Die britische "Protestindustrie"

aus: Die Neue Linke, Theorie - Utopie -Praxis, Bern (Schweiz) 1969, S.56ff, eine Aufsatzsammlung von "bürgerlichen" Autoren in der Reihe "Tatsachen und Meinungen" des Verlag SOI Bern

Im Vergleich zu einigen Ländern des Kontinentes ist die britische "Protestindustrie" unterentwickelt. Aber trotzdem wächst sie schnell. Läßt man die britische kommunistische Partei beiseite - die betont national und gewaltfrei ist, die es sich aber nicht leisten kann, bei den Protesten ihrer Rivalen abseits zu stehen - so gibt es folgende wichtige Organisationen:

Die Trotzkisten

Obwohl sie historisch betrachtet keineswegs "neu", sind, so haben sie doch einen entscheidenden Anteil an der Entwicklung der Politik der Neuen Linken, der Führung der Studenten und älterer Protestler auf den Weg der Gewalt. Die drei wichtigsten trotzkistischen Gruppen sind:

l. Internationale Sozialismus-Gruppe (International Socialism Group)

Obwohl die einflußreichste der drei Gruppen, hat sie kaum mehr als 500 Mitglieder. Ihre Publikationen sind "The Labour Workers" und "International Socialism". Geführt wird die Gruppe von Ygael Gluckstein und Tony Cliff, Sekretär ist John Lawrence. Ihre Aktivität konzentriert sich auf die Universitäten.

2. Sozialistische Arbeiterliga (Socialist Labour League)

Sie versucht, der Arbeiterklasse eine alternative Führung zu geben. Mitglieder sind 900 Erwachsene und 3000 bis 4000 Jugendliche. Publiziert werden "The News Letter", "Keep Left" und "The Fourth International". Führer und gleichzeitig Gene ralsekretär ist Gerry Healy.

3. Internationale Gruppe der Marxisten (International Marxist Group)

1959 gegründet, ist sie die kleinste der drei Gruppen. Sie arbeitet innerhalb der Labour Party und der Solidaritätskampagne für Vietnam. Ihr Führer ist Patrick Jordan. Im April 1968 hat sie ein Symposium über das Thema einer "Weltstrategie gegen den amerikanischen Imperialismus" abgehalten, das von Ernest Tate (Vertreter der 4. Internationale) organisiert wurde. Die Redner waren ausnahmslos Angehörige der 4. Internationale, so Pierre Frank (Frankreich), Livio Maitan (Italien) und Ernest Mandel (Belgien). Die Hauptarbeit der Trotzkisten konzentriert sich darauf, studentische und Arbeitergruppen zu bilden oder in schon be stehende einzudringen und antiamerikanische Bewegungen und Demonstrationen zu organisieren. An den britischen Universitäten gibt es 400 Trotzkisten, also etwas mehr Anhänger als die kommunistische Partei dort ebenfalls hat. Sie konkur rieren mit den Kommunisten in der Radical Student Alliance und kontrollieren die Vietnam Solidarity Campaign (VSC), auf die später eingegangen wird. Eine andere trotzkistische Organisation ist die Revolutionary Socialist Student Federation, dieim Juni 1968 an der London School of Economics and Political Science (LSE) durch die International Marxist Group gegründet wurde.

Kampagne für nukleare Abrüstung (Campaign for Nuclear Disarmament, CND)

Sie wurde 1957 gegründet und war bereits 1959/60 ganz von Kommunisten durchsetzt. 1960 spielte sie eine führende Rolle beim Verzicht der Labour Party auf die nukleare Bewaffnung. Die führenden Leute sind Lord Brockway (früher Fenner Brockway, MP), Olive Gibbs, Malcome Caldwell (School of Oriental and African Studies, London).

Komitee der 100 (Committee of 100)

Es wurde 1960 durch unzufriedene Mitglieder der Kampagne für nukleare Abrüstung gegründet, die mit deren offiziellen friedlichen Taktik nicht einverstanden waren. Seither ist das Komitee bereit, zur Erreichung seiner Ziele das bestehende Recht zu verletzen. Der Führer des Komitees ist Peter Cadogan.

Britischer Rat für den Frieden in Vietnam (British Council for Peace in Vietnam, BCPV)

Er wurde 1965 mit kommunistischer Unterstützung gegründet, obwohl er der kommunistischen Partei nicht zugehörig ist, und führt nur gewaltfreie Aktionen durch. Heute hat er zwischen 150 und 200 Sektionen. Vorsitzender ist Lord Brockway, Sekretär Dr. Amicia Young (Kommunist).

Solidaritätskampagne für Vietnam (Vietnam Solidarity Campaign, VSC)

Sie wurde 1965 als Nebenorganisation von Bertrand Russels Peace Foundation gegründet. Im Juni 1966 ging die Führung von einer maoistischen Gruppe auf die Trotzkisten über, da viele von deren Anhängern aus der VSC ausgetreten waren. Sie unterstützt die Nationale Befreiungsfront Südvietnams und erhält als Gegenleistung eine Unterstützung Hanois. Vorsitzender ist Pat Jordan, Sekretär Mike Martin.

Stop It Committee

Es wurde 1967 durch linksgerichtete Amerikaner in Großbritannien gegründet, unterstützt Wehrdienstverweigerer und ist keine streng disziplinierte Organisation.

Radikale Studentenvereinigung (Radical Student Alliance, RSA)

Sie wurde 1966 gegründet und umfaßt alle Schattierungen der militanten Linken, gelenkt wird sie aber durch die Studentenorganisation der kommunistischen Partei. Ihr Organisator, Fergus Nicholson, ist weitgehend verantwortlich für die Konstituierung der RSA, obwohl er sich seither im Hintergrund gehalten hat. Der Sekretär der RSA, Christopher Gilmore, ist ebenfalls Mitglied der British Communist Party. Ziel dieser Gruppe ist es, innerhalb der nationalen Studentenunion (NSU) einen militanten und provozierenden Kern zu schaffen. Bis jetzt hat sie aber damit nur wenig Erfolg gehabt bei der Masse der 400.000 Mitglieder der NSU. Nach außen unterhält sie Verbindungen zur CESE in Amsterdam. RSA-Mitglieder sind führend gewesen beiden letzten Protestdemonstrationen an den britischen Universitäten.

Einige jüngere Beispiele von Gewaltanwendung

Während der letzten Jahre haben sich Unruhen unterschiedlichen Ausmaßes an der London School of Economics and Political Science (LSE), dem Regent Street Polytechnic (London) und den Universitäten von Sussex, Leicester, Manchester, Leeds, Liverpool, Essex und Oxford ereignet. Auf breiter Ebene haben die Protestaktionen gegen das amerikanische Engagement in Vietnam bei drei Gelegenheiten zu Gewalttätigkeiten geführt:

22. Oktober 1967:

Beginnend mit einer Massenversammlung amTrafalgarSquare in London endete diese Demonstration mit der Überreichung einer Petition an die amerikanische Botschaft am Grosvenor Platz, wo Demonstranten mit der Polizei zusammenstießen. Die trotzkistische Vietnam Solidarity Campaign war die führende Gruppe im für diese Demonstration geschaffenen Organisationskomitee, das vom Stop It Committee, einigen Sektionen der Young Communist League (YCL), der Campaign for Nuclear Disarmament, einigen Jungsozialisten der Labour Party und Liberalen unterstützt wurde.

17. März 1968:

Über 10.000 Demonstranten warteten und randalierten vor der amerikanischen Botschaft, wobei Delegierte des deutschen SDS eine führende Rolle spielten. 246 Personen wurden daher festgenommem. Im Organisationskomitee spielte die Vietnam Solidarity Campaign die bestimmende Rolle, dem aber auch das Stop It Committee angehörte. Mit Gewaltaktionen hatten die Organisatoren gerechnet und sie auch begrüßt, obwohl sie später ihre Autorenschaft bei den Plaketten abstritten, die die Leute aufforderten, bewaffnet zu kommen ("Come armed"). Die Demonstration trat offen für den Vietkong ein. Interessant dabei ist, daß sie schon vor ihrem Beginn durch die kommunistische Partei und die Youth Campaign for Nuclear Disarmament (YCND) verurteilt worden ist.

21. Juli 1968:

Über 60.000 Demonstranten marschierten zum Grosvenor Platz, um bei der amerikanischen Botschaft eine Petition abzugeben. Über 1.000 Marschierer haben sich dabei vom Demonstrationszug entfernt um Fenster einzuschlagen und Wagen im Park Lane umzuwerfen. Ihr harter Kern setzte sich aus Mitgliedern der London Federation of Anarchists und Maoisten der Britaiit-Vietnam Solidarity Front zusammen, die schon vor der Demonstration Redner auf dem Trafalgar Square in die "Zange genommen hatten". Dazu gehörten Lawrence Daly, der Generalsekretär der schottischen Abteilung der Nationalen Bergarbeiterunion, Barney Davis, Sekretär der Young Communist League. Lou Lewis, ein kommunistischer Bergarbeiter (der entlassen wurde wegen der Anführung von Bergarbeiterstreiks), Geoffrey Richmond von der Vietnam Solidarity Campaign und Nick Bateson von der maoistischen Britain-Vietnam Solidarity Front.

Die Demonstration vom 21. Juli unterschied sich von den früher von Trotzkisten organisierten, denn sie wurde von den Kommunisten vorgeschlagen und durch das besonders dazu geschaffene 21 July Committee with Vietnam organisiert. Dieses vereinigt 15 Organisationen in sich, u. a. Youth Campaign for Nuclear Disarmament (YCND), Stop It Committee, Young Communist League (YCL), Radical Student Alliance (RSA), Vietnam Solidarity Campaign (VSC), Young Liberals und Youth Section of the British Council for Peace in Vietnam (BCPV). Der Organisator der YCND auf nationaler Ebene, Janice Ogg, war Vorsitzender des Organisationskomitees. Trotz kommunistischer Unterstützung für die Demonstration bedauerte das YCL-Sekretariat die Publizität, die den relativ unbedeutenden Randalierern auf Kosten der weit größeren Zahl friedlicher Demonstranten gegeben wurde.

Eine weitere Demonstration von trotzkistischer Seite ist für den 26./27. Oktober angekündigt. Das Organisationskomitee in seiner jetzigen Form umfaßt das ganze Spektrum linksgerichteter extremistischer Auffassungen. Es besteht aus Vertretern der Vietnam Solidarity Campaign, der Revolutionary Socialist Student Federation, der Radical Student Alliance, der Young Communist League, den "Peace News", Teilen der Jungsozialisten der Labour Party und dem British Council for Peace in Vietnam. Außerdem scheinen auch die Maoisten von A. Manchanda's Britain-Vietnam Solidarity Front und die Reg Birch's Communist Party of Great Britain (Marxisten-Leninisten) mit dabei zu sein. Bleiben diese ganzen organisierenden Gruppen zusammen, so wird diese Demonstration die erste ihrer Art sein, die eine einheitliche Front aller linksgerichteten Kräfte bildet.

Die Krise in der Tschechoslowakei mag in gewisser Weise die studentischen Pläne unvorhergesehen beeinflussen. Mitte August haben die Maoisten ein von Kommunisten und Trotzkisten durchgeführtes Treffen abgebrochen, das für den 26. August eine Vietnam-Demonstration organisieren sollte. Heute stimmen Kommunisten Trotzkisten, Anarchisten und Maoisten in der Beurteilung der tschechoslowakischen Krise überein, obwohl nicht notwendigerweise aus denselben Gründen. Die Castristen hingegen stehen abseits, da Fidel Castro die russische Intervention gebilligt hat. Angesichts der Bedeutung der Castristen unter den revolutionären Studenten ist diese neue Ausrichtung von einigem Interesse.