Wolfgang Dreßen
Die Organisation
des antiautoritären Lagers

aus: Antiautoritäres Lager und Anarchismus
Rotbuch 7, Westberlin 1968, S.36f

Wenn die Theorie allein auf die unmittelbare Gewalt des autoritären Staates reagiert, dann löst sie die versuchte Veränderung in isolierte Aktionen auf. Eine gegen solche Abhängigkeit entwickelte Strategie kann nur in einer gleichermaßen demokratischen und zentralistischen Organisation verbindlich bleiben.

Im autoritären Staat erscheint Herrschaft so allgemein, daß ihre praktische und theoretische Erkenntnis in der jeweils radikalen Vertretung der eigenen Bedürfnisse, die selbsternannte Avantgarde, die den Kampf aufnimmt, tendenziell aus jedem gesellschaftlichen Bereich stammenkann. Ihre Strategie muß sich aber aus den Möglichkeiten der Revolutionierung der unmittelbar im Produktionsbereich beschäftigten Gruppen bestimmen. Nur ihre Weigerung kann das System entscheidend treffen. Eine Avantgarde, die sich auf direkte Aktionen beschränkt, mag anfangs fähig sein, die latente Gewalt des autoritären Staates zu entlarven. Wenn sich für sie allerdings die einzige organisatorische Autorität aus der direkten Macht des Gegners ergibt, bleibt ihre Praxis reaktiv.

Das System wird sich auf sie einzurichten wissen, längst dürfen sich innerhalb seiner Institutionen die Widersprüche scheinbar bekämpfen. Aber diese Widersprüche sind bereits institutionalisiert, der Rahmen der Institutionen bestimmt den ungefährlichen Spielraum. Solange die Studenten Rektorate besetzen, sich auf den Rahmen der Universität beschrãnken, sind sie bereits ungefährlich geworden und dienen der Anerkennung der Institutionen, die solcher Widersprüche bedürfen, um ihre scheinbare Rationalität zu beweisen. Der taktische Beginn des Kampfes darf nicht mit seiner weiteren Strategie verwechselt werden. Die anarchistischen Aktionen bezeichnen den Beginn: vor der Gefahr ihrer Integrierung retten nur Theorie und verbindliche Organisation. Andernfalls bleibt die Praxis ein Ausdruck der einsamen Initiative, dient nur noch der gefühlsmãßigen Einheit, verselbständigt sich zum Ritual, zur leeren Geste. Solcher "Anarchismus" bliebe "ein Produkt der Verzweiflung". (Lenin]

Wenn die Avantgarde den gesellschaftlich vorgeschriebenen Rahrnen möglichst schnell sprengen will und weitgehend sich ihre Praxis von den Vorurteilen der subjektiv bürgerlichen Mehrheit vorgeben läßt, bleibt sie ebenso theorielos. Allein eine theoretische und organisatorisch starke Avantgarde, die fähig ist die Taktik nicht mit der Strategie zusammenfallen zu lassen, kann sich solche Praxïs leisten. Ohne eine verbindliche Organisation, ohne theoretische Schulung, wird die Avantgarde sich mit ihrer Ausbreitung auflösen oder dem System eine weitere reformistische Gruppe liefern.

Solange die Antiautoritären jede verbindliche Strategie und Organisation als autoritär ablehnen, haben die Rebellen ihren autoritären Charakter noch nicht überwunden. Abstrakt wird jede Autorität abgelehnt, um sich dér Autorität einiger Führer und in der Praxis den Reaktionen des autoritären Staates zu unterwerfen. Statt einer revolutionären Politik betreiben sie bloßen Protest.

Der Anarchismus des antiautoritären Lagers half, die Gewalt des Systems durch Provokationen zu entlarven. Er zeigte den Hauptgegner, den autoritären Staat. Der Anarchismus durchbrach den integrierten Protest der etablierten Arbeiterorganisationen, aber er droht sich ebenso zu verselbständigen, in dem zum Ritual gewordenen leeren Widerspruch.

Erst die Einheit von Widerspruch und Disziplin, die demokratisch-zentralistische Organisation, könnte endgültig jede irrationale Autorität überwinden. Der Widerspruch soll "der Stärkung der Kampfkraft dienen und nicht ihrer Schwächung" (Mao Tse-Tung). Die wichtigste Voraussetzung bleibt die Revolutionierung der Revolutionäre (siehe den Text von Lukacs), die Änderung ihrer Charakterstruktur: Weder die negative Fixierung der Antiautoritären noch die Acht- Stunden-Tag-Revolution der Arbeiterfunktionäre. Ihr Ich bedarf nicht mehr der masochistischen Anlehnung und Unterwerfung, ihre Freiheit kann nicht formal verstanden werden, sondern nur in der praktischen Überwindung irrationaler Autoritäten.

Die revolutionäre Organisation wird soweit verselbständigt bleiben, die revolutionäre Klasse repräsentieren müssen, wie der gesellschaftliche subjektive Faktor nicht entwickelt ist. Die Revolutionierung der Gesellschaft ist freilich auf Dauer nicht möglich ohne eine Revolutionierung der Menschen. In dem Maße, in dem immer mehr Menschen sich aktiv an dem revolutionären Prozeß beteiligen, wird sich die selbständige Organisation in den Räten auflösen, in denen die Menschen endlich ihre eigenen Bedürfnisse organisieren. [Siehe Lesestück 9]