Aus: Die Zeit vom 30.12.1966

Die "Rote Garde" von Berlin

Zwanzig marxistische Studenten lassen die Stadt erbeben / Von Kai Hermann

Berlin, Ende Dezember

Unter dem gottesfürchtigen Transparent einer evangelischen Jugendgruppe versammelte sich auf dem Berliner Kurfürstendamm eine fröhlich-junge Schar und stimmte eines der schönsten deutschen Weihnachtslieder an: Ihr Kinderlein kommet . . . Nur andächtige Zuhörer bemerkten zeitgenössische Textvariationen: ". . zum Ku-damm herkommet / Polizei macht Krawall / Ihr seht, was in dieser hoch heiligen Stadt / der regierende Pfarrer für Dienerlein hat."

Die am andächtigsten lauschten, zählten zu den besungenen Dienern des Regierenden Bürger meisters: Die Herren waren von der Kripo. Und wie von den Jünglingen singend geweissagt, gebar das unfromme Weihnachtsoratorium den Krawall. Wie sich weiland die Häscher des Herodes über die Kinder hermachten, so überwältigten die Staatsdiener das junge Volk, das sich anheischig gemacht hatte, Autorität zu unterhöhlen.

Krawall - der gehörte zu Berlins weihnachtlicher Weltstadtstraße wie die Kaufhaus- Kapuzenmänner mit Wattebart. Die "grünen Minnas" ergänzten allsonnabendlich das Tannengrün. Blaulicht brach sich in silbernen Christbaumkugeln. Im Duft gerösteter Mandeln lag der Geruch von Aufruhr und Revolution.

Die Berliner zittern vor ihrem demonstrieren den akademischen Nachwuchs. Als einst drei frische Eier am Amerika-Haus zerschellten, brach der Bürgerkrieg gegen die Dahlemer Studenten aus. Ein Waffenstillstand ist nicht abzusehen.Zum Jahreswerhael tritt vielmehr in eine neue kritische Phase.

Es begann mit einer Vietnam-Demonstration. Zweitausend zogen zur Adventszeit dem rotierenden Mercedesstern des Europa-Center entgegen - freilich ohne den obligatorischen polizeilichen Segen. Die Obrigkeit hatte sie auf Wege umleiten wollen, auf denen der antiamerikanische Protest mangels Publikum wenig Aufsehen erregt hätte. Da aber, was in Westberlin passiert, in Kurfürstendamm-Nähe geschehen muß, drängte es auch Berlins Vietniks in diese Richtung. Sie holten sich blutige Köpfe und vielstündige Arreststrafen beim Sturm auf die uniformierte Stadtwacht, die die Schaufensterstraße des freien Berlins mit dem Gummiknüppel in der Faust siegreich verteidigte.

In London, Washington oder Hamburg hätte es nach diesen Vorfällen einen Aufschrei gegen Polizei-Brutalitäten" gegeben. In der Drei-Sektoren-Weltstadt wurde lediglich das Bedauern laut, daß nicht ein bißchen fester zugeschlagen worden war.

Zwei Tage nach der vernichtenden Niederlage sammelte sich ein geschlagenes Häuflein der Protestanten in einer Wilmersdorfer Baracke. Verfassungsschützer und eingesickerte Zeitungsreporter lernten in dieser Versammlung das politische Gruseln: Da saß der "Falke" neben dem FDJler, der sozialistische Student neben dem christlichen Pazifisten, und im Hintergrund grinste ein leibhaftiger Amsterdamer Provo Verachtung. An diese brisante Mischung versuchten Studenten, die man unlängst auf ihrem Weg zur chinesischen Botschaft Ostberlins beobachten konnte, Feuer zu legen. Sie predigten den Geschlagenen und Unterdrückten der Vietnam-Demonstration die reine Revolution.

Der etablierten Macht im Frontalangriff zu begegnen, das sei mißglückt, so hieß es - das hätte schiefgehen müssen. Demonstrationen aber, die unter Polizeischutz durch menschenleere Nebenstraßen geführt würden, dienten lediglich einer schein-demokratischen Gesellschaft als liberales Alibi. Also neue Formen des Kampfes: Nicht nur für Vietnam demonstrieren, sondern auch vom Vietcong lernen.

Mao und General Giap sind die geistigen Väter der neuen Demonstrationstheorie, die Berlins "Rote Garde" entwarf. Was die Befreiungsfront im asiatischen Dschungel praktiziert, sollte unblutig auch in der mondänen Häuserschlucht zwischen Gedächtniskirche und Halensee möglich werden: Kleine Demonstrantengruppen formieren sich an verschiedenen strategischen Punkten des Kurfürstendammes, sagen ihren Sprechchor auf, diskutieren mit Passanten, um sich blitzschnell aufzulösen, wenn die Polizei erscheint.

Auf diese Weise - so erklärten die Demonstrationstheoretiker - werde Autorität der Obrigkeit unterlaufen, den eigenen Kadern Selbstvertrauen gegeben und in der siegreichen Aktion revolutionäres Bewußtsein geschaffen.

Mittun allerdings wollte bei der revolutionären Springprozession außer den sozialistischen Studenten dann doch lieber niemand. Als erste stiegen die Vertreter der FDJ aus dem Unternehmen aus. Die chinesischen Ahnen des Planes machten ihnen alles verdächtig. Außerdem verübelten sie den Studenten, daß sie bei einem Happening während des Vietnam-Marsches nicht nur einen Johnson-Kopf, sondern auch ein Ulbricht-Ebenbild angebrannt hatten. Die "Falken" wahrten ebenso kritisehe Distanz wie der linkssozialistisehe Jugendklub "Ça ira". Im Hintergrund schwieg und lächelte der Provo aus Amsterdam.

Er sollte der Berliner Mini-Revolution eine entscheidende Wendung geben. Schon am folgenden Abend provozierte er in einem verfallenen Kurfürstendamm-Gründerbau die Mao-Jünger, bis sie ihn einen "gefährlichen Volksverderber" nannten. Buddhagleich auf einem wackligen Tisch hockend, schien er zerbersten zu wollen vor Lachen über die wildgewordenen Marx-Interpretationen, mit denen man ihn überfiel. Das Lachen steckte an. Und schließlich siegte gegen Marx, Mao und all ihre Mutationen die Provo-Ideologie, die da lautet: Spaß ist die revolutionärste Angelegenheit der Welt.

Zum Spaß eisern entschlossen traf sich ein unentwegtes Häuflein von gut fünfzig Studenten dann am folgenden Sonnabend noch vor dem Café Kranzler. Nicht um - wie ursprünglich geplant - gegen die "Schläger in Uniform" zu protestieren, sondern um für die "Freunde und Helfer" zu demonstrieren. Sie trugen Bonbons und Grundgesetze unter dem Arm, den Polizisten eine Weihnachtsfreude zu bereiten. Sie forderten die 35-Stunden-Woche für den mit Gummiknüppeln verlängerten Arm der Qbrigkeit, damit die Beamten "mehr Muße "für die Ehefrauen hätten, um im Liebesspiel Agressionen zu verlieren". Und sie sangen das Lied Kinderlein, die alle zum Ku-damm kommen sollten.

Zwar bestand zunächst dïe Gcfafir, die kleine Schar der Spaßvögel im bitteren. Ernst des Festschlußverkaufs untergingen. Doch alsbald zeigten sich die ersten verkehrsbehindernden Ansammlungen: Ältere Herren mit.hochgeschlagenem Mantelkragen steckten besorgt die Köpfe zusammen und spielten nervös mit Kripo-Marken. Es hatte sich herumgesprochen, daß Spaß Revolution bedeute. "Bild" und die CDU hatten energisches Eingreifen gefordert, die

Industrie- und Handelskammer, in tiefer Sorge um den Bestand der Ordnung gefragt: "Wie weit sind wir eigentlich schon gekommen?" Einen Anführer der Revolutionäre hatte man entlarvt. In abgewetzter Lederjacke, langem Haar und natürlich auch - wie die BZ bemerkte "mit stechendem Blick", der auch noch Dutschke hieß. "Roter Rädelsführer Rudi" , das alliterierte, daß den Herren der Handelskammer kalte Schauer den Rücken herunterliefen.

Doch dem Revolutions-Rudi blieb an diescm Sonnabend keine Zeit; auf dem Bürgersteig den Bürgerschreck zu verbreiten. Mit geübtem Auge und trainiertem Griff zogen ihn die Kriminalbeamten aus einer Schar erschrockener Schaufensterbeschauer. Das war das Signal. Aus den Seitenstraßen stürzte es mit unaufhaltsamer Gewalt. Hundertschaften machten sich über das nun nicht mehr fröhliche Kudamm-Völkchen her. Im Namen des Gesetzes, wenn auch etwas außerhalb der Paragraphen, nahmen sie in Schutzhaft, was ihnen in den Weg kam. Da zappelten der Filmregisseur Alexander Kluge und Schwester, die eben ihren Zonen-Vater vom Bahnhof Zoo abgeholt hatten, im Pofizeigriff. Ein westdeutsches Pärchen zeterte üher das Jähe Ende ihres Bummels am Wochenende. Der amerikanische FU-Professor Taubes wandte sich verwundert an den Einsatzleiter, legitimierte .sich als Hochschullehrer und spürte daraufhin uniformierte Ellenbogen in der Rippengegend. Der amerikanische Journalist Anständig fand sich in der Grünen Minna wieder, und der Chronist schließlich landete für den Rest des Tages und die halbe Nacht im Polizeigefäñgnis : ohne Wasser und Brot - gut neun Stunden stehend statt sitzend.

Das geplante kleine Gaudium hatte sich zum Super-Happening ausgewachsen. Doch auch der letzte Hauch von Spaß ging dabei am Ende verloren. Das Demonstrationsziel war erreicht, die "versteinerte Autorität der Lächerlichkeit preigegeben". Gefährlich lächerlich schien es vielen Beobachtern - nur offenbar den meisten Berlinern, ihrer Presse und ihrem Senat nicht.

Professor Taubes schrieb als Augenzeuge an den Regierenden Bürgermeister , er müsse auch als Amerikaner seiner Besorgnis Ausdruck gegeben über das polizeilíche Vorgehen, das er "nur als brutal und provokativ bezeichnen" könne. "Allzu böse Erinnerungen habe das in ihm erweckt." "Bild-Berlin" aber höhnte: "Polizeihiebe auf Krawallköpfe, um den möglicherweise doch vorhandenen Grips locker zu machen, sind brutal."

Die Stadt stöhnt über wirtschaftliche Strukturschwierigkeiten und Überalterung, doch ein fährlicheres Krankheitssymptom will sie nicht wahrhaben: die zunehmende politische Verkrampfung. Von der einst so gepriesenen Berliner Liberalität ist nur noch Homosexuellen-Libertinage geblieben. Angestaute antikommunistische Aggressionen entladen sich gegen alles was studentisch und westdeutsch ist. Schon hatsich auch im offiziellen Sprachgebraúch neben "sogenannter DDR" der Terminus "sogenannte Studenten" eingebürgert. Daß die "gelbgesichtigen Mao-Jünger" allesamt Westdeutsche seien, wird behauptet, wenn auch "Rädelsführer" Dutschke aus der DDR geflohen ist. Die innerdeutsehe Xenophobie "prägt ein neues Schimpfwort: "Westdeutscher".

Zwei Dutzend Studenten, die sich den Lehren Maos verschrieben, haben die Stadt in Hysterie gestürzt. Ein befreiendes Lachen tut not in Berlin.