ZIELE UND ORGANISATION DER KRITISCHEN UNIVERSITÄT
aus: Kritische Universität, Freie Studienorganisation der Studenten in Hoch- und Fachschulen von Westberlin, Programm und Verzeichnis der Studienveranstaltung im WS 1967/68, S.44ff

In den Monaten nach dem 2. Juni 1967 haben sich in Diskussionen und vorbereitenden Arbeitskreisen die folgenden Ziele und Aufgaben der Kritischen Universität herausgebildet. Der provisorische Initiativausschuß wird sie der ersten Vollversammlung der Kritischen Universität zur Beratung und Stellungnahme vorlegen.

I. Kritische Reflexion und wissenschaftliche Analyse für eine demokratische politische Praxis

Die kritische Universität stellt sich die Aufgabe, durch kritisch-theoretische Reflexion und Anwendung empirisch-analytisctier Methoden mitzuwirken an der Bestimmung der Ziele und Aktionen der auberparlamentarischen radikaldemokratischen Oppositionsgruppen in Westberlin, die an einer aufgeklärten Demokratisierung unserer Gesellschatf und an der Befreiung von Unterdrückung und Unmenschlichkeit, insbesondere in den Ländern der Dritten Welt, aktiv teilnehmen wollen.



Titelseite des
Vorlesungsverzeichnisses

Sie will deren aufklärerische Agitation und Praxis aktuell und langfristig verständlicher und wirksamer, d. h. auch experimentell lehrbar machen. Sie begreift sich darin als kritisch denkendes und praktisch handelndes Subjekt gegenüber einer Gesellsdiaft, in der "Wissenschaft" überwiegend zur bloßen Technik, zur "Substanz des praktischen Lebens" (Schelsky) und damit zum reinen Objekt der herrschenden Politik geworden ist.

Die Ergebnisse ihrer Arbeit sollen insbesondere die politische Praxis der Studentenvertretungen, die an der demokratischen Oppositionsbewegung teilnehmen, unterstützen. In dieser Konkretisierung des "Politischen Mandats" der Studentenschaft wird ein spezifischer historischer Zusammenhang zwischen kritischer Theorie, Wissenschaft und Praxis öffentlich-demonstrativ wiederhergestellt. Dieser Anspruch, der sich aus der verfassungsrechtlich geschützten Teilhabe der Studenten an der Wissenschaftsfreiheit und ihrer akademischen Selbstverwaltung legitimiert, kann durch administrative Gewalt behindert, aber nicht beseitigt werden.

II. Demokratische Studienreform und Hochschulkritik

Die Kritische Universität versteht sich als eine neue Organisationsform praktischer experimenteller Hochschulreform und permanenter Hochschulkritik. Überall dort, wo bestimmte Inhalte und Methoden der Wissenschaft, ihrer Anwendung und ihrer Vermittlung mit gesellschaftlicher Praxis, die dem Emanzipations- und Demokratisierungsprozeß der Gesellschaft dienen, von den herrschenden Exponenten und Gremien der Hochschulen behindert oder ausgeschlossen werden, sollten Studenten in Verbindung mit interessierten Assistenten, Dozenten und Experten aus der Berufspraxis dazu übergehen, die Arbeit an diesen Themen selbst zu organisieren. Diese autonome kooperative Tätigkeit dient dem stets gefährdeten Versuch einer subjektiven Emanzipation und Selbstverwirklichung der Studenten und jungen Wissenschaftler gegen den herrschenden akademischen Lehr- und Forschungsbetrieb. Sie kann sich aber auch auf lange Sicht als nützlich für den Kampf um subjektive befriedigende und emanzipatorische Arbeitsformen und Arbeitsziele in der späteren Berufspraxis erweisen (vgl. III.).

Zur Sicherung dieser selbst organisierten Studienreform muß die Kritische Universität einerseits an einer permanenten Hochsdiulkritik arbeiten, die irrationale und repressive Strukturen und Ziele des herrschenden Lehrbetriebs innerhalb der Hochschulen und in der Öffentlicihkeit demonstrativ angreift und in Frage stellt (durch Vorlesungs- und Prüfungsrezensionen, öffentliche Disputationen und Tribunale). Andererseits muß sie zusammen mit den studentischen Fachschaftsvertretungen allen Studenten eine effektive solidarisdie Hilfe zur erfolgreidien Bewältigung der bestehenden, vielfach irrationalen Studien- und Examensanforderungen anbieten (z.B. kritische Studienführer, Lektürepläne und Vorlesungsskripten als Ersatz für zeitraubende, unrationelle Pflichtveranstaltungen, deren Besuch dann zu vermeiden wäre) .

Durch die praktisch vorweggenommene und selbst organisierte, wenn auch fragmentarische Studienreform und eine permanente öffentlirhe Hochschulkritik will die Kritische Universität die Position der Studentenvertretungen und der abhängigen Wissenschaftler im Kampf um die Demokratisierung der Hochschulstruktur stärken.

Ausgehend von ihrer Arbeit an Strategien der demokratischen gesellschaftlichen Veränderung zum Abbau von Herrschaft und Unterdrückung und auf Grund ihrer eigenen experimentellen Studienveranstaltungen und kleineren Forschungsobjekte will sich die Kritische Universität darum bemühen, daß neue emanzipatorische und kritrische Fragestellungen in die offiziellen Programme der Forschung und des Studiums, aber auch der Lehrerbildung, der akademischen Fortbildung und des Schulunterrichts aufgenommen werden.

III. Demokratische Wissenschafts- und Berufspolitik der Intelligenz

Selbst organisierte experimentelle Hochschulreform, permanente Hochschulkritik und die Auslösung genereller demokratischer Hochschulreformen dienen letztlich der rascheren und breiteren Entfaltung von theoretisch-wissenschaftlichen Fortschritten und der Stärkung der sozialen Selbstorganisation der Träger dieser Fortschritte im Kampf gegen die permanente verschleierte Vernichtung oder den Mißbrauch ihrer praktischen Realisierungschancen unter den herrschenden Arbeits- und Wirtschaftsverhältnissen.

Je intensiver der theoretische wissenschaftlich-technologische Fortschritt sich zu entfalten und sozial in seinen Subjekten zu organisieren vermag, desto eher kann die Wissenschaft angesichts der bestehenden gesellschaftlichen Barrieren ihrer objektiv möglichen praktischen Anwendung im Dienste der Verbesserung des menschlichen Daseins wieder zu einer emanzipatorischen historischen Kraft werden.

Die Kritische Universität wird daher auch versuchen, zu einem Forum und Aktionszentrum der Studenten, Wissenschaftler und akademischen Praktiker zu werden, die sich bewußt in den Dienst eines solchen objektiv gesellschaftskritischen Fortschritts der Wissenschaft stellen - gegen jene Institutionen und Unternehmen, die wissenschaftliche Methoden zur Organisation der verschleierten Vernichtung geistigen Kapitals, zur Sabotierung oder zur inhumanen Perversion wissenschaftlicher Fortschritte mißbrauchen, z. B. bei der planvollen Herabsetzung der Lebensdauer von Produkten und Dienstleistungen oder bei der Verwissenschaftlichung der Manipulation von Menschen in den Bewußtseinsindustrien. In Verbindung mit interessierten Wissenschaftlern und Gewerkschaftsorganisationen soll ein "Dokumentationszentrum über den Mißbrauch der Wissenschaft für inhumane und destruktive Zwecke" (vgl. H. Marcuse in "Kritik der reinen Toleranz", Frankturt 1966) vorbereitet werden.

In der Kritisciien Universität können sich die Studenten und jungen Akademiker, die in ihrem Berufsleben an der Realisierung der progressiven wissenschaftlich-technologischen Möglichkeiten für die Emanzipation der Menschen von Unterdrückung, Mangel und Manipulation mitwirken wollen, auf die unvermeidlichen Konflikte mit etablierten Machteliten und bürokratischen Apparaten, aber auch mit konformistischen und autoritären Kollegen vorbereiten. Es sollen Organisationsformen und Strategien entwickelt werden, die es der kritischen Intelligenz in den Berufen und Betrieben ermöglichen, für eine gesellschaftliche Demokratisierung und menschliche Rationalisierung der Arbeitsverhältnisse und Arbeitsziele zu kämpfen.

Dazu gehören u. a. die systematische Kritik von irrationalen Strukturen in der Arbeitsorganisation, die auf der objektiv überflüssigen Herrschaft privilegierter und überalterter Führungseliten beruhen; die Bildung einer organisierten Opposition in den berufsständischen Interessenverbänden; die Nutzung von günstigen Arbeitsmarktsituationen zur Verbesserung der Arbeitsverhältnisse sowie Aufklärungsaktionen zur Herstellung einer politischen Kooperation mit den bewußten Teilen der lohnabhängigen Arbeiter und der Jugend.