Aus: Richtlinien und Anschläge, Materialien zur Kritik der repressiven Gesellschaft, Hrg. Albrecht Goeschel, München 1968, S.100ff

Dieter Kunzelmann

Notizen zur Gründung
revolutionärer Kommunen in den Metropolen

"Man muß bereit sein, alle Überzeugungen preiszugeben, wenn sie mit den heutigen Erfahrungen nicht mehr übereinstimmen." (K. Korsch)

"Manche Leute glauben, der Marxismus sei eine Art Zauber, mit dem man jedes Übel heilen kann. Ihnen sollten wir entgegnen, daß ein Dogma weniger Wert hat als Kuhmist. Mit Mist kann man wenigstens düngen." (Mao Tse-tung)

Sind alle bisher gescheiterten Gruppenexperimente aufgearbeitet, müssen wir konstatieren, daß das Scheitern weniger im Fehlen gemeinsamer Praxis begründet war - jeder kehrte nach der Aktion in das Treibhaus seiner bürgerlichen Individualexistenz zurück - als vielmehr in den mangelhaften Versuchen, die verschiedenen individuellen Geschichten in einer gemeinsam zu beginnenden Geschichte aufzuheben. Da Zukunft für uns die Machbarkeit der Geschichte bedeutet, diese also nur vorgestellt werden kann als ein gemeinsam erlebter Prozeß von handelnden Subjekten in der subversiv-anarchistischen Aktion, sind aktuell die zwei entscheidenden Implikationen von revolutionärer Kommune zu diskutieren: das objektive Moment der gemeinsam zu leistenden Praxis und das subjektive Moment der Vermittlung der Individuen innerhalb der Kommune. Beides ist eng miteinander vermittelt, denn ohne die Einlösung des einen bleibt das andere uneingelöst und vice versa. Die Kommune ist nur dann fähig, systemsprengende Praxis nach außen zu initiieren, wenn innerhalb der Kommune effektiv die Individuen sich verändert haben, und diese können sich nur verändern, wenn sie jene machen; Praxis nach außen ohne experimentelle Vorwegnahme dessen, was Menschsein in emanzipierter Gesellschaft beinhalten könnte, wird zum Aktivismus als Normerfüllung. Die vielbeschworene neue Qualität der Kommune ohne gemeinsame Praxis wird sich als solipsistischer Akt, Psychochose und elitärer Zirkel entpuppen.

Diese immensen Schwierigkeiten der gegenseitigen Durchdringung von Kommune und Außenwelt, Außenwelt und Kommune können nicht dadurch simplifiziert und kaschiert werden, daß der Beginn von revolutionärer Kommune zum heroischen Testfall hochgespielt und die gemeinsame Reproduktionsbasis zum sakralen Akt gestempelt wird. Letztere bleibt Taschenspielertrick, wenn sie nicht die tendenzielle Aufhebung bürgerlicher Abhängigkeitsverhältnisse (Ehe, Besitzanspruch auf Mann, Frau und Kind etc.), Destruierung der Privatsphäre und aller uns präformierenden Alltäglichkeiten, Gewohnheiten und verschiedenen Verdinglichungsgrade nach sich zieht. Wer jetzt "rohen Kommunismus" assoziiert, unterschlägt, daß die Dialektik von Wirklichkeit und Möglichkeit sich nicht mehr als theoretischer Entwurf darstellen kann, dessen Einlösung von der Herauskristallisierung bürgerlicher Gesellschaft abhängig gemacht wurde, unterschlägt weiterhin, daß in "Nationalökonomie und Philosophie" die "abstrakte Negation der ganzen Welt, der Bildung und der Zivilisation" von einer "Rürkkehr zur unnatürlichen Einfachheit des armen und bedürfnislosen Menschen" (Cotta S. 592) ausging, was Geschichte war, aber unsere nicht mehr trifft.

Unsere Praxisvorstellungen können im Moment nur als diffus bezeichnet werden. Sind die divergierenden Konzeptionen durch konzentrierte Praxis aufgehoben, bleibt nicht ausgeschlossen, daß diese eine falsche war. Soll dieser Prozeß nicht in Frustration versanden - und die Kommune ist nicht der konkrete Versuch, ob Praxis möglich ist, sondern wir machen die Kommune, um Praxis jetzt zu machen: Praxis als Methode zur Erkenntnis der Wirklichkeit - ist unser Entwicklungs prozeß bei Beginn des Zusammenlebens von ausschlaggebender Bedeutung, um den Experimentalcharakter gemeinsamer Praxis durchstehen zu können. Wenn wir die Aufhebung unserer bürgerlidien Individualitäten nur erhoffen durch den mit bestimmter Praxis stattfindenden Prozeß des Kampfes, besser dessen Anfangsstadium, zwischen revolutionären Kommunen und repressiver Gesellschaft, könnten wir erneut unser Dasein dem weltgeschichtlichen Prozeß anheimdelegieren, vergessen erneut unsere Ausgangsbasis: die Leidenschaft der an sich selbst Interessierten. Letzteres bleibt dann keine Phrase, wenn wir unsere divergierenden Geschichten der gemeinsamen Erfahrung subsumieren: die Entfaltung der menschlichen Wesenskräfte wird nur dann möglich, wenn die ganze Welt aus den Angeln gehoben wird, wo wir dabei sind oder eben nicht dabei sind. Revolutionäre Kommune und subversive Aktion kann nur dann geschichtsträchtig werden, wenn wir dem Anspruch, uns und die Gesellschaft zu verändern, nicht mit Naivität begegnen in der Form, als ob es nur gelte, die Herausgefallenen zu mobilisieren, eine gemeinsame Reproduktionsbasis zu schaffen und ähnliche im Vorfeld stecken bleibende Aussagen, sondern den Anspruch messen an unserer eigenen Komplexität, die nicht nur am Realprozeß teilhat - diesen zu ihrem eigenen machen muß. Was die revolutionäre Kommune zusammenschweißen, was ihre unverbindliche Verbindlichkeit kennzeichnen soll, geht nicht nur in Solidaritätserfahrung gemeinsamer Aktionen auf - isoliert ein nichtgriffiger Kitt - sondern muß ebenso die neue Qualität in der Vermittlung der Individuen zueinander sein, jenseits aller Rationalisierungen, Persönlichkeitsimages und Verschlossenheiten.

Das Abarbeiten aller Individuen aneinander, die gemeinsame Praxis - gescheitert, als solche reflektiert und neues Beginnen - und die Ausbreitung der revolutionären Kommunen sind konstitutives Moment für unsere Weiterexistenz in der konkreten Kampfsituation. Soll es dem Fokus oder der revolutionären Kommune vor Beginn der Disziplinierung der Gesellschaft gelingen, die Ausgangsbasis zu schaffen und zu erweitern, als Minorität andere Minoritäten zu mobilisieren, müssen wir von der Abstraktion in die Konkretion schreiten, selbst wenn die revolutionäre Kommune sich anfangs konkretistisch darstellt (Haus, Umzug etc.). Um der abstrakten Aufstellung eines Prioritätenkatalogs, der unserer Situation nicht adäquat wäre, da noch kein Sektor des gesellschaftlichen Feldes stringent beackert wurde, aus dem Wege zu gehen, muß bis zum Zeitpunkt der Gründung einer revolutionären Kommune (konkret: bis wir ein von uns allen bewohnbares Haus gefunden haben) die Gleichzeitigkeit von Haus-Organisieren, Vermittlung der Individuen und zu leistender Praxis gewährleistet sein.

Das Argument "Hinauszögern bedeutet Verschleierung" (wobei vergessen wird, daß das Hinauszögern ein notwendiges ist, da wir morgen kein Haus finden), zieht in dem Moment nicht mehr, wo in diesem objektiv uns aufgezwungenen Zwischenstadium die Praxisdiskussion durch wirkliche Praxis weitergeführt wird. Hierbei ist entscheidend unser handfestes Eingreifen in die Hochschulpolitik als totale Negation bisher praktizierter Arbeit, was bedeutet, daß aufgrund der von uns dort geleisteten Praxis der SDS sich sehr schnell darüber entscheiden muß, ob er weiterhin systemimmanente Kritik an der bürgerlichen Universitässtruktur leisten will oder fähig ist, mit uns Keimzellen mit gegenuniversitärer Zielsetzung aufzubauen. (Entscheidungen im SDS sind bisher immer nur durch Praxis erreicht worden, nie durch verdinglichte Diskussionen.) Außerdem gilt es eine neue Vietnam-Strategie zu entwickeln anläßlich der Vietnam-Woche. Nehmen wir die Argumentation von Wunschlandschaft Dritte Welt und wenn Provos und Fuck for Peace wirklich Praxis machen, dann sind sie mit dem allgemeinen Emanzipationsprozeß der Beherrschten konkreter vermittelt als durch die Rückwirkungen, welche die marxistisch-positivistische Tendenzanalyse der Neoimperialismustheorie sich erhofft" - nehmen wir diese Argumentation wirklich ernst, heißt dies für uns, daß wir in der Vietnam-Bewegung unsere Vorstellungen durch Aktion konkretisieren müssen. Hier ergibt sich fast von selbst die Vermittlung zu wirklich Herausgefallenen (z. B. Gammlern), die allein durch ihre Existenz bei Vietnam-Veranstaltungen und nachfolgender Politisierung unser vollkommen anderes tendenzielles "Vietnam" BRD dokumentieren würden, was jedoch in keiner Weise ausreicht.

Das Phraseologisieren über die verschiedenen Praxisvorstellungen (SPD-Nationalbolschewismus, Falken, Oberschüler, Gammler, Agitprop-Theater etc.) perpetuiert sich so lange wie die verschiedenen an Praxis interessierten Individuen ihre Vorstellungen im luftleeren Raum abstrakt-theoretisch darstellen, ohne dadurch jemals in der Lage zu sein, konkrete Praxis zu initiieren. Wie die Lieber-Aktion beweist - und wir hätten dies schon vorher wissen müssen - sind dem Gegenstand Hochschule etc. adäquate Diskussionen nur zu führen, wenn ein konkretes Praxisprojekt vorliegt, an dem sich dann alle abarbeiten, artikulieren und entscheiden müssen.Nur durch Beginn von Praxis werden wir gezwungen, die Inhalte unseres verdinglichten Begriffsinstrumentariums (bei der Hochschule z.B.: Syndikat, Vorlesungsstreik, Gegenvorlesung etc.) mit dem wir gekonnte Handwerkelei betreiben, mit der Wirklichkeit zu vermitteln und damit überprüfen, modifizieren und den nächsten konkreten Schritt unternehmen können.

Dem Konkretisierungsprozeß unserer diffusen Praxisvorstellungen muß parallel der Prozeß unserer Ausbildung als revolutionäre Wissenschaftler einhergehen. Damit es nicht bei dieser apodiktischen Aussage bleibt, unsere eigene Bewegung mit dem Endpunkt vermittelt wird, ist es notwendig, die jeweiligen Stadien unserer revolutionären Wissenschaft konkret zum Ausdruck zu bringen. Dies wäre Aufgabe einer Zeitschrift der revolutionären Kommune. Weitere Implikationen der Zeitschrift wären, den Assimilierungsprozeß Außenstehender zu ermöglichen, Agitationsinstrument und besseres Selbstverständnis der revolutionären Kommune. (Gleiches gilt für das Broschürenproblem, das bisher immer nur Belastung für wenige bedeutete.) Allen aufgezeichneten Aufgabenstellungen können wir nur dann gerecht werden, wenn die Individuen der revolutionären Kommune ihre gemeinsame Aufgabe als full-time-job ausüben.

Unser Verhältnis zur Praxis und zur direkten Aktion sollte gekennzeichnet sein durch Marcuses Aussage, "daß es für unterdrückte und überwältigte Minderheiten ein Naturrecht auf Widerstand gibt, außergesetzliche Mittel anzuwenden, sobald die gesetzlichien sich als unzulänglich herausgestellt haben." ("Repressive Toleranz" S. 12). Und diejenigen, die dieses Widerstandsrecht, das bis zum Umsturz geht, praktizieren, tun es "weil sie Mensehen sein wollen" (ebd.), die die Spielregeln einer Gesellschaft totaler Verwaltung nicht mehr hinnehmen und nicht "von vornherein auf Gegengewalt verzichten." (ebd. S. 95) Nur durch "andere Aktionsformen" (Korsch S. 29, Vorwort von Gerlach) werden wir dem Satz Che Guevaras gerecht: "Es ist der Mensch des 21 . Jahrhunderts, den wir schaffen müssen ..."

(Westberlin) November 1966

Anmerkung zum Text: Die Zusammenarbeit zwischen einer Gruppe ehemaliger Rätesozialisten um Dieter Kunzelmann in München, dem ehemaligen Dutschke/Rabehl-Flügel innerhalb der Berliner Sektion der Subversiven Aktion und einer Anzahl von Mitgliedern des Berliner SDS bei der Plakataktion im Februar 1966 setzte sich im Verlaufe des Jahres fort. Bei einem Treffen am Kochelsee wurde beschlossen, an einen gemeinsamen Ort zu ziehen. Ende September 1966 zogen Dieter Kunzelmann und andere daher nach Berlin. Am 26. November 1966 brachte diese Gruppierung dann das "Fachidiotenflugblatt" heraus. Unmittelbar daraufhin erfolgte die erste Ausformulierung des Kommunekonzepts, das hier wiedergegeben wird.