Gaston Salvatore & Rudi Dutschke
Einleitung zu CHE GUEVARA

Schaffen wir zwei, drei, viele Vietnam
Brief an das Exekutivsekretariatvon OSPAAL

Oberbaumpresse Berlin H. Sander & Co. GdBR 
1 Berlin 36, Oberbaumstraße 5, Telefon 6183997
© der deutschen Ausgabe by Oberbaumpresse Berlin 1967

Che bringt die weltgeschichtliche Tragödie der vietnamesischen Revolution auf den Begriff: die "tragische Einsamkeit" des vietnamesischen Volkes ist eine .peinliche Realität', peinlich für uns alle, die wir von Solidarität sprechen und den wirklichen Charakter der Auseinandersetzung verdrängen. Das vietnamesische Volk erteilt uns täglich eine unübersehbare Lektion an Opfermut, Ausdauer und revolutionärer Menschlichkeit im Kampfe gegen den weltweiten Vertreter der Unterdrückung und Repression. Es beweist uns ununterbrochen, wie der nationale Befreiungskampf eines Volkes — sei es noch so klein - einen erfolgreichen Kampf auch gegen die größte imperialistische Weltmacht führen kann.

Diese Revolution hat die historische Funktion, als Beispiel und Vorbild den Kampf der anderen Völker um ihre Befreiung voranzutreiben. Bleibt sie allein, so besteht die Gefahr, daß der weltweite Prozeß des Kampfes gegen Unmenschlichkeit und Hunger für Jahrzehnte aufgehalten wird. In diesem Sinne macht der Kampf der Vietnamesen Tag für Tag d i e historische Alternative sichtbar: Beginn des Prozesses der totalen Befreiung der Menschen von Krieg, Hunger. Unmenschlichkeit und Manipulation oder Wiedererstarken des in Gefahr geratenen Systems der Herrschaft von Menschen über Menschen in der ganzen Welt. Wenn die in Unmündigkeit und vollständiger Abhängigkeit gehaltenen Völker der dritten Welt die Möglichkeit der Befreiung im vietnamesischen Sinne des Wortes voll begreifen, wird die Aktualität der Weltrevolution für jeden von uns, der gegen das System kämpfen möchte, aber noch von der Unüberwindbarkeit der bestehenden Ordnung innerlich tief überzeugt ist, eine unübersehbare Realität sein.

Das Ziel dieses Kampfes kann nur die radikale Beseitigung des Weltsystems des Imperialismus, die soziale und ökonomische Befreiung der Völker sein. Die internationale Repression treibt diesen Prozeß voran, indem sie jeden sozialrevolutionären Aufstand durch die Mobilisierung der eigenen Gewaltmaschinerie nieder2u-schlagen versucht. Die zugestandenen Reformen sind nur noch Momente der militärischen Befriedung und haben jede eigenständige Bedeutung verloren. Daraus ergibt sich die unvermeidbare Notwendigkeit des bewaffneten Internationalen Aufstands der dritten Welt.

Dieser revolutionäre Krieg ist furchtbar, aber furchtbarer würden die Leiden der Völker sein, wenn nicht durch den bewaffneten Kampf der Krieg überhaupt von den Menschen abgeschafft wird: ,Wir sind für die Abschaffung des Krieges, wir wollen den Krieg nicht, aber man kann den Krieg nur durch den Krieg abschaffen; wer das Gewehr nicht will, der muß zum Gewehr greifen" (Mao, 1938). Der Krieg ist kein ewiges Schicksal menschlichen Daseins, wird von Menschen produziert und kann durch die bewußte Tätigkeit der Menschen von der Erdoberfläche beseitigt werden. Die scheinbare Verherrlichung des Krieges durch Che gewinnt hier ihre Ergänzung.

Die .Propaganda der Schüsse' der organisierten Einzelkämpfer in der dritten Welt bildet den Ausgangspunkt der Offensivaktionen gegen die Repression. Die Aktionen der Guerillakämpfer sind Bedingung für die Möglichkeit der Verbreiterung der revolutionären Bewegung. Die Oligarchien antworten auf diese ersten Zeichen der Gefährdung der eigenen Herrschaft mit panischem Schrecken und übertriebenen und blinden Unterdrückungsmaßnahmen. Das zumeist noch passive Volk gewinnt in dieser Konfrontation die sinnliche Erfahrung der konterrevolutionären Gewalt und lernt begreifen die befreiende Möglichkeit der revolutionären Gewalt. Durch ein System von Offensivaktionen mit Rückzugsmöglichkeiten werden immer breitere Schichten des Volkes in den Kampf hineingezogen. Der Kampf allein bringt die Herstellung des revolutionären Willens, der es den Völkern ermöglicht, ihre schon immer von ihnen gemachte Geschichte nun endlich bewußt und zielbestimmt zu machen.

Auf diesem vom Volk im Kampf gewonnenen Willen, der die etablierte Herrschaft zu beseitigen droht, antworten nicht mehr primär die Oligarchien, die in dieser Etappe des Kampfes den letzten Anschein von Selbständigkeit verlieren, sondern die organisierte Internationale der Unterdrückung in der Gestalt der Vereinigten Staaten von Nordamerika. Dann, aber erst dann ist ein zweites oder drittes Vietnam entstanden. Erst dann scheint uns eine realgeschichtliche und nicht eine papierne Lösung des sowjetisch-chinesischen Streits möglich zu sein, würde doch unter diesen Bedingungen eine isolierende Betrachtung und eine schwankende Beteiligung am Kampfe unmöglich werden. Ein zweites und drittes Vietnam wird die heute sich bekämpfenden sozialistischen Länder zu einer Entscheidung zwingen: entweder Wiederherstellung der internationalen Solidarität oder das bewußte und endgültige Obergehen der Sowjetunion in das Lager der internationalen Konterrevolution.

Auch hier müssen wir begreifen, daß ohne wirklichen Kampf die revolutionäre Bewußtwerdung der Massen in den sozialistischen Ländern nicht möglich ist. Die Entfremdung zwischen Partei und Massen in der Sowjetunion und den Ländern Osteuropas müßte bei einem zweiten oder dritten Vietnam aufgehoben werden, um überhaupt den Befreiungsbewegungen eine wirksame Hilfe leisten zu können. Andererseits würde das eine Möglichkeit der Fortführung der seit Jahrzehnten stagnierenden Revolution mit sich bringen, die Möglichkeit der Oberwindung der bürokratischen Herrschaft der Partei über die Massen. Wir wollen nicht verschweigen, daß die Theorie der ununterbrochenen Revolution, die jede historisch auftretende Entfremdung zwischen Partei und Massen, durch systematische Kampagnen, in denen der schöpferische und bewußtmachende Dialog zwischen Führung und Massen hergestellt wird, bekämpft bis jetzt in der VR China - bei allen Schwierigkeiten - erfolgreich gewesen Ist. Dennoch «ind für Che - mit Recht - beide Fraktionen des sozialistischen Lagers  von sekundärer Bedeutung. Alle Formen und Mittel der Revolution in Lateinamerika, Asien und Afrika bestimmen die dort kämpfenden Völker und keine noch so befreundete Regierung kann und darf die Selbständigkeit der Entscheidungen beeinträchtigen.

Der Brief von Che bedeutet eine Aufforderung an die Revolutionäre der dritten Welt an allen möglichen Orten den direkten militärischen Aufstand zu beginnen, nicht mehr zu warten, vielmehr die erfolgreichen Bedingungen einer kontinentalen Revolution durch eigene Tätigkeit herzustellen. Es ist nur bedingt eine theoretische Analyse, ist in der Hauptsache revolutionäre Propaganda, die der Propaganda der Schüsse vorausgeht bzw. ein Moment dieser ersten Phase des Kampfes. Daraus erklärt sich die vielfache Anwendung von Kampfbildern als Motoren der Bildung des revolutionären Willens. Sie sind gerichtet gegen die Resignation in der Theorie und Praxis der institutionalisierten kommunistischen und sozialistischen Parteien. Sie wenden sich gegen den Zynismus eines Pablo Neruda, der in der Stunde der brutalen Liquidierung der peruanischen Guerilleros - unter der Führung von de la Puente Uceda - durch peruanische Regierungstruppen in Zusammenarbeit mit amerikanischen Beratern beim Präsidenten Belaunde sein Mittagsmahl einnahm.

Die Darstellung der ersten Opfer, die Glorifizierung der schon gefallenen Märtyrer der Befreiungsbewegung soll die zu Integrationsmechanismen erstarrten Führer der Unabhängigkeitskriege des 19. Jahrhunderts durch revolutionäre Gestalten der jetzigen Phase ersetzen, eine neue historische Kontinuität der amerikanischen Geschichte begründen. Die darin enthaltenen Momente an Irrationalität müssen als Vorurteile der Aufklärung gegen die von den Massen verinnerlichten Schemata des Chauvinismus aufgefaßt werden. Die Erinnerung an die ersten neuen Führer hat für die Guerilleros, für die in den Kampf eintretende junge Generation eine befreiende und vorwärtstreibende Kraft, hilft mit. den Prozeß der Schaffung nationaler Identität und eines revolutionären Bewußtseins zu forcieren.

In diesem Zusammenhang muß auch der vermeintliche Determinismus von Che begriffen werden. Die Betonung der historischen Notwendigkeit des Siege« der Revolution darf nicht getrennt werden von seinem dialektischen Realismus in der Einschätzung der Schwierigkeiten der Lage. Der Ausgang des Kampfes ist nicht sicher, eine ganze historische Periode von Kämpfen wird über Ihn entscheiden.

Wir sollten uns aber eines Satzes von Marx an Rüge aus dem Jahre 1843 erinnern: "Sie werden nicht sagen, ich hielte die Gegenwart zu hoch. und wenn ich dennoch nicht an ihr verzweifle, so ist es nur ihre eigene verzweifelte Lage, die mich mit Hoffnung erfüllt."

Die verzweifelte Lage des vietnamesischen Befreiungskrieges, die verzweifelte Lage der dritten Welt schafft eine verzweifelte Entschlossenheit der Revolutionäre in der ganzen Welt.

Die uns alle bedrückende Passage über den Haß als Faktor des Kampfes ist von der Situation und der Zerrissenheit der revolutionären Bewegung nicht zu trennen. Wir müssen aber deutlich zwei Seiten dieser Erscheinung unterscheiden:

Auf der einen Seite liegt im Haß gegen jedwede Form der Unterdrückung ein militanter Humanismus. Auf der anderen Seite - wie B. Brecht richtig betont -macht auch der Haß gegen die Unterdrücker die Stimme heiser, besteht die Gefahr der revolutionären Verdinglichung. die das emanzipatorische Interesse, das alle Mittel und Formen der revolutionären Befreiung durchdringen muß, nicht mehr in dem Mittelpunkt stellt. Die Gefahr des Umschlags von militantem Humanismus in verselbständigten Terror wohnt jeder Form des Hasses inne. Che sieht dieses Problem in .Mensch und Sozialismus auf Cuba' sehr klar. wenn er vom modernen Revolutionär fordert, daß dieser sich durch viel Menschlichkeit auszeichnen muß.

Wir müssen uns aber darüber Rechenschaft ablegen - und so ist Che zu verstehen -, daß in der dritten Welt kein revolutionärer Kampf ohne die mobilisierende Wirkung des Hasses gegen die Repräsentanten der nationalen und internationalen Repression gewonnen werden kann. Eine Welt ohne Haß ist eine Welt ohne Krieg - und ohne historisch überflüssige und damit irrationale Herrschaft von Menschen über Menschen. Der Beitrag der Revolutionäre aus den Metropolen - innerhalb des internationalen Emanzipationsprozesses - ist doppelter Natur: und zwar die Mitarbeit an der Herstellung der .Globalisierung der revolutionären Opposition' (H. Marcuse) durch direkte Teilnahme am aktuellen Kampf in der dritten Welt, durch Herstellung der internationalen Vermittlung, die nicht den Parteibürokraten überlassen werden darf, und durch die Entwicklung spezifischer Kampfformen, die dem in den Metropolen erreichten Stand der geschichtlichen Entwicklung entsprechen. In den Metropolen ist die Lage nämlich gegenwärtig prinzipiell verschieden: unsere Herren an der Spitze sind völlig fungibel, jederzeit durch neue bürokratische Charaktermasken ersetzbar. Wir können sie nicht einmal hassen, sie sind Gefangene und Opfer der repressiven Maschinerie. Unsere Gewalt gegen die unmenschliche Staatsmaschinerie, gegen die Manipulationsinstrumente ist die organisierte Verweigerung. Wir stellen uns mit unseren unbewaffneten Leibern, mit unserem ausgebildeten Verstand den unmenschlichsten Teilen der Maschinerie entgegen, machen die Spielregeln nicht mehr mit, greifen vielmehr bewußt und direkt in unsere eigene Geschichte ein Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist, daß die .politische Machtergreifung" einer Gruppe, Clique oder auch spezifischen Klasse für die gegenwärtige Phase der gesellschaftlichen Entwicklung keine Möglichkeit mehr zu sein scheint. Der Prozeß der organisierten Verweigerungs-Revolution ist ein für die Menschen sichtbarer und von ihnen verursachter tendenzieller Zusammenbruch der etablierten Apparate. Die selbsttätigen Menschen werden ihre eigenen Kräfte dann endlich als die gesellschaftlich mächtigen erkennen, werden ihre erlittene Unmündigkeit und Apolitizität im Verlaufe ihres immer bewußter werdenden Kampfes verlieren.

Die Formen und Mittel der organisierten Repression gegen die von uns durchgeführten und in Schärfe zunehmenden Verweigerungsaktionen können aber nicht eindeutig vorausgesehen werden. Besonders wenn wir die objektive Möglichkeit eines zweiten oder dritten Vietnam in Asien oder Lateinamerika nicht verdrängen.

Es ist sicher, daß die amerikanische Machtelite in diesem Falle nicht mehr in der Lage sein wird, einen eindämmenden oder aufhaltenden Kampf gegen die Befreiungsbewegungen allein zu tragen. Es besteht die gefährliche Möglichkeit, daß die Bundesrepublik auf der Grundlage der ökonomischen, militärischen und politischen Verbindung mit den Vereinigten Staaten von Nordamerika zur Teilnahme an den .Befreiungsaktionen' in der dritten Welt gezwungen wird. Die Konsequenzen einer solchen Politik sind kaum auszudenken. Ein Blick auf Nordamerika genügt. Die großen Pläne von einer Gesellschaft ohne Armut und Rassenhaß sind in den vietnamesischen Sumpf gefallen.

Für die Bundesrepublik, die bei weitem keine so fabelhafte Ökonomie besitzt. die sich am Ende des Wirtschaftswunders in strukturellen Schwierigkeiten befindet, könnten die Folgen des Obergangs von der jetzigen indirekten Unterstützung der amerikanischen Gewaltmaschinerie zu einer direkten Beteiligung mit der Importierung der gewaltsamen Revolution durch die Herrschenden selbst identisch sein.

Darum kämpfen wir dafür, daß die von uns zu beginnenden Offensivaktionen im Sinne der organisierten Verweigerungsrevolution - zu Beginn Aktionen gegen die Zentren manipulativer, bürokratischer oder militärischer Beherrschung der Menschen — immer breitere Schichten der Bevölkerung erfassen, um im Prozeß der Umwälzung unserer Gesellschaft die Grausamkeit und das Leid der Menschen, die durch die aktuelle Gewalt entstehen, zu vermeiden.