident), die Straßen zu säubern. Der Befehl wurde schriftlich fixiert, zweifellos, um ihn der Nachwelt als ein Beispiel von dem zu überliefern, was man in bestimmten Situationen nicht tun sollte. Die CRS griff an … sie räumte die Rue Gay-Lussac und öffnete Tür und Tor für die zweite Phase der Revolution.

Die vom Kampf gezeichneten Mauern und Wände der Rue Gay-Lussac und der angrenzenden Straßen verkünden eine doppelte Botschaft. Sie legen ein Zeugnis von dem unglaublichen Mut derer ab, die das Gebiet für mehrere Stunden gegen Unmengen von Tränengas, Phosphorgranaten und wiederholte Angriffe schlagstockschwingender CRS gehalten haben. Aber sie zeigen auch einiges von dem, wofür die Verteidiger kämpften …

Wandpropaganda ist ein integrierter Teil des revolutionären Paris vom Mai 68. Wandgemälde wurden zur Massenaktivität, Bestandteile der revolutionären Methode der Selbstdarstellung. Die Wände des Quartier Latin sind die Fundgrube für ein neues Denken, das nicht mehr auf Bücher beschränkt ist, sondern sich demokratisch auf der Straße entfaltet und für jeden erreichbar wird. Das Triviale und Tiefgehende, das Traditionelle und das Esoterische verweben sich in dieser neuen Brüderlichkeit. Schnell reißen sie die starren Barrieren und Schubladen im Bewußtsein der Leute ein.

'Désobéir d'abord: alsors écris sur les murs (loi du 10 mai 1968)' (Zuerst der Ungehorsam: darum schreibt auf die Mauern; Gesetz vom 10. Mai 1968) heißt eine augenfällig neue Inschrift, klar den Ton angebend. 'Si tout le peuple faisait comme nous' (wenn jeder wie wir handeln würde) träumt eine andere sehnsüchtig, wie ich denke eher in freudiger Antizipation als im Geiste einer selbstgerechten Stellvertreteranmaßung. Die meisten der Parolen sind geradeheraus, richtig und ziemlich orthodox: 'Libérez nos camarades' (Befreit unsere Genossen); 'Fouchet, Grimaud, demission' (Fouchet, Grimaud, zurücktreten); 'A bàs l'Etat policier' (Nieder mit dem Polizeistaat); 'Grève Générale Lundi' (Montag Generalstreik); 'Travailleurs, Etudiants, solidaires' (Arbeiter und Studenten Hand in Hand); 'Vive les Conseils Ouvriers' (Es leben die Arbeiterräte). Andere Parolen gehen auf neue Interessen ein: 'La Publicité te manipule' (Die Öffentlichkeit manipuliert Dich); 'Examens = Hiérarchie' (Examen = Hierarchie); 'L'art est mort, ne consommez pas son cadavre' (Die Kunst ist tot, konsumiert nicht ihren Leichnam); 'A bàs la sociéte de consommation' (Nieder mit der Konsumgesellschaft); 'Debout les damnés de Nanterre' (Aufrecht, Ihr Verdammten von Nanterre). Die Parole 'Baissestoi et broute' (Bück Dich und käue wieder) zielte offensichtlich auf die, deren Bewußtsein immer noch voll mit traditionellen Vorstellungen ist.

'Contre la fermentation groupusculaire' (Gegen die Grüppchengärung) beklagt sich eine große rote Inschrift. Sie ist wirklich ohne jeden Bezug. Denn überall gibt es einen Überfluß von angeklebten Plakaten und Zeitungen: 'Voix Ouvrière', 'Avant-Garde' und 'RévoItes' (von den Trotzkisten), 'Servir le Peuple' und 'Humanité Nouvelle' (von den Anhängern des Vorsitzenden Mao), 'Le Libertaire' (von den Anarchisten), 'Tribune Socialiste' (von der PSU. Vereinzelt sind sogar Exemplare der ' L'Humanite' (KPF) angeklebt. Es fällt schwer, sie zu lesen, so voll sind sie mit kritischen Kommentaren.

An einer Litfaßsäule sehe ich ein großes Werbeplakat für eine neue Käsesorte: ein Kind, das in einen riesigen Sandwich beißt: 'C'est bon le fromage Soundso' heißt die Schlagzeile. Jemand hat die letzten Wörter mit roter Farbe überstrichen. Die Schlagzeile heißt jetzt: 'C'est bon la revolution' (Die Revolution ist gut). Leute kommen vorbei, schauen und schmunzeln.

Ich sprach mit meinem Begleiter, ein Mann von 45 Jahren, ein 'alter' Revolutionär. Wir diskutierten die ungeheuren Möglichkeiten, die sich jetzt eröffnen. Plötzlich dreht er sich zu mir und kommt mit einem bemerkenswerten Satz heraus: "Wenn man bedenkt, daß man erst Kinder haben und 20 Jahre lang warten mußte, um all das zu sehen …"

In den Straßen sprachen wir auch mit anderen alten und jungen, "politischen" und "unpolitischen", mit Leuten von verschiedenem Verständnis und verschiedener Überzeugung. Jeder ist zu einer Unterhaltung bereit - und tatsächlich will sich auch jeder unterhalten. Alle reden eine deutliche Sprache. Wir finden niemanden, der bereit ist, die Handlungsweise der Behörden zu verteidigen. Die 'Kritik' zerfällt in zwei Hauptströmungen:

  1. Die 'Progressiven' Dozenten der Universität, die Kommunisten und eine Anzahl von Studenten; sie sehen die hauptsächliche Ursache der 'Krise' der Studenten in der Rückständigkeit der Universität im Verhältnis zu den gegenwärtigen Erfordernissen der Gesellschaft, im zu geringen Unterrichtsangebot, in den halbfeudalen Einstellungen mancher Professoren und der mangelnden Berufsperspektive. Sie betrachten die Universität als nicht an die moderne Welt angepaßt. Für sie ist das Rezept: Anpassung. Eine modernisierende Reform, die die Spinngewebe wegfegt, die Universitäten mit mehr Dozenten und besseren Hörsälen versorgt, ein höheres Bildungs-Budget schafft und vielleicht eine liberalere Atmosphäre auf dem Campus und am Ende vor allem einen gesicherten Beruf.
  2. Die Rebellen (worunter einige, aber keineswegs alle 'alten' Revolutionäre fallen) betrachten diese Interessen, die Universität an die moderne Gesellschaft anzupassen, als etwas ähnliches wie ein Ablenkungsmanöver. Denn sie lehnen die moderne Gesellschaft selbst ab. Sie sehen das bürgerliche Leben als trivial und mittelmäßig an, als unterdrückend und unterdrückt. Sie haben kein Verlangen nach Karriere in der Verwaltung und der Industrie, die das System für sie bereithält, sondern haben nur Verachtung dafür übrig. Sie wollen sich nicht in die Gesellschaft der Erwachsenen integrieren lassen. Im Gegenteil: sie suchen eine Chance, deren Fälschungen radikal in Frage zu stellen. Die treibende Kraft ihrer Revolte ist die eigene Entfremdung, die Bedeutungslosigkeit des Lebens im modernen bürokratischen Kapitalismus; das ist gewiß keine rein ökonomische Verschlechterung ihres Lebensstandards.

Es ist kein Zufall, daß die 'Revolution' in Nanterre in den Fachbereichen Soziologie und Psychologie begann. Die Studenten erkannten, daß das, was sie in Soziologie lernten, nicht dazu diente, die Gesellschaft zu erkennen und zu verändern, sondern sie zu kontrollieren und zu manipulieren. In diesem Prozeß entdeckten sie die revolutionäre Soziologie. Sie verweigerten sich dem für sie vorgesehenen Platz in der großartigen bürokratischen Pyramide, dem Platz der 'Experten' im Dienste eines technokratischen Establishments, als Spezialisten des 'Faktors Mensch' in der modernen industriellen Gleichung. Sie entdeckten in diesem Prozeß die Bedeutung der Arbeiterklasse. Das Faszinierende ist, daß zumindest unter den aktiven Schichten der Studenten diese 'Sektierer' zur Mehrheit wurden: letzteres ist sicherlich die beste Definition jeder Revolution.

Diese zwei verschiedenen Ansätze der 'Kritik' am modernen französischen Bildungssystem neutralisierten sich nicht gegenseitig. Im Gegenteil schafft jeder Ansatz seine eigene Art von Problemen für die Autoritäten der Universität und für die Beamten des Erziehungsministeriums. Wichtig aber ist, daß der eine Ansatz, den man den quantitativen nennen könnte, mit der Zeit mit der modernen bürokratischen Gesellschaft vereinbar ist. Der andere - qualitative - Ansatz niemals. Das gibt ihm die revolutionären Möglichkeiten. Für die Machthaber ist der "Ärger mit den Universitäten" nicht, daß kein Geld mehr für Lehrer da ist. Das ist vorhanden. Der "Ärger" besteht darin, daß die Universitäten voll mit Studenten sind - und diese haben ihre Köpfe voll mit revolutionären Ideen.

Diejenigen, mit denen wir sprachen, waren sich vollkommen bewußt, daß das Problem nicht im Quartier Latin gelöst werden konnte. Die Isolierung der Revolte in einem studentischen 'Ghetto' (selbst wenn es ein 'autonomes' ist) würde die Niederlage bedeuten. Sie erkannten, daß die Rettung der Bewegung in ihrer Ausdehnung auf andere Teile der Bevölkerung lag. Aber hier tauchten große Unterschiede auf. Denn einige redeten von der Bedeutung der Arbeiterklasse und ersetzten so eigenes Handeln und Kämpfen. Damit entschuldigten sie die Diffamierung der studentischen Kämpfe als 'abenteuerlich'. Doch war es gerade die durch die studentische Aktion hergestellte unvergleichliche Militanz, die die direkte Aktion zum Tragen gebracht hat, die angefangen hat, junge Arbeiter zu beeinflussen und an den etablierten Organisationen zu rütteln. Andere Studenten sahen die Verbindung dieser Kämpfe klarer. Wir werden sie später in Censier sehen, wo sie ein Aktionskomitee von Arbeitern und Studenten initiieren.

Doch für jetzt genug über das Quartier Latin. Die Bewegung hat sich längst über seine engen Grenzen ausgeweitet.