Maurice Brinton
MAI 68
Die Subversion der Beleidigten

MaD Flugschrift


EINLEITUNG

Dies ist ein Augenzeugenbericht aus dem Zeitraum zweier Wochen Paris im Mai 1968. Er gibt das wieder, was eine einzelne Person in einer kurzen Periode sah, hörte und entdeckte. Der Bericht erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Er wurde in Eile geschrieben und hergestellt; sein Anspruch ist eher die Information als die Analyse - vor allem schnell zu informieren.

Die Ereignisse in Frankreich haben eine Bedeutung, die die Grenzen des modernen Frankreichs weit überschreitet. Sie werden in der Geschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert einen tiefen Einschnitt hinterlassen. Die französische bürgerliche Gesellschaft ist in ihren Grundfesten erschüttert worden. Wie auch immer der gegenwärtige Kampf ausgehen wird - die politische Landschaft der westlichen kapitalistischen Gesellschaft wird nie mehr dieselbe sein. Eine ganze Epoche findet hier ihr Ende: die Epoche, während der man mit scheinbarer Berechtigung sagen konnte, daß "so etwas hier nicht passieren könne". Eine andere Epoche beginnt: die, in der die Menschen w i s s e n, daß die Revolution unter den Bedingungen des modernen bürokratischen Kapitalismus möglich ist.

Auch für den Stalinismus endet eine Periode: die Zeit, in der die westeuropäischen KP's für sich beanspruchen konnten (zugegebenermaßen mit schwindender Glaubwürdigkeit), daß sie revolutionäre Organisationen geblieben seien und sich nur die Gelegenheiten zur Revolution nicht ergeben hätten. Diese Behauptung ist nun unwiderruflich auf den sprichwörtlichen 'Misthaufen der Geschichte' gefegt worden. Als alles am Auseinanderbrechen war, erwiesen sich die KPF und die von ihr beeinflußten Arbeiter als die letzte und wirkungsvollste 'Bremse' der Entwicklung der revolutionären Selbstaktivität der Arbeiterklasse.

Eine umfassende Analyse der französischen Ereignisse muß irgendwann versucht werden, denn ohne ein Verständnis von der modernen Gesellschaft wird es niemals möglich sein, sie bewußt zu verändern. Aber diese Analyse muß noch eine Weile warten, bis sich die Aufregung etwas gelegt hat. Was heute schon gesagt werden kann, ist, daß wenn diese Analyse aufrichtig durchgeführt wird, viele 'orthodoxe' Revolutionäre gezwungen sein werden, eine Menge traditioneller Ideen, Parolen und Mythen wegzuwerfen. Sie werden gezwungen sein, die gegenwärtige Realität - insbesondere die des modernen bürokratischen Kapitalismus, seiner Dynamik, seiner Kontrollmethoden und Manipulation, die Gründe für seine Flexibilität wie auch für seine Zerbrechlichkeit und ganz besonders die Natur seiner Krisen - neu einzuschätzen. Konzepte und Organisationen, die sich als unzureichend erwiesen haben, müssen verworfen werden. Die neu aufgetretenen Erscheinungen (neu als solche oder neu für die traditionelle revolutionäre Theorie) müssen ihrem Wesen nach und mit allen ihren Implikationen erkannt werden. Die r e a l e n Ereignisse von 1968 müssen dann in ein neues Ideengebäude integriert werden. Ohne diese E n t w i c k l u n g revolutionärer Theorie wird keine E n t w i c k l u n g revolutionärer Praxis stattfinden - was langfristig hieße: keine Veränderung der Gesellschaft durch das b e w u ß t e Handeln der Menschen.