Aus: Extra-Dienst v. 11. und 14.12. 1968

REPUBLIKANISCHER CLUB
ÜBER DEMONSTRATION UND GEWALT


  • Am vergangenen Freitag (6.12.1968 - d. trend-Säzzer) stellte der Vorstand des Republikanischen Clubs Westberlin eine Erklärung zur Demonstration des 4.November vor dem Landgericht am Tegeler Weg zur Diskussion. Aus einem Tonbandmitschnitt der Diskussion veröffentlicht EXTRA-Dienst in dieser und der folgenden Ausgabe wesentliche Auszüge, wobei nur Wiederholungen weggelassen, die in freier Rede unvermeidbaren sprachlichen Unebenheiten der Authentizität wegen jedoch mitdokumentiert werden.

HUFFSCHMID: Nevermann und Kadritzke schreiben in ihrer Stellungnahme zur Club-Erklärung über die Aktion am Tegeler Weg: "Die Forderung des Vorstandes, die Aktion vom Montag sei im nachhinein als Teil des Klassenkampfes zu vermitteln, ist urisinnig. Eine Diskussion hätte ja erst zu erweisen, ob diese Aktion als Beitrag zum Klassenkampf überhaupt anzuerkennen ist." Ich finde diesen Satz sehr problematisch. Eigentlich ist er symptomatisch dafür, daß Ihr die gegenwärtige Situation aus einer Perspektive interpretiert, die möglicherweise Ostern oder noch am l.Mai eine gültige Perspektive, eine Perspektive mit Wahrheitsgehalt war, die aber heute einfach nicht mehr anzuwenden ist. Ich meine, wir müssen uns in diesem Zusammenhang, weshalb das nicht mehr der Fall ist, einmal kurz vor Augen führen, was denn seit dem l. Mai oder seit Ostern mit der APO passiert ist. Was die bürgerliche Presse als Verschwinden, als Tod der APÜ bezeichnet hat, ist zwar nicht wahr, aber es hat sich gezeigt, daß ganz bestimmte strukturelle Wandlungen mit der APO in diesen sechs Monaten vor sich gegangen sind. Strukturelle Wandlungen, die sich darin zeigen, daß wir z. B. seit dem ersten Mai eine große Massenmobilisierung, wie wir sie vorher sehr oft gehabt haben, einfach nicht mehr hingekriegt haben. Das ist, glaube ich, nicht ganz zufällig so. Die APO, die nach dem l. Mai verschwunden sein soll, hat sich - wenigstens die Hauptkader - in eine völlig andere Art von Aktivität hineingegeben. Sie hat die Kritische Universität verlassen und hat ad-hoc-Gruppen gebildet, sie hat die Studentenverbände verlassen und hat Basisgruppen gemacht. Sie hat die großen Massenkampagnen verlassen und hat Berufsgruppen gebildet, wie das z. B. im Club der Fall ist. Wenn das aber so ist, dann ist es nicht mehr möglich, jetzt im vorhinein verbindlich zu bestimmen, was als ein Beitrag zumKlassenkampf erkannt werden kann. Und es ist noch weniger im nachhinein durch Gruppen möglich, die an einer ganz bestimmten Aktion nicht wochen- und monatelang vorbereitend tätig gewesen sind. Ich glaube, wir müssen da ganz realistisch davon ausgehen, daß die Basisgruppen heute das Gefühl haben, daß sie Klassenkampf machen, und ich meine auch mit Recht; daß,   wenn sie Aktionen aus diesem Gefühl heraus machen, wir auf keinen Fall in der Weise mitSelbstkritik kommen können und sagen: Das war gar kein Klassenkampf, das war eine möglicherweise konterrevolutionäre Aktion. Die Selbstkritik ist in dem Augenblick einfach nicht möglich, wo die Leute, die Selbstkritik üben sollten, und das wären nach Eurer Forderung ja alle hier gewesen, einfach bei der Vorbereitung solcher Aktionen nicht in dem Maße beteiligt waren, wie es die Hauptaktivgruppen gewesen sind. Es kann im nachhinein jetzt höchstens darauf ankommen, eine gewisee Kritik an solchen Gruppen laut werden zu lassen. Diese Kritik müßte aber immer im Auge behalten, daß hier Gruppen mit dem Anspruch klassenkämpferischer Aktionen und nicht rein aktionistische Gruppen gehandelt haben und daß diese Gruppen ihre Aktion zwar mehr oder minder im kleineren Kreise vorher besprochen haben, daß aber der Inhalt der Aktion, nämlich die Verteidigung gegen die Klassenjustiz, doch wochenlang vorher in Veranstaltungen inhaltlich vermittelt und vorgestellt wurde. Da kann manjetzt nichthinkommen, wenn man an der Vorbereitung in keiner Weise beteiligt war, und sagen: Das war überhaupt kein Klassenkampf. Ich finde eine solche Kritik sehr abstrakt und eigentlich auch illegitim.

KADRITZKE: Ich glaube, daß wir zunächst zwei Aspekte trennen müssen. Nämlich den Aspekt der immanenten Selbstkritik und den Aspekt der offiziellen, der liberalen Presse gegenüber vollzogener Kritik und distanzierender Erklärungen. In diesem letzten Punkt möchte ich eine ganz klare Erklärung abgeben. Sie betrifft den SHB, dem immer wieder zu Recht vorgeworfen wird, daß er sich vorschnell nach außen hin distanziert hat. Vielleicht ist nicht bekannt, wie das zustandegekommen ist. Das war nämlich keinVorstandsbeschluß, sondern ein ad-hoc-Beschluß jener SHB-Mitglieder, die am Montag in der TU-Diskussion selbst dabei waren und die jetzt weniger über die Aktion vor dem Landgericht entsetzt waren, die vor allem über die Diskussion am Montag so verstört waren, daß sie gar keine Möglichkeit - psychologisch gesehen - mehr sahen, hier noch etwas vorbringen zu können, was zu einer nochmaligen substantiellen Diskussion der Sache führen konnte, als offiziell Stellung zu nehmen. Ich finde dieses Verfahren falsch, auch aus innerverbandlichen Gründen, und kann jetzt vorlesen, was der SHB jetzt korrigierend zu dieser Sache erklärt hat. Er hat nämlich die "Presseerklärung einiger Genossen kritisiert, die sich für den Verband ausgaben. Statt zunächst die Diskussion in der APO zu suchen, wandten sie sich an die bürgerliche Öffentlichkeit und erleichterten damit den Herrschenden, Teile der APO zu kriminalisieren". Das ist eine gute Stellungnahme, die jetzt den Fehler korrigiert, den man zunächst gemacht hatte. Damit können wir dieses Thema beiseitelegen. Eine ganz andere Sache ist es aber, wenn Jörg Huffschmid uns über die Ablehnung nicht immanenter Kritik hinaus einreden will, daß Selbstkritik - so wie wir sie alle etwa im Mai noch praktiziert haben - unmöglich sein soll, und daß Selbstkritik nur denen überlassen bleiben soll, die eine Aktion konkret mitgetragen haben. Ich möchte darauf hinweisen, daß ein solches Prinzip besonders problematisch ist, wenn jetzt als Aktionsform gerade das Arbeiten in kleinen, konspirativen Gruppen kreiert worden ist, die mit Berufung auf die schon aus polizeitechnischen Gründen notwendige Verschwiegenheit sagen, wir müssen in kleinen Gruppen planen, handeln und dann wieder verschwinden - etwas, was an sich durchaus Sinn hat. Gerade dann darf allerdings Selbstkritik nicht aufgegeben werden. Sonst ist einfach zuviel Solidaritätsvorschuß an Gruppen gegeben, die tatsächlich Aktionen unternehmen könnten, die von der Mehrheit der APO als konterrevolutionär angesehen werden könnten, Denken wir nur, als ein kleines Beispiel, an diesen Pferdestall, von dem überhaupt niemand weiß, ob es überhaupt ein Linker war, der ihn angezündet hat. Obwohl das niemand weiß, hat man in der TU lauthals bejubelt, daß dieser Pferdestall angezündet worden ist. Wenn in München ein Gasrohrbruch ist und ich höre das im Radio, denke ich immer, da haben wieder Freunde zugeschlagen, und nachher kann es sich rausstellen, daß das wirklich ein Gasrohrbruch ist. Es könnte aber sein, daß da inzwischen schon jemand eine Stellungnahme dazu abgegeben und das begrüßt hat im Namen der APO - das ist nicht mehr ausgeschlossen. Ich weise auf ein sehr viel konkreteres Beispiel hin, daß nämlich von Teilen des SDS das Prinzip des individuellen Psychoterrors verkündet wird, das kann man ja schon konkretisiert sehen in den Äußerungen des Genossen Pawla vor Gericht, wo er ganz klar gesagt hat, man müsse den Kindern von Richtern die Hälse durchschneiden und ihre Frauen schänden. Es ist doch eine Selbstverständlichkeit, daß sich durch eine solche Äußerung die APO nicht verpflichtet sieht. Wo kämen wir hin, wenn sich in solchen Situationen das Prinzip durchsetzen würde, daß Selbstkritik ausgeschaltet sein soll, weil man an solchen Aktionen nicht konkret teilgenommen hat und wenn man es nur denen überläßt, sich in solchen Diskussionen als revolutionär auszuweisen, die die Aktionen selbst durchgeführt haben.

S. EHRLER: Wir sollten dieses Problem weißgott nicht bagatellisieren. Wir sehen durchaus, gerade nach der TU-Veranstaltung, auch die Gefahr, daß kleine Gruppen, die übrigens nicht Teil des SDS sind, sondern die sich außerhalb der Gesellschaft befinden und in Kommunen leben, dort besondere Schwierigkeiten in der Vermittlung erleben und von daher zu solchen anarchistischen Aktionen kommen. Das sehen wir, aber unser Problem ist, daß wir - glaube ich - doch eine neue Qualität der politischen Arbeit erreicht haben, daß nämlich genau das nicht mehr funktioniert, daß nach stattgefundenen Aktionen nachträglich diskutiert wird über neue Strategien, sondern daß man zu einer neuen Form von Öffentlichkeit kommen muß, die von den Basisgruppen selbst auszugehen hat und von den Leuten, die in entsprechenden anderen Gruppen arbeiten, so daß der Ausgangspunkt also ein anderer werden muß: Nicht die nachträglich im wesentlichen von außen her vollzogene Kritik und Diskussion, sondern die Überlegung darüber, wie man eine neue Art von Öffentlichkeit in einer neu strukturierten APO herstellen kann und wie man dort Diskussionen vermitteln kann, die dann eine verbindlichere Strategie ermöglichen, als es zur Zeit der Fall ist. Ich glaube, daß der Lernprozeß in den Basisgruppen selbst genau in diese Richtung läuft. Unsere Kritik läßt sich aber nicht dadurch vermitteln, daß wir nun zu den Basisgruppen hingehen und ihnen das erzählen, sondern daß wir selber sozusagen Teile dieser Basisgruppen werden und mit ihnen gemeinsam diese Art von Strategie entwickeln.

NEVERMANN: Es ist völlig richtig, daß wir nicht zu den Basisgruppen hingehen können und sagen, hier haben wir den Stein der Weisen, Nur würde ich meinen, daß es innerhalb der verschiedenen Gruppierungen der APO möglich sein muß, wenn irgendwelche Aktionen stattgefunden haben, daß dann in diesen Gruppen unabhängig davon, ob man beteiligt gewesen ist, eine Kritik stattfinden können muß. Das ist einfach eine Notwendigkeit, wenn die strategische Diskussion in der APO mit einer gewissen Verbindlichkeit geführt werden soll. Was mich nun aberjenseits dieser organisatorischen Fragen interessieren würde, ist die Diskussion über die inhaltlichen Probleme, nämlich: was dafür spricht, eine positive Haltung gegenüber den Aktionen vor dem Landgericht einzunehmen. Ich möchte aber vorher noch etwas einschieben. Wenn jetzt gesagt worden ist, daß der psychische Terror nur von irgendwelchen kleinen Gruppen gemacht wird, die nicht zum SDS zählen, so ist das leider nicht richtig. Denn der SDS hat in seiner Stellungnahme im FU-Spiegel durchaus auf die Notwendigkeit und auf die Legitimität von Psychoterror hingewiesen und zwar mit der etwas merkwürdigen Argumentation, daß man damit liberale und reaktionäreRichter trennen könne und somit bessereAusgänge der einzelnen Prozesse erreiche. Ich meine, wir müssen in unserer Diskussion Wege finden, daß solche Entwicklungen verhindert werden, die ich für außerordentlich falsch und gefährlich halte.

SCHMIDT: Meine grundsätzliche These ist, daß die Aktion vom Tegeler Weg leider ungerechtfertigt überbewertet worden ist. Das sowohl negativ wie positiv. Das begann damit, daß Semler am Mittag desselben Tages sagte, wir hätten eine neue Qualität der Militanz erreicht, und die gelte es jetzt aktiv in diesen Kampf für die künftige Strategie einzubringen. Das war das Signal für eine Fülle von unglaublich stark aufgebauschten theoretischen Überbauten zu dieser Aktion, die sie überhaupt nicht trug. Ich meine tatsächlich, daß wir das ganze Phänomen Landgerichts-Aktion auf das reduzieren sollten, was sie ihrem ganzen Ablauf nach gewesen ist. Es ist ja schon so vieles Praktische darüber geschrieben worden, wie das im einzelnen ablief, daß jedem wohl in Erinnerung ist, daß es sich im Grunde genommen wohl um zwei Phasen handelte. In der ersten Phase war tatesächlich der Angriff bei der Polizei sehr stark und aggressiv militant. Der Einsatz vonWasserwerfern erfolgte in wenigen Minuten nach dem Ansturm, der Einsatz des Tränengases auch wenige Minuten darauf, und wenige Minuten später bereits der Einsatz der berittenen Polizei. Es sind währenddessen Steine geworfen worden, schon als Antwort darauf. Aber die Aktion in dieser engen Straße hatte so eine scharfe Zuspitzung innerhalb sehr kurzer Zeit erreicht, daß sich anschließend die Aktion im Tegeler Weg wesentlich aus dieser psychischen Situation der Demonstranten erklärt, die sich eben in den Auseinandersetzungen in der Osnabrücker Straße gebildet hatte. (. . . )Der entscheidende Fehler in der Diskussion ist nun, daß diese gesamte Auseinandersetzung vor dem Landgericht einen solchen Stellenwert erreicht hat. Eine solche neue militante Phase ist es letztlich doch nicht. Steine sind früher auch geworfen worden, und jetzt sind sie eben vielleicht nur vermehrter gefallen. Ich billige deshalb grundsätzlich nach wie vor auch diese Aktion, ohne daß ich deshalb wesentliche Bedenken, die Kadritzke und Nevermann formuliert haben, für gegenstandslos halte. Viele dieser Punkte sind überhaupt noch nicht berührt worden, und darüber müßte jetzt tatsächlich die Diskussion geführt werden. Welchen Stellenwert zum Beispiel ein Plakat hat "Bendas Haus in Flammen". Ich persönlich finde die Zurschaustellung eines solchen Plakates mindestens sehr problematisch, weil viele nachher auch eine Tat daraus ableiten, die andere bloß in Distanz oder Ironie oder wie auch immer beim Anblick eines solchen Plakats gespürt haben mögen. Das heißt, daß die Distanzierung oder Differenzierung bei solchen Symbolen bei Leuten mit einem bestimmten Bewußtsein erfolgt, bei anderen aber nicht erfolgt. Und wenn da keine öffentliche Distanzierung erfolgt, dann gibt es einen nahtlos kurzgeschlossenen Handlungsweg, der nicht im Sinne derer sein kann, die sich während einer solchen Situation vielleicht differenziert zustimmend verhielten. Und nun noch einen letzten Punkt: Sowohl Lehrstücktheorie wie Klassenkampfthese sind nach meiner Ansicht nicht so wesentlich zur Beurteilung dieser Aktion, weil Gruppendiskussionen, die bei einem Seminar mit Arbeitern durchgeführtwurden - die sind allerdings noch nicht ausgewertet, ich habe nur einen ersten Eindruck davon - gezeigt haben, daß die Aktion vom Tegeler Weg mäßig Eindruck gemacht hat, wenigstens bei den Arbeitern, die noch ein verhältnismäßig dichotomisches Gesellschaftsverständnis haben. Da war die Reaktion die: Wenn wir erstmal losschlagen, die Arbeiter, dann spielt sich noch ganz anderes ab. Das hat sie kaum beeindruckt, zumal die Älteren ja auch noch Erlebnisse aus der Weimarer Zeit hatten. In diesem Zusammenhang ist aber noch zu sagen, daß sie die Aktion der Studenten als eine rein studentische Aktion ansahen. Es war ihnen nicht zu vermitteln, daß sich die Justiz hier qua Staatsapparat in Gegnerschaft zu den Abhängigen befindet. Dieser Vermittlungsweg ist ihnen nicht klar. Ihre Interessen sind nur direkt vermittelbar über die Probleme am Arbeitsplatz, über die Probleme, die über den Produktionsprozeß selbst artikulierbar sind. Das ist das Fazit aus diesen Gruppendiskussionen. (...)

EHRLER: In der Tat ist es so, daß die Aktion am Tegeler Weg nicht in der Form, in der sie abgelaufen ist, geplant war. Dafür gibt es auch Beweise. Es war keine Steinwurfaktion geplant, es war geplant, mit Farbeiern zu werfen, darüber wurde auch ein Film vorgeführt. In der Tat ist das Werfen von Steinen nur zu erklären aus dem Verlauf der Aktion selbst und nicht aus einer vorher gemachten Planung. Aber dennoch meine ich, müßte man auch dann, wenn die Demonstranten es vorher nicht geplant hatten, zugeben, daß mit dem gewaltsamen Widerstand eine neue Qualität erreicht worden ist. Ich meine nicht, daß man dieses Phänomen einfach herunterspielen kann. Ich meine, daß man dieses Phänomen, so gefährlich es ist, wenn man es jetzt einfach strategisch isoliert und zum Konzept künftiger Aktionen macht, daß man es dennoch als ein sozial-psychologisch emanzipatorisches Phänomen analysieren müßte. Marianne Regensburger hat dagegen erklärt, daß die Ermordung von Faschisten 1945 in den westeuropäischen Ländern überhauptl keine anderen Konsequenzen hinterlassen habe als die stille, feige Duldung der Faschisten bei uns in der Bundesrepublik. Und das, meine ich, stimmt eben nicht. Sie hat gesagt, es habe auch nichts daran geändert, daß wir dort dieselben Verhältnisse hätten wie hier. Hier liegt, meine ich, eine Verwechslung vor mit dem Wiederaufbau sozialökonomischer, kapitalistischer Strukturen; es wird nicht erkannt, daß wir in den westeuropäischen Ländern völlig unterschiedliche Klassenkampfsituationen haben als in der Bundesrepublik. Hier könnte man das von Marx geprägte Wort anführen, der davon gesprochen hat, daß eine Revolution, auch eine, die nicht erfolgreich ist, dennoch die Feigheit ganzer Generationen auslöschen kann. Ich meine, in Deutschland müßten wir schon darüber diskutieren, wo in einer ganz anderen Weise obrigkeitliche Gewalt verinnerlicht worden ist, ob nicht in ganz kleinem Raum und in einer ganz kleinen Aktion, die nur erste Ansätze zum gewaltsamen Widerstand gezeigt hat, ob nicht da diese emanzipatorischen Ansätze von Gewalt realisiert worden sind.

SÖRGEL: In unserer Erklärung schreiben wir: Ob dieser Kontext in ausreichendem Maß vor der Aktion hergestellt und einsichtig gemacht worden ist, ob die Justizkampagne unter diesem unverzichtbaren Aspekt überhaupt der richtige Ansatzpunkt ist, darüber gibt es allerdings auch bei uns geteilte Meinungen. Natürlich sind auch wir der Meinung, daß ein Betriebsratsvorsitzender, der wegen guter Behandlung der Arbeitnehmer gefeuert worden und dann vor Gericht gekommen wäre, und wenn dann Jungarbeiter zusammen mit Studenten protestiert und dann mit Steinen geworfen hätten, daß das ein besseres Lehrstück gewesen wäre. Das wäre dann auch schon mehr gewesen als ein Lehrstück, das wäre ein direkter Klassenkampf gewesen. Nur: Wir müssen uns über die Nachdemonstrationen nach dem Tegeler Weg noch einmal genauer unterhalten, daß - wenn wir auf Jungarbeiter einreden und sagen: Paßt auf, schaut mal an, wie wir das machen; Ihr laßt Euch mit demBegriff Sozialpartner verkackeiern und laßt Euch alles gefallen, wir gehen hin vor das Landgericht und wir solidarisieren uns mit einem Anwalt, der uns verteidigt - , daß dieses Moment, dieser Punkt überspringen könnte und daß in ähnlichen Situationen die Arbeiter das gleiche machen, das scheint mir eine Theorie, die jetzt nicht so einfach weggewischt werden kann, indem man sagt: Naja, aber das war jetzt eine Aktion, die sehr schlecht vermittelt war, das ist ganz klar. Mir ist das absolut nicht klar.

SCHWENGER: Das ist doch gar nicht die Frage. Niemand kann eine andere Gruppe der APO dazu verpflichten, an Kampagnen teilzunehmen, die nicht ihre Kampagnen sind. Wollt Ihr vielleicht bestreiten, daß an dieser Aktion vor dem Landgericht viele Gruppen eben nicht teilgenommen haben? Fragt Euch doch einmal, warum alle diese Gruppen, die sich auch heute noch zur APO zählen - die sind nicht einfach zum Klassenfeind abgewandert - , vor dem Landgeeicht nicht mit dabei waren, Und da muß man sich doch dann fragen, liegt darin nicht eine Kritik solcher Aktionen, wie sie dort und früher stattgefunden haben? Wie, wenn diese Gruppen nicht an solchen Aktionen teilnehmen, dafür aber andere Aktionen machen? Dann können diese Gruppen das, was dort geschehen ist, doch trotzdem kritisieren, denn auch sie wollen den Klassenkampf, nur an anderem Ort und mit anderen Mitteln. Ich sage einfach, es ist ein schlechtes Argument zu verlangen, diese Gruppen müssen sich jetzt in die begeben, die dort gehandelt haben, denn diese anderen Gruppen tun ja auch noch was. Der Klassenkampf wird ja nicht nur vor dem Berliner Landgericht geführt.

WETHEKAM: (...) Ich glaube, dieser Herr geht aus von einem totalen Mißverständnis derjenigen Gruppen, die heute in der sozialistischen Opposition noch konkrete Politik machen. Was für ein Kreis von Leuten war es denn, die dort demonstriert haben? Es war eben nicht eine benennbare Gruppe, etwa der SDS oder etwa der Republikanische Club, sondern da waren sowohl FDP- Mitglieder wie SDS- Mitglieder wie LSD- Mitglieder. Und alle, die ich gesprochen habe und die an dieser Aktion teilgenommen haben, und die vorher schon konkret in Justizfragen mitgearbeitet hatten, die hatten eine unwahrscheinlich konsistente Meinung zu dieser Aktion. Es handelt sich also nicht mehr um ein Problem der herkömmlichen Gruppen, sondern um ein Problem der konkreten Arbeit innerhalb der Justizkampagne.

HUFFSCHMID: Ich finde, wir müssen zugeben, daß möglicherweise von beiden Seiten ein bißchen hoch gepokert worden ist in der Einschätzung dieeer Aktion. Nur halte ich es für falsch, zu den Basisgruppen hinzugehen und zu sagen: Leute, wir müssen Kritik üben, das war kein Klassenkampf. Ich halte es allein für legitim, wenn man gleichzeitig sagt: Wie kann das, was da gemacht worden ist und was weiter gemacht werden soll, Beitrag zum Klassenkampf werden und wie wird es das nicht, wenn es etwa in so oder solch eine Richtung geführt wird. Und gerade im Hinblick auf den Psychoterror, den ich für eine unpolitische Sache halte, wäre es wichtig für uns, jetzt nicht hier vom Katheder zu verkünden, Psychoterror ist kein Beitrag zum Klassenkampf, sondern jetzt zu versuchen, in die Basisgruppen hineinzugehen und mit denen zu diskutieren und sie zu der Einsicht zu brin¦n, daß Psychoterror wirklich keine politische Funktion in der gegenwärtigen Situation hat.

SCHWENGER: Ich halte die Aufforderung, diese Kritik, die man jetzt anzubringen hat, in den Basisgruppen durch Beteiligung an deren Praxis anzubringen, für problematisch. Um das zu verstehen, muß man sich die Frage vorlegen, in wessen Namen wird hier Klassenkampf eingeleitet. Im Namen der Arbeiterklasse. Also müßten die Dikussionen eigentlich in der Öffentlichkeit der gesamten Klassen geführt werden. Nun kann man sich darauf einlassen, daß man sagt, es sind in diesem Moment nur Teile, die kämpfen, d. h. also im wesentlichen die Außerparlamentariache Opposition. Aber auch die besteht ja nicht aus der Gruppe, die diese Aktion am Tegeler Weg als Teil des Klassenkampfes versucht hat; sondern sie besteht auch aus zahlreichen anderen Gruppen, die durchaus an ihrem Ausschnitt der Basis arbeiten, etwa die Studentengruppen an den Hochschulen, kirchliche Gruppen, oder Gruppen, die in irgendwelchen Berufsverbänden arbeiten, auch dort ist gesellschaftliche Basis. Sie tragen alle in ihrer Weise zum Klassenkampf bei und sie nehmen genauso an dieser Aktion, die eine andere Gruppe der APO vornimmt, Interesse insofern, als diese Aktion eine Aktion in demselben Kampf ist, den sie an ihrer Basis führen, nur mit anderen Mitteln, mit einer möglicherweise anderen Strategie. Deshalb halte ich es für ein ganz schlechtes Argument, wenn man denen jetzt sagt: Ihr wart nicht dabei, geht doch jetzt in die Basisgruppen, die diese Aktion gemacht haben, und nur dort dürft ihr Kritik üben. Selbstverständlich kann jede Gruppe, die sich der APO zugehörig empfindet und die meint, daß eie an ihrem Ort ihren Beitrag zum Klassenkampf leistet, Aktionen kritisieren, die andere Gruppen machen. Wir müssen dann nur wissen, daß die Situation im Moment so aussieht, daß die Verständigung der APO-Gruppen untereinander sehr viel schlechter ist als je und daß eine Öffentlichkeit, wie wir sie untereinander mal hatten für unsere Probleme, nicht mehr existiert. So kommt ea dann, daß diese Gruppen, die vor dem Landgericht alleine aktiv waren, alleine den Klassenkampf probierten, nun in Anspruch nehmen, als einzige den Klassenkampf voranzutreiben.

LANDSBERG: Ich glaube, wenn hier über den Tegeler Weg diskutiert wird, dann ist es richtig, daß wir anderen - also etwa die sozialdemokratischer orientierten Gruppen - unseren Praxisbegriff schildern müssen. Wir können nicht so tun, als ob unser Praxisbegriff unumstritten imRaum steht und als ob nur über den Praxisbegriff anderer innerhalb der APO zu streiten wäre. Wenn wir über die weitere strategische Arbeit diskutieren wollen, sollten wir die Kritik an den sozialdemokratischen APO-Mitgliedern aufnehmen, die in der vorletzten "Neuen Kritik" geliefert wurde. Dort wird darauf verwiesen, daß dis ganze Ausrichtung dieser Gruppierungen in ihrem Weg durch die Institutionen vorbegeht an der Verselbständigung der Sozialkonflikte innerhalb der ökonomischen Sphäre in den Einzelbetrieben. Meiner Meinung nach liegen hier Fehler zugrunde, nämlich der Fehler, daß man die jetzige wirtschaftliche Situation achlichtweg interpoliert auf eine Situation angespannter sozialer Lage und meiner Meinung nach dann auch die Gruppen innerhalb der Inatitutionen eine relevante Tätigkeit entfalten können. Das ist als Möglichkeit auch in der "Neuen Kritik" angesprochen worden. Die Praxis innerhalb der Institutionen kann heute nur eine vorbeugende sein. Heute ist auch sehr wohl die Grundlage unserer Arbeit in Basisprojekten zu sehen. Ich meine, wenn man hier zeitliche Bestimmungen setzt und wenn man versucht, Arbeit zu koordinieren, es dann sinnvoll wäre für den Republikanischen Club, die Basisleute und die Leute, die in den Institutionen arbeiten, hier tatsächlich kommunikativ zusammenzuführen.

EBERT: Hier ist vorhin das Wort Militanz gefallen, als eine gewise Steigerung der bisherigen Praxis. Ich glaube, daß hier einige Mißverständnisse vorliegen, weil man Militanz immer mit dem gleichsetzt, was am Tegeler Weg passiert ist. Ea gibt aber durchaus verschiedene Formen der Militanz. Ich würde zwei Eskalationsformen hier unterscheiden. Die erste ist, daß man den physischen Druck auf den Gegner verstärkt, daß man ihn alao einzuachüchtern versucht, indem man immer stärkere Kampfmaßnahmen ergreift, die zweite Form wäre, daß man den eigenen Einaatz und die eigene Opferbereitschaft verstärkt. Das führt mich hin zu zwei verschiedenen Wirkungaweisen und Aktionen. Ich glaube, darüber müssen wir uns im klaren sein, daß hinter diesen Diskussionen die Frage grundsätzlich verschiedener Strategien steht, daß wir immer wieder meinen, daß wir zwei verschiedene Dinge mischen können, die sich letzten Endes nicht mischen lassen. Wenn Sie eine Gesellschaft dadurch verändern wollen, daß Sie ihre Gegner einschüchtern, dann können sie ganz anders reagieren, als wenn Sie durch diese Mischung von Angebot einer funktionierenden Alternative und Druck die Möglichkeit geben, in ein anderes funktionierendes System einzusteigen, wo ihnen ein Platz zugesichert wird. Das sind wirklich zwei verschiedene Strategien, und beide Strategien haben ihre Formen. Wenn wir meinen, daß wir die Formen der gewaltsamen Aktionensateigern können, so müssen wir uns darüber im klaren sein, daß dann auch eine Eskalation der Repression eintreten wird. Seien wir uns im klaren, was dann passieren wird. Dann werden die Leute, die hier noch groß diskutieren, für ein oder mehrere Jahre ím Gefängnis sitzen, und dann ist einfach der Ofen aus. Dann werden nämlich nicht mehr tausend Leute, sondern noch sehr viel weniger zu dieser Geachichte kommen. Und dann bleibt uns nach einiger Zeit gar nichts anderes mehr übrig als der psychische Terror, der uns in den Untergrund führt, und dann ist natürlich auch nicht mehr sehr viel zu machen. Ich sehe im Grunde genommen in unserer heutigen Induatriegesellschaft gar keine andere Alternative, als daß wir tatsächlich diesen Weg der Steigerung unserer eigenen Opferbereitschaft und des Umfunktionierens des Systems gehen. Wer heute sagt, diese Aktion am Tegeler Weg war ¦innvoll, der müßte auch zeigen, wie sich diese Militanz noch weiter steigern läßt und wie er den Repressionen der Herrschenden letzten Endes standhalten möchte.

KADRITZKE: Ich glaube, daß es zumindest eine bedenkliche Erscheinung ist, wenn zumindest in Hinblick auf die Rechtfertigungsversuche für die Aktion am Tegeler Weg inzwischen eindeutig die individualpsychologischen Überlegungen dominieren auf Kosten der Strategischen. Ich beziehe mich auf die SDS-Stellungnahme, die leider nicht allgemein bekannt ist, wo völlig darauf verzichtet wird, die Lehrstücktheorie zu belegen und Argumente anzuführen, die dafür sprechen könnten, sondern wo allein daraufhingewiesen wird, daß es den Leuten, die dort handelten, gelungen ist, ihr bürgerliches Über-Ich zu verdrängen und endlich zu aubjektiv aufrichtigen Revolutionären zu werden. Ich glaube, es ist zu diskutieren, in welcher Weise jeweils in einer bestimmten Aktion die beiden Elemente des individualpsychologischen Bedürfnisses und der strategischen Zielfunktion gewichtet sind. Aber ich glaube, es ist ein nicht ernst genug zu nehmendes Indiz, wenn in einer bestimmten Aktion und in einer nachher darüber stattfindenden Diskussion so eindeutig das psychologische Moment dominiert. Ich sehe eine Riesengefahr, wenn gleichsam die psychologische Situation der Handelnden den Aktionsmöglichkeiten und den strategischen Möglichkeiten, die durch eine Aktion erst gegeben sind, so weit voraus ist, wie es meiner Ansicht nach in dieser Tegeler-Weg-Aktion der Fall gewesen ist; das bedeutet in Konsequenz eine vorzeitige Kriminalisierung der Gesamt-APO, die ich nicht wünschen kann. Das auch angeeichts der Tatsache, daß sich in solche Aktionen auch Leute aus wirklich durchdachten und psychologisch verständlichen Motiven stürzen, die sich über die Konsequenzen nicht im klaren sind. Ich würde meinen, daß man sich bei der gesamten Justizkampagne im klaren sein muß, daß eine Justizkampagne ihrem Wesen nach nicht offensiv sein kann, weil die letzte Attacke immer von der Justiz geritten wird. Die letzte Offensive endet irgendwann vor den Gerichtsschranken; das mag auch für die Fälle gel ten, die jetzt am Tegeler Weg fotografiert worden sind. Ich glaube, daß das in irgendeiner Weiae doch erkannt worden ist, denn ich habe von mehreren, die sich beteiligt haben, folgendes Argument gehört, das ihr eigenes Verhalten sehr infrage stellt: Sie haben nämlich versucht, diesen Lastwagen, der mit Steinen vorbeikam, irgendwie zu deuten als einen Trick der Polizei. Wenn ich das höre, daß jemand den Verdacht ausspricht,s daß da ein Laetwagen mit Steinen vorgefahren worden ist, so ist für mich das Faktum, daß er sich reinlegen ließ, daß er dieses Angebot, das ihm gemeinerweise gemacht wurde, Pflastersteine zur Hand zu haben, in unüberlegter Weise wahrgenommen hat. Wenn diese Beobachtung richtig ist, dann schlägt sich meiner Meinung nach hier ein schlechtes Gewissen nieder, eine im Grundsatz falsche Verhaltensweise in dieser Situation.

AGNOLI: Ich möchte auf den wichtigsten Gedanken von Ebert eingehen, nämlich, daß jede Offensive dem Gegner einen Platz zusichern muß in einer zukünftigen Gesellschaft. Als abatraktes Prinzip ist das sehr akzeptabel. In der Konkretheit der Situation scheint mir das daran zu acheitern, daß zum Beispiel der Platz, den die APO Kiesinger und Strauß und Flick in ihrer Geaellachaft zusprechen würde, von den Herren gar nicht akzeptiert wird. Das heißt also, eine gewise Form der Repression wird diesen Herren gegenüber notwendig sein. Jetzt zu dem Punkt, ob da tatsächlich ein Beitrag zum Klassenkampf geleistet worden ist. Zunächst scheint mir, daß hier ein sehr abstrakter, ein historischer Begriff von Klassenkampf vorhanden ist. Man geht davon aus, daß Klassenkampf schon präsent wäre in der Bundesrepublik und daß er immer auch bestimmte klassische Formen annähme. In der Bundesrepublik und Westberlin geht es doch um anderes: Erst einmal die Bedingungen zu schaffen, die tatsächlich erst einmal zur Bewußtmachung des Klassenkampfes führen. Wir müssen, nicht im Sinne einer nachträglichen psychologischen Rationalisierung, sondern im Sinne der Interpretation auch für die zukünftige strategische Linie uns überlegen, inwiefern das, was am Tegeler Weg geschehen ist, den zwei Punkten dieser Strategie gerecht wurde. Erstens: Konfliktsituationen bewußt zu machen. Obwohl ich den Anlaß Mahler für ungeeignet halte, besteht selbst da die Möglichkeit, daß daran bestimmte Konfliktsituationen in unserer Geaellschaft bewußt gemacht werden. Das ist die eine Seite. Die andere Seite: Wir leben in einer Gesellschaft, in der Distanzierungen deshalb gefährlich sein können, weil sie nicht nur von der bürgerlichen Presse benutzt werden, sondern hinter dieser Distanzierung von physischer Gewaltanwendung gegenüber der Polizei kann ein psychischer Mechanismus tätig werden, an dessen Ende genau das steht, was wir in Deutschland wieder zerschlagen müssen: Nämlich der Gedanke, daß nur die staatliche Gewaltanwendung legitim ist. Wir dürfen nicht vergessen, daß am Tegeler Weg einer der interessantesten und schwerwiegendsten deutschen Tabus gebrochen wurde, daß nämlich Demonstranten in Deutschland nie militant werden dürfen gegen die Polizei. Es ist für mich gar keine Frage, daß darin ein Beitrag zum Klassenkampf besteht.

NEVERMANN: Man darf nicht die mögliche Folge einer Aktion mit dem verwechseln, was wirklich vorgegangen ist bei dieser Aktion. Wenn Du das Argument bringst, das i dieser Tat eine Rechtfertigung sein könnte für den 4. November, daß jemandem gezeigt worden ist, daß Demonstranten Gewalt anwenden dürfen, dann müßtest Du den Adressaten nachweisen können.

AGNOLI: Ich habe den Adressaten genannt und ich gehöre nicht zu den Marcuse-Anhängern, die glauben, diesen Adressaten gäbe es in Deutachland nicht mehr. Daß die Arbeiter voll integriert seien: es ist nicht so. Es spielt sich etwas sehr eigenartiges ein. Jedesmal, wenn in den Zeitungen steht, daß Terror angewendet wurde - und die erste Schlagzeile "Das ist Terror" kam interessanterweise bei den sechs Eiern auf das Amerikahaus - jedesmal ist bei uns die Diskuasion losgegangen: Auf diese Weiae werden wir unsere Basis nie erweitern, wir haben uns isoliert von der Bevölkerung. Es hat sich gezeigt, daß bei den sich entwickelnden objektiven Zuständen diese Isolierung gar keine Isolierung mehr war. Das heißt, wir sehen die Frage, ob wir uns isolieren, immer nur von den Methoden her, ohne zu berücksichtigen, daß die objektive Lage sich ändern kann. Es hängt doch letzten Endes nicht von unserem Willen ab, ob die objektive Lage sich verändert.

SCHWENGER: Das scheint mir eine sehr trübselige Perspektive auf die Wirksamkeit unserer Arbeit zu sein, die der Genosse Agnoli eben gegeben hat. Will er sagen, daß die Chancen zur Gewinnung einer Massenbasis gar nicht in der Richtigkeit und Qualität unserer Aktionen liegt, sondern allein in der Gunst oder Ungunst der objektiven Lage? Damit könnte man sich dann alle Überlegungen sparen, warum unsere Basis heute schmaler geworden ist als sie es vor einem halben Jahr war. Man kann dann sagen, die objektiven Verhältnisse, die waren einfach nicht so. Unsere Aktionen waren ganz richtig, bloß die Massen waren nicht dafür. Diese Überlegung verkennt meiner Ansicht nach, daß wir durch richtige Strategie, die eben gerade auf die zur Zeit ungünstige objektive Lage reflektiert und die wenigen vorhandenen Ansatzpunkte richtig aufgreïft und ins Bewußtsein hebt, sehr wohl unsere Massenbasis gezielt erweitern können. Das heißt, wir sind nicht willkürlich abhängig von der objektiven Lage, wir verändern sie auch durch richtige Aktionen. Wenn das Klassenbewußtsein bei der Masse der Arbeiterschaft zur Zeit nicht vorhanden ist, so können wir sein Entstehen durch unsere Aktionen durchaus fördern. Ob die Aktion vor dem Landgericht dazu dienen konnte: das ist die Frage.

HUFFSCHMID: Es gibt das Problem, daß wir in der APO ganz verschiedene Gruppen haben, die Schwenger hier aufgezählt hat, und die alle von ihrem Selbstverständnis her Klassenkampf machen, also zunächst einmal als solidarische Gruppen angesprochen werden müssen. Diese verschiedenen Gruppen entwickeln in ihrer internen Diskussion versachiedene Ansichten darüber, welche Aktionen durchzuführen sind, welche Kampagnen sinnvoll sind und welche nicht. Nun wird also die Diskussion über sinnvolle Klassenkampfaktionen in diesen Gruppen geführt, zweitens auch noch zwischen verschiedenen Gruppen. Jetzt ist doch die Frage und das Problem, daß über den Sinn und den Klassenkampfcharakter bestimmter Maßnahmen bei verschiedenen Gruppen unter Umständen kein Konsens erzielt werden kann. Wie es mir bei der Landgerichtsaktion zu sein scheint. Die Gruppen, die das gemacht haben, waren der Ansicht, daß das ihre Kampfkraft stärkt und daß das eine gewisse Emanzipation mit sich bringt, insofern also auch schon ein Element des Klassenkampfes enthält. Andere Gruppen meinen, daß es so nicht geht, daß man die Basis schmälert, daß es zur Brutalisierung der Polizei beiträgt usw. Unser Problem ist nun wirklich, wie kriegt man diese Gruppen zu einer Kommunikation, die sich nicht im Distanzieren erschöpft, die sich auch nicht in einer nachträglichen, folgenlosen Kritik erschöpft. Denn es ist eine Tatsache: Die Gruppen, die diese Aktion gemacht haben, stehen zu ihr und lassen sich nicht davon abbringen, daß diese Aktion Klassenkampfcharakter gehabt hat. Wir zweifeln daran, Ihr seid davon überzeugt, daß es nicht so gewesen ist. Jetzt taucht genau das Problem auf, was macht man in einem solchcn Augcnblick. Und da meine ich: Da geht eben das Gebot der Solidarität mit selbständigen Gruppen, auch wenn der Konsens nicht erzielt werden kann, vor einer Kritik oder einer Diatanzierung. Diese Kritik kann zwar geäußert werden, wir müssen uns aber darüber im klaren sein, daß diese Kritik relativ folgenlos ist. Daß wir aber - und das ist jetzt an der Tagesordnung - Aktionen und Kampagnen finden müssen, über die dieser Konsensus in höherem Maße herzustellen ist als es bei dieser Aktion der Fall gewesen ist.

SCHMIDT: Das Problem liegt doch darin, daß die Justiz als Element kapitalistischer Herrschaftstrukturen zum erstenmal in überschaubaren Zeiträumen, jedenfalls einschließlich derWeimarer Republik zumObjekt von direkten Aktionen gewordcn ist. Selbst in der Weimarer Zeit hat die Justiz immer noch von dem Mythos Dritte Gewalt gezehrt und bloß verbale Angriffe hinnehmen müssen. Das Bewußtsein davon, daß dic Justiz ein Element und ein funktionierendes Element dieses Herrschaftsapparates ist, ist bis heute immer noch nicht ins Bewußtsein jener gedrungen, die für uns wichtig sind. Da möchte ich auch noch einmal auf das Material von den Gruppen-Diskussionen verweisen, das mir zugänglich war. Das sind, wie gesagt, erste Eindrücke, eine Auswertung ist noch nicht erfolgt. Das waren zwei Gruppen, die eine waren Arbeiter von 25 bis 60. In der zweiten Gruppe, die ich bisher von den insgesamt sechs Gruppen kenne, wo Jungarbeitcr, Lehrlinge und einige Schüler dabei waren, ich glaube von 16 bie 25, da sieht die Sache ganz anders aus. Da hatte die Auseinandersetzung über den Tegeler Weg sehr polare Struktur. Da scheint es sich so zu verhalten, daß jene, die ohnehin mit Aggressionen gegenüber der APO geladen sind, das noch potenziert haben bis zum Verlust der Fähigkeit sich zu verbalisieren - das ist bloßes Stottern: Da müßte man ja doch Handgranaten reinwerfen usw. - und demgegenüber jene, die das tatsächlich als Lehrstück begriffen haben. Das scheint bei Jüngeren durchaus der Fall zu sein. Da müßte man ansetzen und hier auch weitersehen, was sich in diesem Zusammenhang ergibt. Es scheint, daß für die Jüngeren die Justiz noch nicht diese abstrakte, von bürgerlichen Vorurteilen vermittelte Position einnimmt, die nicht mehr zugänglich ist und darum auch nicht mehr durch Aktionen zu erschüttern ist. Das heißt, es gibt hier ein Patential, das für uns zu erobern ist und an dem wir doch weiter arbeiten müssen.

NEVERMANN: Ich bin der Meinung, daß es für das, was wir langfristig machen wollen, viel wichtiger und folgenreicher ist, sich über die Fehler klarzuwerden, als irgendwelche Fehler aufgrund des Solidaritätsgebotes zu rationalisieren. Ich bin der Meinung, daß wir in eine gewaltige langfristige Kalamität kommen können, wenn wir einige Aspekte der Diskussion nach dem 4. November, nämlich eine gewisse Fetischisierung der Gewaltanwendung und jetzt diese Theorien vom Psychoterror, nicht als eine tatsächliche Folge dieser Diskussionen begreifen und uns doch fragen müssen, ob wir nicht eher die Pflicht haben, nicht mit einem Deckmantel von Solidarität aufzutreten, sondern durch Kritik zu versuchen festzustellen: Sind das nicht Tendenzen, die im Sinne einer Basiserweiterung der APO außerordentlieh gefährlich sind?

WETHEKAM: Der Genosse Huffschmid hat gesagt, was d das Problem ist.. Nämlich ddie Frage der Strategie zwischen den Leuten, die partiell im Systcm arbeiten und Leutcn, die bewußt außerhalb des Systems arbeiten. Man braucht, glaube ich, durchaus nicht davòn ausgehen, daß jede Aktion für alle der sozialistische Opposition Angehörenden akzeptabel ist. Wichtig ist vor allem, daß das Thema der Aktion auch noch für die Leute, die in den Institutionen arbeiten, vertretbar ist. Da habe ich eine ganz konkrete Kritik an dem, was hier passiert ist. Und ich habe auch ein konkretes Beiepiel: Ein Freund von mir hat kurz nach der Landgerichtsaktion im FDP-Landesausschuß über diese Aktion diskutiert. Da gab es kaum ein Wort über Steine, sondern diese Liberalen regten sich darüber auf, wie es überhaupt möglich sei, daß ein Rechteanwalt seinen Beruf verlieren könne. Ich glaube, diese Herren haben viel politischer reagiert als diejenigen, bei denen das Hauptgewicht auf den Steinen lag. Die Frage des Probleme der Steine erscheint mir nur noch in die interne Diskussion zu gehören. Ich sehe im übrigen einige Formen der Zusammenarbeit zwischen im System und außerhalb des Systems Arbeitenden an einigen konkreten Beispielen. Ich habe vorhin schon auegeführt, daß ich glaube, daß die Organisation in Verbände, die sich aufgliedern in Liberale bis links, heute nicht mehr die eigentliche Organisationsform der APO sein kann. Das zeigt sich auch darin, daß die Beschlüssse, die diese Verbände fassen, praktisch irrelevant sind und daß die Politik von den themenbezogenen Gruppen gemacht wird. Ich sehe da Tegel. Tegel wird von Leuten gemacht, die aus dem System herausgefallen sind, den Strafgefangenen teilweise, einzelnen Leuten, unter ihnen die Politiker, andererseits von Leuten aus dem SDS, andererseits von Leuten aue dem LSD, andererseits von Leuten, die in der FDP dafür aorgen, daß es dazu Anfragen gibt. Da sehen wir ein Spektrum von Leuten - von aus dem System Herausgefallenen bis zu Leuten, die im System arbeiten -, die laufend zusammenarbeiten, die laufend miteinander über ihre Probleme diskutieren, und bei denen sich das Problem der Pluralität ihrer Aktionsformen kaum mehr stellt. Innerhalb dieser Gruppe hat es z. B. über das Problem der Steine kaum negative Kritik gegeben. Ich glaube, dieses Modell sollte uns auch Anhaltspunkte geben, wie eine Umorganisation geschehen kann.