Rudi Dutschke

Mallet, Marcuse "Formierte Gesellschaft" und politische Praxis der Linken hier und anderswo
1965

Archivalische Sammlung Rudi Dutschke im Hamburger Institut für Sozialforschung


In allen gegenwärtigen Zeitschriften und Diskussionen der Restposten der spätkapitalistischen Arbeiterbewegung wimmelt es zur Zeit vom Begriffspaar Strategie und Taktik. Jeder bietet seine Strategie an: von Michael Vester(1) bis Thomas von der Vring (2), von Mallet (3) und Gorz (4) ganz zu schweigen. Ich werde mich daran nicht beteiligen, weil ich meine, daß das Reden von Strategie eine gesamtgesellschaftliche Bedingungsanalyse voraussetzt - eine solche kann ich nicht vorweisen, meine allerdings, einige Thesen und Anmerkungen zu Fragen der Tendenzen des vor uns und mit uns ablaufenden Prozesses der Gegenwart zur Diskussion stellen zu müssen. Sicherlich spät - aber nicht zu spät, wenn wir heute analytisch ehrlich die divergierenden Ansätze politisch diskutieren. Das soll und muß heute geschehen im Sinne einer revolutionären Wissenschaft, die sich "nur" Rechenschaft abzulegen hat von dem, was sich vor ihren Augen abspielt, und sich zum Organ desselben zu machen, die im "Elend" nicht "nur das Elend", sondern auch die revolutionäre umstürzende Seite zu erblicken hat, welche die alte Gesellschaft über den Haufen werfen wird. "Von diesem Augenblick an wird die Wissenschaft bewußtes Erzeugnis der historischen Bewegung, sie hat aufgehört, doktrinär zu sein, sie ist revolutionär geworden." (Karl Marx, Das Elend der Philosophie, Berlin 1960, S.145)

Dazu ist nun unerläßlich, daß die von Oskar Negt auf der letzten DK(5) benannte Resignation, die schon die Wahl der entscheidenden analytischen Kategorien im Ansatz apologetisch werden läßt, kritisch reflektiert wird, die Marxsche Erkenntnis vom Zusammenhang von "Machenwollen" von Geschichte durch Menschen und "Erkennenkönnens" derselben durch die Akteure ernst genommen wird. Bei Habermas heißt es dazu in der Interpretation von Marx: "Der Sinn der Geschichte im ganzen erschließt sich theoretisch in dem Maße, in dem sich die Menschheit praktisch anschickt, ihre Geschichte, die sie immer schon macht, nun auch mit Willen und Bewußtsein zu machen." Nun ist die "Machbarkeit" historisches Resultat und nicht immer möglich gewesen, waren doch in der Vergangenheit, das gilt es auch sehr stark bei der Frage der Einschätzung der traditionellen Arbeiterbewegung zu beachten, die materiellen Bedingungen, die die Befreiung der Menschen von äußerer und innerer Unterdrückung ermöglichen sollen, in keiner Weise gegeben; der Kapitalakkumulationsprozeß war noch ein sehr bescheidener, der besonders erst in den letzten zwanzig ]ahren durch mannigfaltige politische und ökonomische Vermittlungen eine Höhe erreicht hat, die die Befriedigung der Bedürfnisse der Menschheit und den Abbau von Herrschaft tendenziell ermöglicht. Dem Prozeß der internationalen Kapitalakkumulation ging parallel ein Prozeß der Herstellung eines "weltgeschichtlichen Zusammenhangs", der in der Gegenwart die Form einer konkreten Totalität Weltgesellschaft angenommen und damit der Schlüsselkategorie der dialektischen Theorie, nämlich der der Totalität, mehr Realitätsgehalt zu verliehen hat.

Heute haben wir schon aktuell eine "globale Einheit", in der sich die einzelnen noch abstrakt und unvollständigmit Sozialismus, Imperialismus, Kapitalismus, Spätfeudalismus u.a. gekennzeichneten "Formationen" gegenseitig definieren, speziell Sozialismus und Kapitalismus (s. Marcuse, Sowjetmarxismus)(6). Hier sind nun auch die großen Schwierigkeiten dialektischer Analyse, die ja als Totalitätsanalyse, die allein historisch richtige Praxis ausweisen könnte, heute materialiter nur in Form von auf ]ahren zusammenarbeitenden Arbeitsgruppen analytisch wirklich saubere Ergebnisse zu erzielen vermag. Über theoretische Arbeitsgruppen und deren Praxisnotwendigkeit später. Die ganz feinen und spezifischen Analysen der verschiedenen Länder, Klassen und Schichten dürfen nicht einer abstrakten Allgemeinheit Weltgesellschaft subsumiert werden - "Hast Du je gehört", so sagt Marx in seinem Brief an Engels, "daß Hegel die Subsumtion vieler Fälle under a general principle Dialektik genannt hat?" - Nein, die konkrete Totalität Weltgesellschaft, als Herrschaft des Ganzen über die Teile, ist entscheidend für die Stellenwertfrage der Einzelanalysen, die bei der Detaildurchdringung des Details aufs Ganze aus sein müssen; wie Marx im Kapital(S. 821, 2.A. 1878) sagt: Es "muß sich die Darstellungsweise formell von der Forschungsweise unterscheiden. Die Forschung hat den Stoff sich im Detail anzueignen, seine verschiedenen Entwicklungsformen zu analysieren und deren inneres Band aufzuspüren. Erst nachdem die Arbeit vollbracht, kann die wirkliche Bewegung entsprechend dargestellt werden. Gelingt dies und spiegelt sich nun das Leben des Stoffes ideell wieder, so mag es aussehen, als habe man es mit einer Konstruktion a priori zu tun." - Und so geschieht es auch bei den Marx-Fehlinterpreten.

Erst die mit Hilfe der dialektischen Methode durchgeführte sozioökonomische Tendenz-Bestandsaufnahme wird uns das ermöglichen, was Marcuse in Korcula forderte: Die Konkretion jener so liebgewordenen Begriffe wie Selbsterfüllung des Individuums, universale Entfaltung des Menschen u.ä.m., was er als das ernsteste Problem der kritischen Theorie ansieht.

Die Entwicklung der Produktivkräfte hat einen solchen hohen Stand erreicht, daß der weitere Verbleib der dialektischen Theorie in der Position der bestimmten Negation nur noch als Perpetuierungsmoment der Herrschaft benannt werden kann (apologetische Kritik).

Dieser erreichte hohe Stand der internationalen Kapitalakkumulation, der die Mangelsituation der Menschheit beheben könnte, der für die "Machbarkeit" und Bestimmbarkeit des Weges dieser unserer Weltgesellschaft konstruiert ist, läßt die Frage nach dem Subjekt-Objekt, nach den bewußten Individuen, die innerhalb des epochalen Zusammenhangs, der die "Einheit der Welt" und die Kapitalakkumulation hervorbrachte (also unserer Gegenwart), agieren wollen, stellen. Nicht das Kantsche Subjekt-Objekt-Problem, nicht das Verhältnis von Genesis und Geltung u.ä.m. - kurz, hier geht es nicht um philosophiegeschichtliche Exkurse in Sachen Subjekt-Objekt, hier geht es um das empirisch auszumachende (und nicht nur das) Subjekt-Objekt der neuen konkreten Totalität Weltgesellschaft, es ist also die Frage nach dem Träger des révolutionären Kampfes, der Herrschaft und Mangel (endgültig) beseitigen soll. [...] Der Pseudodialektiker der kritischen Theorie zeichnet sich durch einen Rückfall auf durch Hegel bereits überwundene Kantsche Positionen aus: nämlich die sehr tiefe Überzeugung von der eigentlichen Wertlosigkeit des Empirischen, des Faktischen - Wert und Faktisches stehen sich so wieder in Kantscher Form gegenüber. Der Weg von nicht in ihrer Gesamtheit des dargestellten historischen Prozesses aufgehobener Empirie von Kapital I von 1867 über Geschichte und Klassenbewußtsen (7) (Verdinglichung und Klassenbewußtsein), die Dialektik derAufklärung (8) bis One-Dimensional-Man von Marcuse(9) im Jahr 1965 legt Rechenschaft von dem Prozeß des zunehmenden Verlustes von Empirie der materialistischen Theorie ab.

Je konkreter die Realisierungsmöglichkeit der Beseitigung der Herrschaft von Menschen über Menschen für den Menschen wird - desto abstrakter wird die kritische Theorie. Was liegt hier vor? Marcuse gibt im Vorwort zu Kultur und Gesellschaft (10) einen Hinweis: "Die kritische Theorie ist heute wesentlich abstrakter, als sie damals gewesen war; sie kann wohl kaum daran denken, >die Massen zu ergreifen< (11). Marcuse fährt fort: "Aber hat der abstrakte unrealistische Charakter der Theorie seinen Grund vielleicht darin, daß sie noch zu sehr an die von ihr begriffene Gesellschaft gebunden war, . . . daß ihr Begriff der freien und vernünftigen Gesellschaft nicht zuviel, sondern zuwenig versprach?" Ja, in der Tat wurde zuwenig versprochen und der Grund für Adorno, Horkheimer und Marcuse ist sicherlich zu finden in den theoretisch unfruchtbaren bzw. nicht erfolgten Rezeptionen der ökonomischen Arbeiten der Henryk Grossmann, Kurt Mandelbaum, Felix Weil u.a.m.

"Gibt es noch ein Proletariat?" fragte eine kürzlich herausgekommene Aufsatzsammlung mit einigen Beiträgen über den Anachronismus des Proletariatsbegriffs.(12) Es waren die alten Bestimmungen zu hören. Objektiv hat sich die Stellung des Proletariats im Produktionsprozeß nicht verändert; sie können zwischen oben und unten unterscheiden und vieles ä.m. Ich antworte mit einer Abstraktionsthese, die diesmal aber auch dann über die Konkretion und Materialisierung zur gefüllten Reflexion führen soll. Meine Abstraktionsthese ist: es hat noch kein Proletariat gegeben, die Sache ist noch nicht auf ihren Begriff gekommen.

Mallet beginnt seine Darstellung über die "Neue Arbeiterklasse" [. . .] mit der Ablehnung des "philosophischen" Proletariatsbegriffs(13), also als universales Subjekt der Weltgeschichte, läßt ein Plädoyer für einen soziologisierten Proletariatsbegriff folgen, ist für die konkrete Analyse konkreter Produktionsverhältnisse, damit für eine Soziologie der Lohnarbeiter, um innerhalb dieser Klasse durch komplizierte Analyse die für die Veränderung der Gesellschaft zu aktivierenden Schichten zu finden, eine Strategie der Offensive in Anwendung zu bringen, um den Übergang zum Sozialismus zu erreichen.

Anmerkungen

1) SDS-Mitglied.
2) SDS-Mitglied
3) Serge Mallet (1927-1973), Soziologe.
4) André Gorz (*1924), Soziologe, Philosoph und Schriftsteller.
5) Delegiertenkonferenz.
6) Herbert Marcuse, Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus, Neuwied / West-Berlin 1964.
7) Georg Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein, Berlin 1923.
8) Max Horkheimer / Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Amsterdam 1947
9) Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch, Neuwied/WestBerlin 1967
10) Herbert Marcuse, Kultur und Gesellschaft 1, Frankfurt/Main 1965
11) Wobei Adorno anzumerken ist: "Nicht nur die Theorie, sondern ebenso die Absenz wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift." (Adorno 3; S. 220)
12) Marianne Feuersenger (Hg.), Gibt es noch ein Proletariat? Frankfurt/Main 1962.
13) Serge Mallet, La nouvelle classe ouvrière, Paris 19b3; dt.: ders., Die neue Arbeiterklasse, Neuwied 1972.