Paris Mai `68

Der wilde Generalstreik

aus: Vienet, Rene, Wütende und Situationisten in den Bewegungen und Besetzungen, Paris 1968, dt. Hannover 1977, S. 81-91

Im Laufe des 17. Mai dehnte sich der Streik auf fast die gesamte Metall- und chemische Industrie aus. Nach den Arbeitern von Renault entschlossen sich die von Berliet, Rhodiaceta, Rhone-Poulenc und der SNECMA zur Besetzung ihrer Fabriken. Mehrere Bahnhöfe befanden sich in den Händen der Arbeiter und nur wenige Züge verkehrten noch. Die Postbeamten besetzten schon die Versandabteilgungen. Am 18.griff der Streik auf die Air France und die RATP über. Der Streik, der von einigen exemplarischen Besetzungen in der Provinz seinen Ausgang genommen hatte, erreichte das Gebiet um Paris, um von dort aus das ganze Land zu erfassen. Von diesem Augenblick an konnten selbst die Gewerkschaften nicht mehr daran zweifeln, daß diese Kettenreaktion wilder Streiks im Generalstreik enden würde.



Plakate vom Pariser Mai

Spontan ausgelöst, hatte sich die Bewegung der Besetzungen gleich gegen alle Ansprüche und Kontrollen der Gewerkschaften behauptet. "Die Direktion von Renault", so stellte "Le Monde" vom 18. Mai fest, "unterstreicht den wilden Charakter der Auslösung der Bewegung nach dem Streik des 13. Mai, der in der Provinz nur teilweise befolgt worden war. Man hält es gleichfalls für paradox, daß der Herd des Protestes sich in einem Unternehmen befindet, wo es auf sozialer Ebene nur relativ geringe Routinekonflikte gab."

Der Umfang des Streiks zwang die Gewerkschaften zu einer schnellen Gegenoffensive, die besonders brutal klarmachen sollte, daß ihre natürliche Funktion die von Hütern des kapitalistischen Systems in den Fabriken zist. Die gewerkschaftliche Strategie verfolgte ihr Hauptziel: den Streik zu zerstören. Um das zu erreichen, bemühten sich die Gewerkschaften, die eine lange Tradition als Brecher von wilden Streiks haben, diese ausgedehnte Bewegung, die einem Generalstreik gleichkam, zu einer Reihe von Streiks zu reduzieren, die gleichzeitig in verschiedenen Unternehmen stattfanden. Die CGT übernahm die Führung dieser Gegenoffensive. Am 17. Mai tagte ihr Bundesrat und erklärte: "Die Aktion, die auf Initiative der CGT und anderer Gewerkschaftsorganisationen begonnen wurde, schaffte eine neue Situation von außerordentlicher Bedeutung. " Der Streik wurde so akzeptiert, aber um jede Aufforderung zum Generalstreik abzublocken.

Nichtsdestotrotz stimmten die Arbeiter überall für den unbegrenzten Streik und die Fabrikbesetzungen. Um Herr über eine Bewegung zu werden, die sie direkt bedrohte, mußten die bürokratischen Organisationen zunächst die Initiative der Arbeiter bremsen und der beginnenden Autonomie des Proletariats entgegentreten. Sie bemächtigten sich also der Streikkomitee, die sofort zu einer richtiggehenden Polizeimacht wurden mit dem Auftrag, die Arbeiter in den Fabriken zu isolieren und im Namen derselben ihre eigenen Forderungen zu stellen.

Während an den Toren fast sämtlicher Fabriken die Streikposten - immer auf Anordnung der Gewerkschaften - die Arbeiter daran hinderten, für sich selbst und mit anderen zu sprechen, sowie den radikalsten Strömungen, die sich damals manifestierten, zuzuhören, sorgten die Gewerkschaftsführungen für die Einschränkung der gesamten Bewegung auf ein Programm rein beruflicher Forderungen. Das Spektakel des bürokratischen Protestes erreichte seinen parodistischen Höhepunkt, als die frisch entchristianisierte CFDT sich daran begab - zu Recht im übrigen - die CGT anzuklagen, daß sie sich nur auf materielle Aspekte beschränkte.

Die CFDT proklamierte: "Jenseits der materiellen Forderungen wird das Problem der Verwaltung und der. Führung der Unternehmen gestellt. " Dieses "Überbieten" einer modernistischen Gewerkschaft aus wahltaktischen Gründen ging so weit, die "Selbstverwaltung" vorzuschlagen, als Form "der Arbeitermacht in den Unternehmen". Man konnte damals die beiden Hauptfälscher dabei beobachten, wie sie sich gegenseitig die Wahrheit ihrer eigenen Lüge an den Kopf warfen: der Stalinist Seguy, indem er die Selbstverwaltung als "leere Formel" abqualifizierte, und der Pfaffe Descamps, indem er sie ihres wirklichen Inhalts entleerte. In der Tat war dieser Streit zwischen Traditionalisten und Modernisten um die bestmöglichsten Verteidigungsformen des bürokratischen Kapitalismus das Vorspiel ihres grundlegenden Einverständnisses über die Notwendigkeit, mit dem Staat und den Unternehmern zu verhandeln.

Am Montag, dem 20. Mai, waren Streik und Fabrikbesetzung allgemein, von einigen Sektoren abgesehen, die allerdings nicht zögern sollten, sich der Bewegung anzuschließen. Man zählte sechs Millionen Streikende; es sollten in den folgenden Tagen mehr als zehn Millionen werden. Die CGT und die KP - von allen Seiten überholt - denunzierten jede Idee eines "aufrührerischen Streiks", während sie gleichzeitig vortäuschten, ihre Forderungen zu erhärten. Seguy erklärte, daß "seine Dossiers für eine eventuelle Verhandlung bereit seien. " Für die Gewerkscha.ften sollte die ganze revolutionäre Kraft des Proletariats nur dazu dienen, sie in den Augen einer; fast nicht mehr existierenden Regierung und einer faktisch enteigneten Unternehmerschaft präsentierfähig zu machen.

Die gleiche Komödie wurde auf der politischen Bühne gespielt. Am 22.Mai wurde der Zensurantrag mitten in der allgemeinen Gleichgültigkeit verschoben. Es geschahen mehr Dinge auf den Straßen und in den Fabriken als in allen Parlaments- und Parteisitzungen zusammen. Die CGT rief zu einem "Tag der Forderungen" am Freitag, den 24. , auf. Aber in der Zwischenzeit führte das Aufenthaltsverbot für Cohn-Bendit zu einem Wiederaufflammen der Straßenkämpfe. Eine Protestdemonstration wurde am gleichen Tag improvisiert, um die des folgenden Tages, des Freitags, vorzubereiten. Die Parade der CGT-Leute, die um 14 Uhr begonnen hatte, schloß mit einer besonders senilen Rede de Gaulles.

Jedoch zur gleichen Stunde hatten sich Tausende von Demonstranten entschlossen, noch einmal sowohl der Polizei wie dem studentischen Ordnungsdienst zu trotzen. Die massive Beteiligung von Arbeitern an dieser Demonstration, die von CGT und KP verurteilt wurde, zeigte im negativen Sinne an, bis zu welchen Grad diese nur noch das Schauspiel einer Macht bieten, konnten, die ihnen nicht mehr gehörte. Auf die gleiche Art und Weise gelang es dem "Führer des 22. März" durch seine erzwungene Abwesenheit, eine Agitation hervorzurufen, die er nicht hätte bändigen können.

Einige 30.000 Demonstranten hatten sich zwischen dem Gare de Lyon und der Bastille versammelt. Sie machten sich in Richtung Rathaus auf den Weg. Aber die Polizei hatte natürlich bereits alle Auswege versperrt: die erste Barrikade wurde also auf der Stelle errichtet. Sie gab das Signal zu einer Reihe von Zusammenstößen, die sich bis zum Morgengrauen fortsetzten. Einem Teil der Demonstranten war es gelungen, sich zur Börse durchzuschlagen und sie zu verwüsten. Dieser Brand, der den Wünschen mehrerer Generationen von Revolutionären entsprochen hätte, zerstörte diesen "Tempel des Kapitals" nur sehr oberflächlich. Mehrere Gruppen hatten sich in den Vierteln um die Börse, die Hallen und die Bastille bis zum Platz der Nation verteilt; andere erreichten das linke Seine-Ufer und hielten das Quartier Latin und St. -Germain-des-Pres besetzt, bevor sie sich in Richtung Denfert-Rochereau zurückzogen. Die Gewalt erreichte ihren Höhepunkt (1). Sie hatte aufgehört, das Monopol der "Studenten" zu sein, sie wurde das Privileg des Proletariats. Im Enthusiasmus wurden zwei Polizeireviere verwüstet: das am Odéon und das an der Rue Beaubourg.

Vor der Nase der ohnmächtigen Polizisten wurden vor dem Pantheon zwei grüne Minnas und ein Dienstwagen mit Hilfe von Molotow-Cocktails in Brand gesteckt.

Zur gleichen Zeit schlugen sich mehrere Tausend Aufständische mit der Polizei in Lyon und töteten einen Kommissar, indem sie einen mit Steinen beladenen Lastwagen auf ihn zurollen ließen; sie gingen weiter als in Paris und organisierten die Plünderung eines Kaufhauses. Es kam zu Kämpfen in Bordeaux, wo die Polizei den Waffenstillstand vorzog, in Nantes und selbst in Straßburg.

So waren die Arbeiter in den Kampf eingetreten, nicht nur gegen ihre Gewerkschaften, sondern sie sympathisierten obendrein noch mit einer Bewegung von Studenten, schlimmer noch, von Halbstarken und Vandalen, die so phantastische Parolen vertraten wie:"Arbeite nie" und "Ich habe mich mit den Pflastersteinen vergnügt". Keiner der Arbeiter, der zu den Revolutionären außerhalb der Fabriken kam, um zusammen mit ihnen eine Verständigungsbasis zu suchen, äußerste gegenüber diesem extremen Aspekt der Bewegung Bedenken. Im Gegenteil, die Arbeiter zögerten nicht, Barrikaden zu errichten, Autos zu verbrennen, Polizeireviere zu plündern und aus dem Boulevard St. Michel einen großen Garten zu machen, Arm in Arm mit denen, die vom nächsten Tag an von Fouchet und der sogenannten kommunistischen Partei als "Abschaum der Gesellschaft" bezeichnet werden sollten .

Die Regierung und die bürokratischen Organisationen antworteten gemeinsam am 25. Mai auf dieses Vorspiel zu einem Aufstand, das sie das Fürchten gelehrt hatte. Ihre Antworten ergänzten sich: beide wünschten das Verbot von Demonstrationen und sofortige Verhandlungen; jeder traf die Entscheidung, die der andere wünschte.

Anmerkungen

(1) Man gab zu, daß es einen Toten unter den Demonstranten gegeben hatte. Das arme Opfer gab Anlaß zu vielerlei Gerüchten: man erklärte, daß es von einem Dach gefallen sei; dann, daß es erschlagen worden sei, als es sich dem demonstrierenden Mob entgegenstellte. Schließlich ergab der Bericht eines Gerichtsmediziners mehrere Wochen nach dem Tod, daß das Opfer durch die Explosion einer Handgranate umgekommen war.