Reichtum und Knappheit
Studienreform als Zerstörung gesellschaftlichen Reichtums

von Wolfgang Lefèvre

in: Bergmann, Dutschke, Lefèvre, Rabehl,
Rebellion der Studenten, Reinbek, 1968, Auflage 70.000


Die Forderung nach Demokratisierung der wissenschaftlichen Produktion in der Hochschule ist kein Vorschlag zur größeren Effizienz oder zur besseren Planung von Leistungssteigerung. Die Entfesselung von Produktivkräften, auf die diese Forderung nach Demokratisierung der Hochschule hinauswill, steht mit dem zur systemstabilisierenden Leistungsmoral verkommenen Begriff von Produktivitätssteigerung in Widerspruch. Denn die intendierte Entfesselung der Produktivkräfte besteht nicht in weiterer Steigerung inhaltsleerer Leistungsfähigkeit, sondern in der Emanzipation der lebendigen Produktivkraft Mensch zur Bestimmung und Aneignung des gesamten Produktionsprozesses seines Lebens

Aus der Hochschulresolution der 22. Delegiertenkonferenz des SDS. 1967.

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Die oft als «hysterisch» bezeichnete Reaktion, die der größte Teil der Berliner Bevölkerung und Presse, die Berliner Administration und die sie tragenden Parteien angesichts der Studentenunruhen zeigten, wurde von der westdeutschen Presse mit Kopfschütteln einer Stadt zugute gehalten, die - vor Jahren noch scheinbar im Zentrum der Weltpolitik - heute nicht mehr mit Da Nang oder Carracas konkurrieren kann Aber dieser überlegene Standpunkt der westdeutschen Beobachter hat seine eigene Zweideutigkeit. Zu oft gerieten eben jenen Presseleuten die Meldungen über Unruhen an der freien Universität allzuweit nach vorn im Nachrichtenteil, obwohl sie doch auf die Hochschulseite oder unter die Rubrik «Aus deutschen Ländern» gehörten. Allzuoft verrieten die Formulierungen in jenen Blättern, wenn sie eine Entspannung, ein Ende der Krise ankündigten, wie sehr man hoffte, nun endlich Studentenangelegenheiten wieder als das rubrizieren zu dürfen, was sie dem herrschenden Bewußtsein nach nur sein dürfen: Randerscheinungen, Ausdruck des geradezu biologisch darstellbaren Prozesses des Erwachsenwerdens. Die westdeutschen Beobachter selbst verrieten also Irritiertheit.

Die Beobachter recherchierten und kamen zu einer Erklärung der Unruhen, die eher ein Versuch der Selbstberuhigung über diese Unruhen genannt werden muß; sie erklärten die Studentenbewegung als eine im wesentlichen ge werkschaftliche Bewegung innerhalb einer reformbedürftigen Univorsität. Diese Erklärung lag nicht allein deswegen nahe, weil auch die Ministerial- und Wirtschaftsbürokratien die Ansicht vertreten, daß die gegenwärtige Universität angesichts der technologischen Entwicklungen des Produktionsapparats reformiert werden müßte, sondern auch deshalb, weil die Studentenbewegung zum Teil tatsächlich trade-unionistische Züge hat. Was an der Bewegung jedoch in dieser Charakterisierung nicht unterzubringen war, das galt den Beobachtern, zum Teil auch den beteiligten Studenten selbst, als «Übers-Ziel-Hinausschießen», als «Über-die-Stränge-Schlagen», als «emotional-überhitzt» etc. Wie wenig diese Erklärung weiterhilft, zeigt sich daran, daß gerade das, was nicht unterzubringen ist, am meisten beunruhigt.

In der studentischen Bewegung sind zunächst heterogene Elemente kaum scheidbar gemischt, quasi-gewerkschaftlicher Kampf für eine Demokratische Universität, was immer das sein mag, prinzipielles Infragestellen der repräsentativen Demokratie zugunsten plebiszitärer Demokratieformen und das Bewußtsein, daß in Vietnam von der US-Regierung Völkermord begangen wird, ein Bewußtsein, das zu Aktionen treibt, die, wegen der in ihnen enthaltenen Ohnmacht, oft den Eindruck von Verzweiflungstaten erwecken.

Der Zusammenhang dieser Elemente der studentischen Bewegung stellt sich erSt etappenweise in der Praxis der Studenten selbst her. Angesichts dessen scheint es eine dringende Aufgabe für die Theorie zu sein1 die diese Bewegung beobachtet, und ihre Richtung bestimmt, in der erneuten Analyse dessen, was man recht unklar mit "Hochschulreform" bezeichnet, und zugleich in der Analyse der hochschulpolitischen Praxis der studentischen Bewegung eine bestirnmtere Verständigung darüber zu gewinnen, wie sich der Zusammenhang zwischen universalem politischen Engagement und einer Praxis herstellen kann, die sich auf einen so partiellen Punkt, wie es die Hochschule ist, richtet.

Zunächst ist noch auf eine Eigenart der studentischen Bewegung einzugehen, die für dieses Kapitel von Bedeutung ist. Aus dem groben Überblick über die Ereignisse an der FU geht hervor, daß Studentenunruhen meist zunächst allgemein-politische Anlässe hatten und nur selten spezifisch hochschulpolitische. Zugleich läßt sich beobachten, daß diese allgemein-politischen Anlässe oft von einer relativ kleinen Zahl Studenten hervorgerufen wurden. Die Unterstützung entscheidender Teile der Studentenschaft gewannen diese politischen Aktionen, wenn sie zu institutionellen Konflikten in der Hochschule führten. Die universitären Institutionen, in der ersten Phase meist das Rektorat, die gegen politische Aktionen einschritten, aktivierten erst dadurch zunächst unbeteiligte Studenten gegen sich. Ebenso beschäftigten sich die zunächst unbeteiligten Studenten mit den Vorstellungen, die in jenen politischen Aktionen enthalten waren, offenbar erst dann, als diesen Aktionen seiteps der Universität Restriktionen widerfuhren. Diese gegenseitige Erhellung - die unterdrückten politischen Aktionen erhellten die unterdrückenden Institutionen für eine relevante Masse der Studenten, die unterdrückenden Institutionen erhellten die unterdrückten politischen Aktionen für eine relevante Masse der Studenten weist auf einen Zusammenhang von Universität und Politik in den praktischen Auseinandersetzungen hin, in dem die, im engen Sinne, hochschulpolitischen Konflikte auf eine politische Aktivierung angewiesen scheinen. Darin scheint die praktische Auseinandersetzung selbst die Vorstellung einer Hochschulpolitik korrigiert zu haben, die die inneruniversitären Widersprüche und Konflikte als eigenständige und isolierbare Sphäre begreift und behandelt.

Wenn also auch in der Wirklichkeit meist politische Praxis von Studenten die hochschulpolitische Auseinandersetzung und damit die Forderung nach Hochschulreform in ein entscheidendes Stadium brachte, so werden wir in diesem Kapitel doch umgekehrt vorgehen. Wir werden die Widersprüche der Hochschule so darzustellen haben, daß einsichtig wird, weshalb sie dann in ihr krisenhaftes Stadium treten, wenn sie sich nicht allein hochschulpolitisch, sondern auch politisch artikulieren. Dabei können wir nicht allein systematisch vorgehen. Vielmehr müssen wir zugleich historisch die Momente an den Universitätswidersprüchen herausarbeiten, die ihre politische Entfaltung ermöglichen. Andernfalls würden wir nur den falschen Eindruck erwecken, als seien plötzlich, etwa 1964, klügere studentische Hochschulpolitiker auf dem Aktionsfeld erschienen als zuvor. Diese historischen Bedingungen sind in diesem Kapitel an der Entwicklung des Verhältnisses der bürgerlichen Gesellschaft zur Wissenschaft darzulegen.

I.Von der antifaschistischen zur technokratischen Hochschulreform

a) Für das öffentliche Bewußtsein existiert erst seit wenigen Jahren eine Vorstellung von der Notwendigkeit, die Hochschulen zu reformieren. Die mit Siogans wie Bildungskatastrophe verkaufte Krise des gesamten Ausbildungssystems überkam die westdeutsche Öffentlichkeit wie ein Gewitter aus heiterem Himmel. Bis 1963 hatte es für sie dieses Problem nicht gegeben.

Die Universitätsangehörigen, insbesondere die Studenten, kennen das Wort Hochschulreform nicht erst seit wenigen Jahren. Sehen wir hier der Einfachheit halber von den Reforrodebatten vor dem Zweiten Weltkrieg ab, so kann man feststellen, daß seit ,945 die Notwendigkeit einer radikalen Umgestaltung von den Universitätsbürgern, die sich mit dem Problem befaßt haben, anerkannt ist. Als zum Beispiel 1948 von Studenten die FU gegründet wurde, schien die allgemeine und radikale Universitätsreform so unmittelbar bevorzustehen, daß die Gründer sich bei der Ausarbeitung der FU-Satzung darauf beschränkten, lediglich Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß die erwartete umfassende Reform ohne Schwierigkeiten in der FU durchgeführt werden könnte. Diese institutionalisierten Voraussetzungen zu einer umfassenden Reform erlangten, da diese ausblieb, unter dem Namen Berliner Modell eine Berühmtheit, als seien sie selbst diese Reform. Die westdeutschen Universitäten wagten es nicht einmal, diesem Berliner Modell (5. J86/187) zu folgen.

Die Todeskrise der deutschen Universität, die ihre fundamentale Neugestaltung erfordert, erblickten die Universitätsangehörigen am Ende der vierziger Jahre im Versagen dieser Universität während des deutschen Faschismus. Nicht ihre Schwäche, den Produktionserfordernissen des Spätkapitalismus nur schlecht zu genügen, wie es ihr heute zum Vorwurf gemacht wird, galt damals als Zeichen ihrer Überholtbeit; damals wurde ihre radikale Reform gefordert, weil sie sich für Zwecke der Barbarei mißbrauchbar erwiesen hatte. Ihre Neugestaltung galt als ein Teil der Überwindung des Faschismus. Auch wenn die damalige Kritik über die technizistische Dimension der heutigen, offiziellen Hochschulkritik weit hinausgelangt war, so entsprach sie dennoch eher einem moralischen, denn einem politischen Bewußtsein; das Entsetzen, die Scham über die Greuel des Faschismus, nicht ein politisch-historisches Begreifen des Faschismus waren das Zentrum dieses Bewußtseins. Immerhin verharrte diese Kritik nicht bei den Ausnahmen, etwa bei Blonder Mathematik, sondern wandte sich der Frage zu, wieso die bewährten, exakten Wissenschaften gegenüber dem Faschismus Hilflosigkeit, Passivität oder gar Willfährigkeit gezeigt hatten, wieso sie zu keinerlei Widerstand fähig gewesen waren. Aber in dem Maße, wie der Faschismus selbst geheimnisvoll blieb, blieben auch diese Fragen unbeantwortet. Der Satz Horkheimers - «Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen» - enthüllte erst nach 1945 seinen geschichtlich-praktischen Charakter: Ohne Begriff vom Faschismus, ohne Begriff vom Zusammenhang zwischen bürgerlicher Produktionsweise und Faschismus, konnte das Unbehagen an der deutschen Universität bis zur abstrakten Forderung nach einer generellen Reform gelangen; welche bestimmte Reform jedoch dem Übel an die Wurzel ginge, mußte unklar bleiben; noch mehr das Problem, wie solche Reform unter den konkreten Bedingungen nach 1945 politisch durchzuführen wäre. Die vereinzelten Schritte, die unternommen wurden, wie zum Beispiel das Verbot schlagender Verbindungen an der FU oder, weit wichtiger, die formal-demokratische Strukturierung der studentischen Selbstverwaltungen, blieben in der Nebelhaftigkeit des von den West-Alliierten geförderten Reeducation-Programms befangen. Ein abstrakter Demokratiebegriff negierte den abstrakten Begriff von Faschismus. Die zwischen 1945 und 1949 stattfindenden Kämpfe zwischen den Klassen und Schichten der Gesellschaft darüber, wie in der neuen Demokratie die Interessengegensätze ihren Austrag finden sollten, um die konkrete Bestimmung von Demokratie also, wurden von den Akademikern als allgemein-politische Auseinandersetzungen angesehen, die man als politisch Interessierter verfolgte. Daß der Ausgang dieser Kämpfe zugleich die Entscheidung über die eigenen Reformforderungen bringen würde, begriff man ucht - oder doch nur deklamatorisch - und damit auch nicht die Notwendigkeit, sich für die neue Universität mit den Klassen und Schichten praktisch, im politischen Kampf, zu verbünden, deren bestimmtes Interesse an Demokratie die Grundlage einer neuen Universität bilden könnte.

Dadurch, daß die Hochschulreform ein Problem für Akademiker blieb, waen alle Reformpläne dazu verurteilt, in den Bücherschränken von Interessierzu verstauben. Nicht eine gesellschaftliche Kraft, keine Partei, kein Interessenverband stand hinter der Forderung nach radikaler Neugestaltung der Hochschule. Und die Periode nach 1948, die Zeit des Wirtschaftswunders und des Kalten Krieges, hatte andere Probleme. Die Akademiker standen allein; allein waren sie jedoch keine gesellschaftlich relevante Kraft.

Als 1948 die farcenhafte Idylle frühliberaler Zustände für die Tri-Zone proklamiert wurde, schrumpfte die Zahl der Studenten und Hochschullehrer, die sich für die Neugestaltung der Universität engagierten. Es galt, war doch mit den 40 DM scheinbar jedem die gleiche Chance gegeben, sich zu beeilen, um diese Chance zu nützen. Die Universität zu kritisieren, anstatt sie schnell zu durchlaufen, hätte Aufenthalt bedeutet. Die wenigen verbliebenen akademischen Reformer führten ein isoliertes Expertendasein. Beschworen sie verzweifelt emeut die Erfahrungen mit dem Faschismus, so nannte man sie die «ewigen Fünfundvierziger», falls man ihnen nicht bedeutete, erst einmal den Stalinismus zu kritisieren.

In dem Maße, wie jede Aussicht schwand, die umfassende Reform wirklich durchführen zu können, in dem Maße verflachte auch, oder ästhetisierte sich gar, die Reform-Debatte in den Hochschulen: Studium Generale oder Überwindung der Elfenbeinturm-Universität waren nun die Gegenstände, an denen sich die Akademiker in der gut-restaurierten Universität über universitäre Schwierigkeiten verständigten. Unterdessen verschlechterte sich die Arbeitssituation in der Universität mit dem Anwachsen der Studentenzahlen während der fünfziger Jahre rapide. lene schöngeistigen Themen sind die ersten Reflexe darauf.

In dieser festgefahrenen Situation änderten gegen Ende der fünfziger Jahre die Studentenvertreter ihre Strategie. Sie stellten das Ziel Hochschulreform zurück und konzentrierten sich auf einen partiellen Aspekt, auf die sogenannte Studienreform. Dies entsprach den dringendsten Bedürfnissen der Studenten, die in heillos überbelegten Lehrveranstaltungen und mit völlig unzureichenden Bibliotheksbeständen studierten und aus einem, keinerlei Konzeption verratenden Lehrangebot das ihnen Dienliche sich aussuchen mußten. Dieses Zurückschrauben der Ziele geschah nicht ganz einheitlich. Während die repräsentative Studentenvertretung auf Bundesebene, der Verband Deutscher Studentenschaften (VDS), ihre Studienreformstrategie vor allem auf die Hochschul-Neugründungen ausrichtete, erarbeitete zur gleichen Zeit der Sozialistische Deutsche Studentenbund eine Denkschrift, die an einem Modell für die Neugestaltung der gesamten Hochschule festhielt, auch wenn praktisch der Schwerpunkt auf Vorschlägen lag, die der Neugestaltung des wissenschaftlichen Studiums vor allem zugute gekommen wären.

Die Reduktion der Ziele war jedoch keine wirkliche Neubestimmung studentischer Strategie; sie war eher Ausdruck einer unbestimmten Verpflichtung, irgend etwas tun zu müssen. Die sich darin äußernde (um die terminologische Anlehnung an Arnold Gehlen einen AugenMick beizubehalten:) «überschüssige Antriebsenergie» der Studentenpolitiker verdankte sich wohl auch dem begonnenen Abklingen des Kalten Krieges: für den VDS verloren die «gesamtdeutschen» Scharmützel gegen die FDJ an Bedeutung; der SDS war über Antikommunismus nicht mehr auf den pragmatischen Kurs der SPD einzuschwören. Dennoch wiederholten sowohl der VDS wie auch der SDS den grundsätzlichen Fehler jener. Reformer, die sich nach 1945 um die Neugestaltung der Universität bemüht hatten. Sie leiteten die Wichtigkeit und Richtigkeit ihrer Forderungen vom Begrifl einer demokratischen Gesellschaft ab. Indem sie aber zugleich darauf verzichteten - der SDS weniger als der VDS -, die spezifische, historische Differenz zwischen ihrem Begriff von Demokratie und der wirklichen Demokratie in der Bundesrepublik herauszuarbeiten, um von daher bestimmen zu können, mit wem und gegen wen in der Bundesrepublik ihre Vorstellungen zu verwirklichen wären, verzichteten sie im Grunde auf die Verwirklichung ihrer Forderungen selbst. So war die Konzentration auf die Studienreform nicht begleitet von einer Aufarbeitung der Niederlage, die zuvor mit der Forderung nach Hochschulreform erlitten wurde, und so blieben auch die reduzierten Forderungen akademische Appelle, um die sich niemand kümmerte. Die Studienreformforderungen verraten, wie zehn Jahre zuvor die Hochschulreformforderungen, die politische Hilflosigkeit von Akademikem, die zu glauben scheinen, man brauche nur gut zu argumentieren und die guten Argumente zu veröffentlichen. dann werde schon das Mögliche geschehen. Diese Naivität ist nicht einmal rührend. Denn sie findet sich notwendig als Fehler in den guten Argumenten wieder. Die Verwechslung der wirklichen Gesellschaft mit einem, notwendig recht abstrakten Begriff von Demokratie, oder doch die Gleichgültigkeit gegenüber der Differenz, die zwischen diesem Begriff und der wirklichen Gesellschaft waltet, führt dazu, von einer grundsätzlichen Widerspruchslosigkeit in dem Verhältnis auszugehen, das zwischen bürgerlicher Gesellschaft und Wissenschaft besteht. Diese grundsätzliche Widerspruchslosigkeit jedoch vorausgesetzt, verwandeln sich die verbleibenden Widersprüche und Probleme zu technischen Realisationsschwierigkeiten; damit verwandeln sich zugleich die eigenen Reformvorschläge in Expertengutachten zum souveränen Gebrauch der Ministerialbürokratie, gegen deren Verwendung beziehungsweise Nicht-Verwendung durch diese Bürokratie vernünftigerweise nichts einzuwenden ist. Denn diese Bürokratie ist dann notwendig die allein kompetente Instanz für die finanzielle und verwaltungsmäßige Technik, mit der die Vorschläge verwirklicht werden müssen. Verschleppungen dieser Bürokratie, die selbst dieser akademischen Naivität schwer erträglich erscheinen, haben dann ihre Ursachen allenfalls in der persönlichen Unzulänglichkeit des einen oder anderen Beamten oder Ministers. Dagegen kann man protestieren; und es ist erstaunlich, daß es vereinzelt, vor allem in kleineren Universitätsstädten, gelang, für solche unpolitischen Proteste Studenten zu Demonstrationen zu bewegen.

Entsprechend nahmen die studentischen Vorschläge selbst immer mehr den Charakter an, partikulär dem einen oder anderen allzu unerträglichen Mißstand zu begegnen. Die Resignation darüber, ein umfassendes Studienreformkonzept nicht durchsetzen zu können, brachte die Studentenvertreter zu einem ,ragniatismus, dessen partikuläre Schritte keinem Konzept mehr folgten. In Jieser Situation vertraten die Studentenvertreter Forderungen, die sie später, als sie sich aus dieser pragmatischen Phase befreiten, revidieren mußten (vor allem die Forderung nach Zwischenprüfungen). Zu dieser Revision trug es allerdings wesentlich bei, daß in dem Reform-Boom, der ab 1962 vor allem seitens der Wirtschaftsbürokratien betrieben wurde, einzelne der studentischen Forderungen in einem Reformkonzept Aufnahme fanden, in dem die Absichten, die die Studenten mit diesen Forderungen verfolgten, schlechthin auf den Kopf gestellt waren.

Über dieser Kritik darf man jedoch nicht vergessen, daß die Studienreform- beziehungsweise Hochschulreform-Konzepte, die VDS und SDS in ihren Denkschriften Anfang der sechziger Tahre formulierten, auf die spätere Wendung der Hochschulpolitik zur Hochschulrebellion großen Einfluß ausübten. Den Ausgangspunkt von einem, wenn auch abstrakten, Demokratiemodell zu wählen (vor allem in der SDS-Denkschrift), war immerhin Kritik an der pragmatischen Behandlung der Hochschulprobleme durch die Ministerialbürokratie, auch wenn dieses abstrakte Modell keinen wirklichen Damm dagegen bot, daß die Studentenvertreter selbst dem Pragmatismus anheimfielen. Als später Studenten den Pragmatismus ihrer Vertreter zu kritisieren begannen, war besonders die SDS-Denkschrift eine wichtige Hilfe für sie.

1962/63 geschahen dann die Wunder und Zeichen, aus denen die erschöpften akademischen Reformer hätten lernen können. Was ihnen in 15 Jahren nicht gelungen war, gelang wenigen Personen vom Schlage Dichgans, die freilich nicht allein Bundestagsabgeordnete, sondern auch noch Spitzenbürokraten in Industrieverbänden waren, in einem halben Tahr; die Öffentlichkeit der Bundesrepublik forderte plötzlich dringlich die Reform des Ausbildungssysterns, insbesondere der Ausbildung durch die Hochschulen. Die öffentliche Diskussion über den Bildungsnotstand, der 1965 sogar ein wichtiges Thema innerhalb des Wahlkampfs für die Bundestagswahlen wurde, ist allgemein bekannt. Wir werden uns im folgenden Abschnitt darauf beschränken, an diesem Bildungsreform-Boom zunächst nur den wichtigsten Widerspruch herauszuarbeiten, von dem her es möglich wird, das grundsätzliche Verhältnis zwischen bürgerlicher Gesellschaft und Wissenschaft anzugehen.

b)

Glaubt man den Artikeln, Stellungnahmen, Reden und Büchern, die sich seit 1962 mit der Krise von Ausbildung und Wissenschaft in der Bundesrepublik befassen, so gibt es im Grunde nichts Einfacheres und Selbstverständlicheres als den Zusammenhang zwischen wissenschaftlichem Fortschritt und gesellschaftlichem Fortschritt. Allerdings muß man dabei zunächst außer acht lassen, daß die administrative Durchführung der Strukturänderungen, die Ausbildung und Wissenschaft den gegenwärtigen gesellschaftlichen Erfordernissen anpassen würden, doch einige Schwierigkeiten bereitet. Diese Schwierigkeiten werden jedoch als äußere Umstände behandelt, die nichts an dem grundsätzlichen Verhältnis zwischen Wissenschaft und Gesellschaft ändern, welches Verhältnis klar und durchsichtig scheint.

Man kann an einem beliebigen Tage die Zeitung aufschlagen und findet Meldungen wie diese: «Europa ist auf dem Marsch in die Zukunft zurückgefallen, weil ihm zwei Dinge fehlen, die zum Fortschritt führen: Massenbildung und modernes Management. Mit dieser harten Diagnose begründete US-Verteidigungsminister McNamara [...J », oder wie diese, am gleichen Tag veröffentlichte Meldung: [....] sagte der Minister [Stoltenberg] in Göttingen, nur durch die Bildung von Schwerpunkten sowohl bei der wissenschaftlichen Entwicklung als auch beim Ausbau der wissenschaftlichen Einrichtungen, vor allem der Hochschulen, werde es möglich sein, den weltwirtschaftlichen Wettbewerb zu bestehen».

Die Formel lautet also: «Wissenschaftliche Entwicklung», «Massenbildung» und «Management» garantieren «Fortschritt»; «Fortschritt» bedeutet, den «weltwirtschaftlichen Wettbewerb bestehen».

Der historisch-ökonomische Zusammenhang, dem solche Meldungen entstammen, ist weitgehend bekannt; er kann deswegen hier sehr gekürzt wiedergegeben werden. Zu Beginn der sechziger Jahre war der Abstand der technologischen Entwicklung der Produktionsmittel in der Bundesrepublik zu der in den USA so groß geworden, daß er sich als ernste Gefährdung der Absatzmöglichkeiten der westdeutschen Produkte auf dem Weltmarkt abzuzeichnen begann. Die Entstehung dieser relativen technologischen Rückständigkeit hat verschiedene Ursachen. Die zweifellos wichtigste ist, daß die westdeutsche Industrie ihre gute Weltmarktposition während der fünfziger Jahre gerade dieser relativen Rückständigkeit ihres technologischen Niveaus verdankte: Durch die Zuwanderung großer Teile der Bevölkerung aus den Ostteilen des ehemaligen deutschen Reiches stand 1948 eine fast unerschöpfliche Arbeiterarmee bereit, die über ein einheitliches Qualiflkationsniveau verfügte. Wenn das technologische Niveau der wiederaufzubauenden Produktionsanlagen dem einheitlichen Qualifikationsstand der überreichlich vorhandenen menschlichen Arbeitskraft entsprach, dann ließ sich auf diesem, eben nur im Vergleich zu Industrienationen wie der USA und der UdSSR rückständigen, ansonsten hochentwickelten technologischen Niveau deshalb ein erfolgreicher Konkurrenzkampf durchführen, weil bei der dann gegebenen fast unbeschränkten Austauschbarkeit qualifizierter Arbeitskräfte die Lohnkosten sich auf einem extrem niedrigen, das heißt extrem profitablen Stand halten ließen. Der DGB, der seine Strategie auf Beseitigung der Arbeitslosigkeit zu allen Bedingungen abgestellt hatte, war dieser Lohnstrategie der Kapitalisten ein äußerst kooperativer Partner. Allein der Aufbau der dieser Arbeitsmarktlage optimal entsprechenden und deshalb ein wenig traditionellen Produktionsanlagen und der ihnen entsprechenden infrastrukturellen Faktoren konnte unter diesen Bedingungen, noch dazu mit Kapital aus den USA versorgt, ein "Wirtschaftswunder" hervorbringen, über das man sich an seinem Ende erst richtig zu wundern beginnen würde. Selbst die ja kaum entfiochtene Schwer- und Investitionsgüterindustrie, die ihres hohen Konzentrations- und Organisationsgrades wegen stets zuerst in die Schwierigkeit der Überkapazitäten gerät, konnte unter diesen Bedingungen, selbst bei nur minimalen Staatsinterventionen vermittels Rüstung, zunächst florieren.

Die Stagnation des technologischen Niveaus, die die Basis des Wunders war, war jedoch Resultat noch einer weiteren Bedingung. Die Machtaufteilung unter den kapitalistischen Staaten, die Resultat des Zweiten Weltkriegs war, hätte auch kaum eine andere Fntwicklungsmöglichkeit geboten. Die USA, die kapitalistische Hauptmacht, hatte erst in dem gewaltigen Rüstungsboom des Zweiten Weltkriegs die Krisenerscheinungen der Weltwirtschaftskrise überwinden können; die sich dabei voll ausbildende Produktionsstruktur der USA verlangte deswegen nach 1945 von der US-Regierung, dafür Sorge zu tragen, daß die Aufrüstung der NATO-Länder in erster Linie unter den Bedingungen der Schwer- und Investitionsgüterindustrie der USA, die auf diese Aufrüstung angewiesen war, vonstatten ging. Dies bedeutete aber, daß die destruktive Produktion, die unter kapitalistischen Bedingungen der technologischen Entwicklung, indem sie deren Auswirkungen von der Konsumspliäre abwendet, die entscheidenden Hemmnisse der Entfaltung nimmt, bei der Schwer- und Investitionsgüterindustrie der USA monopolisiert wurde. Der Organisationsgrad der amerikanischen Industrie und des amerikanischen Kapitals, der schon in den zwanziger Jahren den der europäischen Industriestaaten weit übertraf, bildete zudem die materielle Voraussetzung dafür, daß im globalen Wettrüsten des Kalten Krieges in den USA technologische Entwicklungen stattfinden konnten, die ab einer gewissen Stufe für die Kapitale der westeuropäischen Staaten unerreichbar wurden (zumindest bei ihrem heutigen finanzkapitalistischen wie politischen Organisationsgrad). Der Ausbau der unmittelbar von Rüstung abhängigen Industriesektoren war zugleich für einen großen Teil der anderen Industriesektoren der USA die Bedingung ihrer eigenen organisatorischen wie technologischen Weiterentwicklung.

Die Vollbeschäftigung, die die westdeutsche Wirtschaft in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre erreichte, sowie die negative Entwicklung des Bevölkerungszuwachses veränderten gegen Ende der fünfziger Jahre die Arbeitsmarktlage. Damit entfiel nicht allein die Arbeitslosenarmee, die die restriktive Lohnpolitik ermöglicht hatte; ebenso war auch ein wirtschaftliches Wachstumstempo wie in den Jahren des Wunders nicht mehr aufrechtzuerhalten, wenn das Wachstum, wie bisher, in erster Linie in der Ausdehnung des Arbeitsvolumens begründet bleiben würde. Die Abwerbung von Arbeitskräften aus der DDR konnte nur bis zum 13. August 1961 eine gewisse Hilfe schaffen; die hohen Nebenkosten für Gastarbeiter, insbesondere wegen der Notwendigkeit, diese Arbeitskräfte erst entsprechend zu qualifizieren, machten auch diesen Ausweg proMematisch. Es gab nur einen langfristigen Ausweg aus dieser Situation: die systematische Erhöhung der Produktivität der Arbeitskräfte. Dies erforderte nichts Geringeres als die Überwindung der relativen technologischen Rückständigkeit. Diese Rückständigkeit hatte sich bereits während des Wunders als kontinuierliche Verminderung des Produktivitätszuwachses ausgedrückt, obgleich die Investitionsrate gestiegen war.

Der Überwindung der technologischen Rückständigkeit stand nicht allein die Monopolisierung der entscheidenden Rüstungsentwicklungen bei der amerikanischen Industrie im Wege (immerhin löste sich Frankreich, das vor gleichen Schwierigkeiten stand, deswegen aus der politischen, militärischen und wirtschaftlichen Fesselung an die USA). Ebensowenig war die Schrumpfung der öffentlichen Haushalte, ein direktes Resultat der ökonomischen Wachstumskrise, das entscheidende Hemmnis für die Überwindung der technologischen Rückständigkeit, auch wenn diese Schrumpfung die staatlichen Investitionen, vor allem für die zuerst in die Stagnation geratenen Sektoren, unzureichend werden ließ. Die verschiedenen Anstrengungen, die die Bundesrepublik in dieser Situation unternahm, Konzentrationsförderung und Schaffung einer Mindestarbeitslosigkeit vermittels Diskontsatzerhöhung, Große Koalition, Eventualhaushalte, Stabilisierungsgesetz, Finanzreform, Wahirechtsreform und Notstandsgesetze, sind allgemein bekannt. Das Hauptproblem einer systematischen Produktivitätssteigerung bleibt von diesen Maßnahmen jedoch relativ unberührt. Die notwendigen Anderungen der regionalen Strukturen, der Strukturen zwischen den industriellen Sektoren, der organisatorischen wie technologischen Strukturen innerhalb eines Sektors, haben alle eine gemeinsame Voraussetzung: die Weiterentwicklung der Qualifikationsstruktur der menschlichen Arbeitskraft. Es geht nicht mehr allein darum, neue Produktionsverfahren oder gar neue Produktionssektoren zu entwickeln. Jede Entwicklung dieser Art hat zar Voraussetzung, daß die Qualifikationsstruktur der Arbeitskräfte auf das entsprechende Niveau gehoben wird; wie dies auch die Voraussetzung für die Mobilität der Arbeitskräfte ist, die von einer reibungslosen Ablösung industrieller Sektoren erfordert wird.

Es ist also nicht erstaunlich, daß die Ausbildungseinrichtungen, auf Betreiben der Industrieverbände, das öffentliche Interesse auf sich zogen. Angesichts der Tatsache, daß es während der "Wunder"-Periode so gut wie keine Bildungspolitik gegeben hatte, kann es auch nicht verwundem, daß die aufmerksam gewordene Öffentlichkeit über den Zustand der Ausbildungseinrichtungen in Kassandrarufe ausbrach. Katastrophal erschien jedoch nicht allein das Ausbildungssystem, sondern auch die Aussicht, es zu verbessern; die dazu erforderhchen Finanzmassen waren nicht aus öffentlichen Haushalten herauszuholen, die, ohnehin durch die Wachstumskrise knapp geworden, kaum für die allerdringlichsten, kurzfristigen Konjunkturstützungen hinlangten.

Die seit 1962 geführte Kritik am Ausbildungssystem erscheint vor diesem Hintergrund selbstverständlich und ebenso die Forderung, daß das Ausbildungssystem den ökonomischen Erfordernissen angepaßt werden muß. Diese Kritik scheint im Namen des Fortschritts daher zu kommen und so berechtigt zu sein, wie die Forderung, das Straßennetz auszubauen. Jeder Widerstand, etwa seitens der Universität, gegen die Absicht, ihre Leistungen auf die ökonomischen Notwendigkeiten auszurichten, müßte sich wie eine Rehwinkeliade ausnehmen: engstirnig und fortschrittfeindlich. Alle Vernunft hingegen scheint auf seiten der Industrieverbände zu sein: Die Bundesrepublik ist in eine schwierige Wachstumskrise geraten, deren Behebung die konzentrierte Anstrengung aller Bürger erfordert; bei den Reformen des Ausbildungssystems geht es scheinbar zugleich um die Verwirklichung der allerdemokratischsten Forderung, die Bildung der allerbreitesten Schichten der Bevölkerung anzuheben.

Diese Krise bedarf jedoch schon an dieser Stelle einiger Anmerkungen

1. Die gegenwärtige Wachsturnskrise hat eine mangelhafte Qualifikationsstruktur der Arbeitskräfte zur Ursache. Diese Qualifikationsstruktur war in der "Wunder"-Periode die wichtigste Bedingung des wirtschaftlichen Wachstums; denn nur diese gleichmäßige, relativ rückständige Qualifikationsstruktur ermöglichte eine fast unbegrenzte Austauschbarkeit der Arbeitskräfte und damit bei dem gegebenen Arbeitskräfteüberfluß - die niedrigen Lohukosten, die die Voraussetzung des Wachstums bildeten. Die jetzt als Notstand angesehene Qualffikationsstruktur der Arbeitskräfte ist also Voraussetzung und Produkt einer inzwischen überholten Profitstrategie. Es kann deswegen nicht erstaunen, daß der Reichtum, der vermittels dieser Strategie aus den Arbeitskräften herausgeholt wurde, nicht dazu verwandt wurde, die Arbeitskräfte weiter zu qualifizieren.

2. Eine weitere Ursache der gegenwärtigen Wachstumskrise ist die erreichte Vollbeschäftigung. Mit der Vollbeschäftigung erreichte das Kapital eine vorläufige natürliche Grenze der Verwertung menschlicher Arbeitskraft und zugleich eine vorläufige gesellschaftliche Grenze einer Profitstrategie, deren wichtigster Teil, die niedrigen Löhne, die disziplinierend wirkende Existenz einer Arbeitslosenarmee erfordert. Die Wirtschaft geriet also in eine Notsituation, als die Konkurrenz unter den Arbeitern, die für den einen Teil Arbeitslosigkeit und für den anderen Teil niedrige Löhne, die also für beide Teile Nachteile bringt, in der Vollbeschäftigung beendet wurde.

3. Einer der Faktoren der gegenwärtigen Wachstumskrise ist die Monopolstellung der US-Industrie in der entwickeltsten Rüstungsproduktion, die unter kapitalistischen Bedingungen der entscheidende Faktor für die technologische Entwicklung der industriellen Produktion in ihrer Gesamtheit ist. Wenn wir Rüstungsproduktion als den extremsten Ausdruck systematischer Absorption und Zerstörung gesellschaftlichen Reichtums begreifen, so bedeutet dies, daß die Krise hierzulande dadurch mitbedingt ist, daß die westdeutsche Industrie durch die amerikanischen Monopole von der effektivsten Form, systematisch gesellschaftlichen Reichtum zu vernichten, ausgeschlossen wurde.

Wir müssen die Widersprüche, die hier nur angedeutet wurden, in der offiziellen Kritik beziehungsweise in den Reorganisationsplänen verfolgen, denen das Ausbildungssystem, insbesondere die Hochschulen ausgesetzt sind. Dabei beziehen wir uns vor allem auf die Empfehlungen des Wissenschaftsrats [WR] zur Neuordnung des Studiums vom Sommer 1966, die wohl den studierenswertesten Versuch darstellen, die Hochschulkritik der letzten Jahre zu einem System von Reformvorschlägen zusammenzufassen.

Hinter dem Gerede von der Universität als einem mittelalterlichen Handwerksbetrieb inmitten einer hochindustrialisierten Gesellschaft, worin sich die offizielle Hochschulkritik Volkstümlichkeit verschafft, stehen vor allem zwei Vorwürfe gegen die bestehende Hochschule. Der eine, der scheinbar auf die Inhalte der universitären Lehre geht, kritisiert deren zu hochgesteckte wissenschaftliche Ansprüche, die beim überwiegenden Teil der Studenten Unsicherheit und Orientierungslosigkeit hervorrufe; der andere, der auf die Organisation des Studiums geht, kritisiert, daß die Universität es den Studenten «zumute», ihr Studium selbständig zu planen; dadurch werde weitere Unsicherheit verursacht. Beide Vorwürfe gelten also Zuständen, in denen der Student keine Orientierung erlangen könne. In der Unsicherheit der Studenten, so geht die Argumentation, liegen die Ursachen für «überlange» Studienzeiten und für die große Zahl der Studienabbrüche. Zur Abhilfe werden «Konzentration des Lehrstoffes auf das den Berufen dienliche Wissen» und Orientierung bietende obligatorische «Studiengänge» vorgeschlagen; dazu die generelle Einführung von Zwischenprüfungen als Etappenziele und Auslesepunkte wie auch die generelle Begrenzung der Studienzeit auf acht Semester.

Vergegenwärtigt man sich zunächst, daß darüber, was «den Berufen dienliches Wissen» ist, bisher keinerlei Vorstellungen bestehen, so scheinen diese Vorschläge weniger der Orientierung der Studenten als der Orientierung der Finanzminister zu dienen. Denn sie würden eine bessere Kalkulierbarkeit des in die Universitäten gesteckten Kapitals ermöglichen und zugleich den Ausbildungseffekt zumindest quantitativ verbessern. Geht man davon aus, daß heute über 40% der Studenten ihr Studium abbrechen, dies aber bei durchschnittlichen Studienzeiten von etwa elf Semestern, so wäre selbst eine Aussiebquote von 50% eine erhebliche Effektivitätssteigerung, wenn eine Begrenzung der Studienzeiten auf acht Semester durchgeführt würde. Kommt noch hinzu, daß der Hauptaussiebpunkt bereits am Ende des vierten Semesters liegt, so reduziert sich das Risiko der öffentlichen Bildungsinvestitionen noch einmal erheblich. Beide Maßnahmen würden es zudem ermöglichen, daß die ab 1970 rapide steigenden Studentenzahlen auch dann von den Universitäten recht und schlecht aufgenommen werden könnten, wenn - wie zu erwarten - der notwendige Aus- und Neubau von Universitäten wegen der knappen Haushaltslage nur schleppend vorankommt. Die Reform beschränkt sich offenbar auf Rationalisierungsmaßnahmen, die eine out-put-Steigerung der vorhandenen Ausbildungseinrichtungen herbeiführen sollen; sie scheint sich nicht im geringsten darum zu bekümmern, was schneller und von mehr Menschen in den Universitäten erlernt werden soll. Auch die Kritik an den zu anspruchsvollen Inhalten der universitären Lehre widerspricht dem nicht; ihr geht es um die Reduzierung der Studienzeit und damit der Kosten für die Herstellung von Universitäts-Absolventen.

Zu einem Zeitpunkt, da es fast keine wissenschaftlich abgesicherten Kenntnisse über die lnhalte einer den gegenwärtigen und den künftigen Berufsanforderungen entsprechenden Ausbildung gibt, von den Universitäten die «Konzentration auf das den Beruien dienliche Wissen» zu verlangen, dabei jedoch auf eine strikte Trennung von theoretischem und praktischem Studium zu bestehen, verrät nur Desinteresse an den Inhalten der theoretischen Ausbildung. Firmen wie IBM scheinen sich darauf eingestellt zu haben, daß sie den Hochschulabsolventen zu Beginn des Arbeitsverhältnisses den Unterschied zwischen universitärer und produktionsrelevanter Mathematik klarmachen müssen. Ähnlich steht es mit den industriellen Erwartungen an den akademisch ausgebildeten Nachwuchs in den Sektoren Chemie, Physik, Biologie, Medizin und Wirtschaftswissenschaften. «Was Sie auf der Universität gelemt haben, ist ja ganz schön; aber nun geben Sie acht, worum es wirklich geht» - dieser Satz, in der einen oder anderen Form, wird an die Universitäts-Absolventen in der Regel beim Eintritt in die Berufspraxis gerichtet. Die Differenzen zwischen jungen Referendaren und altgedienten Schulmännem - «die Praxis richtet sich nicht nach den schönen Grun~ätzen, die Sie auf der Universität gelernt haben» - sind inzwischen sogar zur literarischen Figur avanciert.

Sieht man an dieser Stelle von der altbekannten Theoriefeindschaft ab, die darin zum Ausdruck kommt, so könnte man fast vermuten, seitens der Industrie beziehungsweise der öffenflichen Institutionen würden überhaupt keine bestimmten Anforderungen an die Ausbildung durch die Universitäten gestellt. Dabei hatte uns gerade die grobe ökonomische Analyse der gegenwärtigen ökonomischen Schwierigkeiten, die zur öffentlichen Kritik am Ausbildungssystem geführt haben, gezeigt, daß zur Überwindung der gegenwärtigen Wachstumskrise eine recht genau bestimmbare Hebung der Qualifikationsstruktur der Arbeitskräfte erforderlich ist. Diesen Widerspruch erklärt nicht zufriedenstellend der Hinweis auf die angespannte Lage der öffentlichen Haushalte, die nur provisorische Reformmaßnahmen ermögliche; auch wenn zweifellos die Budgetschwierigkeiten nicht außer acht gelassen werden dürfen. Die Indifferenz der Hochschulkritiker gegenüber den Inhalten der universitären Lehre hat offenbar auch nichts mit dem Interesse an einer Ausbildung zu tun, in der weniger anwendbares Wissen als vor allem die Fähigkeit erworben würde, auftretende Probleme selbständig wissenschaftlich lösen zu können. Auch wenn eine solche Ausbildung dem technologischen Stand der Produktion entsprechen würde, so ist doch deutlich die Reform, die jetzt von den Ministerial- und Wirtschaftsbürokratien betrieben wird, gerade gegen solche Ausbildung zu wissenschaftlicher Selbständigkeit gerichtet. Dies zeigt nicht allein die Kritik an der heutigen universitären Lehre1 der gerade ihr - kaum noch erstrebtes - Ziel als zu anspruchsvoll vorgeworfen wird, in der Einheit von Forschung und Lehre zu dieser wissenschaftlichen Selbständigkeit führen zu wollen. Deutlicher geht dies noch aus der, auch viel eindringlicher und mit detaillierten Beseitigungsvorschlägen betriebenen Kritik an der eigenständigen Studienplanung der Studenten hervor. Wenn der WR für die Abschaffung dieser Eigenständigkeit im Studium plädiert, weil sie erst in der Berufspraxis ihren Platz habe, so ist das nicht einmal schwarzer Humor.

Die Studenten, die in der Vergangenheit vergeblich für Hochschul- und Studiumreform eingetreten waren, hatten nicht in erster Linie eine Beschleunigung, sondern vor allem eine qualitative Anderung des Studiums erstrebt. Aus diesem Grunde hatten sie ihre Kritik vor allem gegen die hierarchische Universitätsstruktur gerichtet, die - wie sie einleuchtend darlegten - gegenüber neuen wissenschaftlichen Arbeitsformen, die die wissenschaftliche Entwicklung fordere, sich als unfiexibel, ja hemmend erweise. Als dann die Dichgans-Reformdebatte begann, versuchten diese Studenten ihren vermeintlichen Reform-Partnern klarzumachen, daß die Reform vor allem das Ende der hierarchischen Universitätsstruktur bringen müsse. Sie wiesen auf die unausgeschöpfien Reserven hin, die eine Demokratisierung der Universität freisetzen würde. Ihre Vorschläge wurden jedoch nicht beachtet.

Die Indifferenz gegenüber den Inhalten universitärer Lehre, solange sie nicht die wissenschaftliche Selbständigkeit der Absolventen fördern, wie auch die Gleichgültigkeit gegenüber der "Leistungssteigerung", die durch den Abbau der hierarchischen Universitätsstruktur zu erreichen wäre, ist zunächst erstaunlich, wenn man sich die tatsächlichen Schwierigkeiten ins Gedächtnis ruft, die gerade durch die Vernachlässigung der Qualifikationsstruktur, also des Ausbildungssystems, verursacht wurden. Eine Planung akademisch ausgebildeten Nachwuchses, die sich in der gegenwärtigen ökonomischen Situation vor allem gegen ein durch selbständiges Forschen und Entscheiden bestimmtes Lernen richtet und sich gleichgültig demgegenüber verhält, was gelernt wird, folgt offenbar Ausbildungszielen, von denen wir bisher wenig ahnen.

Die im Namen des Fortschritts daherkommende Kritik an den unzulänglichen Ausbildungseinrichtungen1 deren Vernunft dem ersten Blick so offenkundig erschien, verlangt offenbar eine genauere Analyse; wir sind genötigt, uns - kurz und vereinfachend - dem grundsätzlichen Verhältnis historisch und systematisch zuzuwenden, das zwischen der bürgerlichen Gesellschaft und der Wissenschaft, insbesondere den Universitäten besteht.

II. Universität und Kapital

a) Bekanntlich machten die alten feudalen Universitäten in den Staaten, die später zum Deutschen Reich politisch zusammengefaßt wurden, gerade zu der Zeit eine tiefe Krise durch, die sich vor allem in Universitätsauflösungen äußerte, als in Frankreich am Ende des i8. Jahrhunderts die Feudalgesellschaft ihren entscheidenden Zusammenbruch erlitt. Als zu Beginn des 19. Jahrhunderts die neue, die bürgerliche Gesellschaft - trotz aller Heiligen Allianzen - sich geschichtlich durchgesetzt hatte, wurde in Preußen die neue deutsche Universität geschaffen, deren Form - im wesentlichen unverändert - bis zum heutigen Tage die deutschen Universitäten strukturiert. (Wir sehen hier von der Universitätsentwicklung in der DDR ab.) Dennoch war die neue deutsche Universität, die in Berlin ihren Prototyp erhielt, keine bürgerliche Universität.

Die deutschen Staaten, die aus dem Sieg über Napoleon 1. hervorgingen, waren nach wie vor Feudalstaaten. Wollten sich große feudale Staaten wie Preußen gegen die entstehenden bürgerlichen Nationen, deren unvergleichliche Kräfteentfaltung durch Napoleon ja gerade demonstriert worden war, behaupten, so konnten sie es sich jedoch kaum noch erlauben, die Entwicklung der bürgerlichen Produktionsweise allzu stark zu hindern. Schon die antibürgerlichen militärischen Interessen verlangten eine gewisse ökonomische Entfaltung des Bürgertums in den Feudalstaaten. Zumindest in der Tendenz bedeutete dies, daß der Staat, der nach wie vor unter alleiniger Regie des Adels stand, nicht mehr den Interessen des Adels als Klasse dienen konnte, ohne eine Politik für zwei Klassen zu betreiben. Die Aufgabe war, den Adel die Politik für das Bürgertum führen zu lassen, das es ökonomisch zu tolerieren, ja zu fördern, politisch jedoch in jedem Fall entmündigt zu halten galt. Erst in dieser Situation gewann der Begriff des "Obrigkeitsstaats" seinen Sinn. Diese Ausweitung der Funktion des Feudalstaats erforderte den Typ eines Staatsdieners, der nicht mehr allein ein willfähriges Werkzeug der Willkür und Beschränktheit der Adligen sein durfte, sondern auch der Spezialist des Klassenkompromisses innerhalb des Spielraums, den die Feudalklasse als Ganze zugestand beziehungsweise zugestehen mußte. Der Ausbildung dieses neuen, universalen Staatsbeamten sollten die neuen Universitäten in erster Linie dienen. Die wissenschaftliche Betätigung, in «Einsamkeit und Freiheit» ausgeübt, sollte die Erziehung der Persönlichkeit gewährleisten, die über den Partikularinteressen der Schichten und Klassen stünde. Auch wenn die Männer um Humboldt diese neue Universität gegen Widerstände aus dem Adel durchsetzen mußten, ist dennoch der feudale Charakter dieser Universität darin unverkennbar, daß sie direkt auf die Bedürfnisse einer Gesellschaft zugeschnitten wurde, die mit der universal gebildeten Beamtenpersönlichkeit der bürgerlichen Gewaltenteilung im Staat zu entrinnen suchte.

Dennoch ist nicht zu übersehen, daß die Humboldtsche Universität wie kaum ein anderer Teil der preußischen Reformen zu Beginn des 19. Jahrhunderts den Kompromiß mit dem Bürgertum verkörperte, welcher Kompromiß zugleich die politische Emanzipation des Bürgertums verhinderte. Die Fiktion des universalen, über den Klasseninteressen stehenden Staatsbeamten, dessen Ausbildung der neuen Universität obliegen sollte, nimmt die Idee einer Gesellschaft vorweg, in der die Klasenwidersprüche aufgehoben wären. Deshalb konnte in dieser neuen Universität der deutsche Idealismus seine Wirkungsstätte finden, der die feudale Gesellschaft theoretisch vollständig überwunden hatte. Im deutschen Idealismus waren die Deutschen, schreibt Marx, «philosophische Zeitgenossen der (bürgerlichen) Gegenwart, ohne ihre histonscl~en Zeitgenossen zu sein». Das Bürgertum, das in anderen Teilen Europas zur politischen Gewalt geworden war, blieb hierzulande Idee, geknüpft an die Bildung einer Persönlichkeit, die nicht Diener eines idealen Staats, sondern des Feudalstaats war. Seinen institutionellen Ausdruck fand dieser feudale Charakter der neuen Universität in ihrer hierarchischen Struktur, die im Lehrstuhlinhaber die Karikatur des aufgeklärten absoluten Fürsten hervorbrachte.

Die deutsche Bourgeoisie sah jedoch auch dann, als sie am Ende des 19. Jahrhunderts ihre politische Emanzipation grundsätzlich erlangt hatte, keine Notwendigkeit, diese feudale Universität durch eine bürgerliche zu ersetzen. Da, wo die Entwicklung der bürgerlichen Produktionsweise die Entfaltung technischer Wissenschaft in einem Ausmaße verlangte, das nicht mehr privat von den Unternehmen sichergestellt werden konnte, ließ die Bourgeoisie vom Staat technische Hochschulen, die gegenüber den Universitäten minderprivilegiert waren, wie auch die entsprechenden Schultypen schaffen. In diesen technischen Ausbildungseinrichtungen, die die Universität zumindest institution4l unberührt ließen, hat wohl die ganze bürgerliche Bildungspolitik ihren Ausdruck. Die Produktion technischen, für die Akkumulation des Kapitals relevanten Wissens sowie die Produktion der entsprechenden Qualifikation der Arbeitskräfte gesichert, galt es für angemessen, die Söhne der eigenen Klasse auch noch jene feudal bestimmte Bildung erwerben zu lassen, die das nüchterne Ausbeutungsgeschäft ein wenig vermenschlichen sollte. Dafür schien die Humboldtsche Universität geeignet. Zwar hatte es unmittelbar nach dem März 1848 vereinzelt Tendenzen gegeben, eine bürgerliche Volksuniversität zu schaffen; ebenso fanden 1848/49 innerhalb der Universität, zwischen den verschiedenen Graden der Universitätswissenschaftler, Auseinandersetzungen über die feudale, antidemokratische Universitätsstruktur statt. Aber in dem Maße, wie die Bourgeoisie in der zweiten Hälfte des ,9. Jahrhunderts mit dem Adel ihren Frieden machte und damit jedes Interesse an Liberalität in der Gesellschaft verlor, in dem Maße entsprach eher eine Humboldtsche denn eine liberale Universität ihren Wünschen.

Im Gegensatz zur französischen Bourgeoisie erlangte die deutsche im Bündnis mit dem Adel ihre politische Macht. Eine frühbürgerliche Phase, in der die Bourgeoisie zur Entfaltung der bürgerlichen Produktionsweise die Schwächung des Staats und die Minimisierung seiner Funktionen anstrebt und deswegen genötigt ist, zusammen mit der bäurischen und der proletarischen Klasse den gemeinsamen Feind, die Herrschaft des Adels, zu stürzen, eine solche Phase hatte es in den deutschen Staaten nicht gegeben, wenn man die gescheiterte Revolution von 1848 beiseite läßt. In Deutschland erreichte die bürgerliche Produktion ein ökonomisch entwickeltes Stadium unter der ungebrochenen Herrschaft des Adels. Die Bourgeoisie erreichte ihre ökonomische Stärke, die ausgereicht hätte, auch die politische Macht zu übernehmen, zu einem Zeitpunkt, zu dem sie aus zwei Gründen auf ein Bündnis mit dem Adel, der Militärführung und Exekutive nach wie vor stellte, angewiesen war.

Erstens hatte die Entfaltung der bürgerlichen Produktion proletarische Massen erzeugt, die begannen, die umfassende, sozialistische Revolutionierung der feudal-bürgerlichen Gesellschaft anzustreben. Die Bourgeoisie hätte kaum den Adel politisch entmachten können, ohne eine innenpolitische Krise heraufzubeschwören, die für sie selbst hätte tödlich enden können. Es entstand für Adel wie Bourgeoisie die Notwendigkeit, die repressiven Gewaltmittel nach innen zu verstärken. Zweitens mußte auch die nach außen gerichtete Gewalt verstärkt werden Sowohl die Überwindung der politischen Zersplitterung Deutschlands, eine Voraussetzung der weiteren Entwicklung der bürgerlichen Produktionsweise, wie auch die internationale kapitalistische Konkurrenz, protektionistischer Außenhandel und Kampf um zu kolonisierende Erdteile, verlangten eine Außenpolitik, die ohne starke militärische Macht nicht durchführbar gewesen wäre. Die Bourgeoisie benötigte dabei den Adel, der es ihr abnahm, das Offizierskorps und die Ministerialbürokratie aus den eigenen Reihen zu stellen. Der Adel seinerseits benötigte die Bourgeoisie nicht mehr allein wegen der technologischen Entwicklung der Kriegsmittel; seine politische Existenz selbst war an die der Bourgeoisie geknüpft.

Die Kooperation zwischen Adel und Bourgeoisie spielte sich nicht in Legislativgremien ab. Eine politische Emanzipation der Bourgeoisie vermittels des Parlaments hätte das Risiko bedeutet, genau vermittels des Parlaments vom Proletariat entmachtet zu werden. Zur Zeit des Imperialismus und der erstarkten sozialistischen Bewegung distanzierte sich das Bürgertum von der alten bürgerlichen Forderung, daß alle politische Gewalt über das Parlament zu vermitteln ist. Die Kooperation zwischen Adel und Bourgeoisie stellte sich vielmehr über die jeder öffentlichen Kontrolle entzogene Staatsbürokratie her. In dem Maße, wie es der Bourgeoisie mit zunehmender Konzentration der Produktion gelang, den Kapitalmarkt vollständig zu organisieren und damit die Bodenrente selbst dem Kapital vollständig zu unterwerfen, in dem Maße war die Bourgeoisie bei dieser bürokratischen Politik nicht ein ebenbürtiger, sondern ein überlegener Partner des Adels. Die Staatsbürokratie, besetzt und getragen vom Adel, war zum Instrument der Bourgeoisie geworden. Dennoch wurde die bürgerliche Politik feudal geführt: eben mit jener, hinter den im Kapitalismus entwickelten Fffektivitätskalkülen weit zurückbleibenden Irrationalität, der die deutsche Bourgeoisie wahrscheinlich ihre Niederlage im Ersten Weltkrieg verdankte. Die Ausdehnung staatlicher Gewalt nach innen wie außen brachte zugleich eine bürokratische Ausweitung der Staatsmaschine hervor. Diese quantitative Erweiterung der Staatsmaschine entsprach der qualitativen Anderung ihrer Funktion. Der Staat war charakterisiert durch die Form des Bündnisses zwischen Adel und Bourgeoisie, das auf expansive Politik nach außen und repressive Politik nach innen, vor allem gegen die Arbeiterklasse, gerichtet war.

Die Ausbildung der Staatsbeamten in Universitäten mit feudalem Charakter konnte also das Bürgertum, das auf diese Weise zur Macht gelangt war, nicht stören, auch wenn mit der Wandlung im Charakter des Staats zugleich die Funktion der Staatsbeamten verändert war. Stand bei der Universitätsgründung zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Vorstellung eines Staatsapparats im Mittelpunkt, der über die beschränkte Klassenherrschaft des Adels partiell hinausgehen sollte, so war am Ende des 19. Jahrhunderts der Staatsapparat nur noch das Instrument des reaktionären und imperialistischen Klassenbündnisses zwischen Adel und der jeder Liberalität entratenen Bourgeoisie. War zu Beginn des 19. Jahrhunderts universitäre Ausbildung der kleine Brückenkopf gewesen, auf dem die liberal-bürgerliche Epoche im feudalen Deutschland ein, wenn auch unwirkliches, Dasein fristete, so war die universitäre Ausbildung am Ende des 19. Jahrhunderts Funktion innerhalb einer staatlichen Veranstaltung, die sich gegen jede Liberalität richtete. Für diesen Funktionswandel hatte sich nichts an der institutionellen Form der Universität zu ändern brauchen.

b) Es ist zweifellos sehr problematisch, unter Konzentration auf die universitäre Wissenschaft das grundsätzliche Verhältnis zwischen Wissenschaft und bürgerlicher Gesellschaft darstellen zu wollen. Es würde viel näher liegen, bei dieser Darstellung von den technischen Wissenschaften auszugehen. Die technische, instrumentale Dimension von Wissenschaft, die in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts auch die universitären Wissenschaften bestimmte, ist jedoch ein Produkt der etablierten, bereits ihrer Liberalität verlustig gegangenen bürgerlichen Gesellschaft. An der Wiege der bürgerlichen Gesellschaft stand nicht der Positivismus, sondern die Aufklärung. Da, zumal in Deutschland, die Einrichtungen, die der Produktion technischen Wissens beziehungsweise technischer Ausbildung dienen, von einem Staat geschaffen wurden, der in sich die Spannung zwischen liberaler frühbürgerlicher und imperialistischer spätbürgerlicher Epoche in keiner Weise enthielt, ist in diesen technischer Wissenschaft dienenden Einrichtungen auch nichts anderes zu studieren als das Antlitz der verkommenen, ihrem imperialistischen Gebrauch von sich aus keinen Widerstand entgegensetzenden Wissenschaft. Diese widerstandslose, technische Wissenschaft, auf die später ausführlich eingegangen wird, gerade als das Resultat eines politischen Prozesses, der politischen Wissenschaftsgeschichte, darzustellen, sind wir genötigt; wir werden deswegen die politische Wandlung gerade der Wissenschaft verfolgen, der an keiner Wiege gesungen ward, ihre, wenn auch idealistische Aufgeklärtheit zugunsten eines obskuranten Positivismus aufzugeben; also die politische Wandlung der universalen Bildungswissenschaften der Humboldtschen Universität. Der Erhellung dieses politischen Wandlungsprozesses dient es, wenn wir im folgenden Exkurs die Frage weiter verfolgen, warum auch die Institution Universität ihrem antiaufklärerischen, imperialistischen Gebrauch keinen Widerstand entgegenzusetzen vermochte. Bekanntlich waren im Gegenteil die Universitäten am Ende des 19. Jahrhunderts Vorposten des Antisemitismus und des Chauvinismus.

Exkurs

Die Universität als Veranstaltung des Staats widerspricht der liberalen, frühbürgerlichen Gesellschaftsauffassung und Staatstheorie. Für diese Theorie ist die vom Staat getragene Universität, auch wenn es nicht, wie in Deutschland, ein feudaler Staat ist, ein feudales Relikt beziehungsweise ein Produkt des Kompromisses zwischen Bourgeoisie und Adel, wie ja die Gewaltenteilung selbst ein solches Kompromiß darstellt. Dennoch verschafft gerade dies Feudale, daß die Universität Veranstaltung des Staats ist, der Wissenschaft eine gesellschaftliche Dimension, die nicht hinter dem bürgerlichen Verständnis von Gesellschaft zurückbleibt, sondern diesem weit vorauseilt.

Nach dem frühbürgerlichen Gesellschaftsverständnis sollte sich die Totalität von Gesellschaft über das blinde Spiel der partikularen Interessen mit- oder gegeneinander herstellen. Der Markt war der Inbegriff dieser Gesellschaftsauffassung. Allenfalls negativ sollte die gesellschaftliche Totalität als Staat denkbar sein, nämlich als zentralisierte allgemeine Gewalt zur Sicherstellung von Gewaltlosigkeit im gesellschaftlichen Verkehr der ihre partikularen Interessen verfolgenden Individuen.

Es ist hier nicht der Ort, die Scheinheiligkeit dieser Gewaltlosigkeit zu räsonieren, und es reicht deswegen vielleicht aus, einen Satz wiederzugeben, den Bert Brecht seinen Macheath sprechen läßt.. «Was ist ein Dietrich gegen eine Aktie? Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank? Was, mein lieber Grooch, ist die Ermordung eines Mannes gegen die Anstellung eines Mannes?»

Wenn nun der Staat Institutionen und Apparaturen für Wissenschaft bereitstellte und dafür Sorge trug, daß Individuen unabhängig vom Gesetz der Nachfrage wissenschaftlich tätig sein können, so bedeutete dies, daß auf die so organisierte Wissenschaft das freie Spiel der gesellschaftlichen Kräfte keine Anwendung finden sollte. In den Universitäten wurde also ein Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft institutionalisiert, das die bürgerliche Gesellschaft als blinde Totalität negierte. In dieser staatlichen Institution erhielt Wissenschaft die Qualität einer nicht privatisierbaren Dimension, auch wenn zur gleichen Zeit die technischen Wissenschaften, die für das Kapital relevant waren, unabhängig von den universitären Wissenschaften ihre «Revolution» auf privater Basis und zu privatem Nutzen machten. In der Institutionalisierung der universitären Wissenschaften fand ein Mome~nt der Aufklärung einen Ausdruck, das die noch kaum verwirklichte bürgerliche Gesellschaft transzendierte: Sollte, nach Auffassung der Liberalen, dem chaotischen "Spiel" der gesellschaftlichen Interessen dadurch das Zerstörerische genommen werden, daß konzentrierte Gewalt die Gewaltlosigkeit dieses "Spiels" erzwang, so würde, im Gegensatz dazu, Vernunft als staatliche Veranstaltung Zerstörerisches dadurch bannen, daß sie die Blindheit des "Spiels" selbst aufhebt und an ihre Stelle die vernünftig ihre Belange planenden Menschen setzt, das heißt eine sich als Ganze wissende Gesellschaft.

1810 konnte zwar Vernunft in einer staatlichen Anstalt eine Zufluchtsstätte finden; dafür jedoch, daß in staatlichen Veranstaltungen Vernunft walte, hätte Vernunft praktische, politische Kritik werden müssen. In Deutschland wäre zunächst in der restlosen Beseitigung der Feudalgesellschaft die bürgerliche Gesellschaft zu erkämpfen gewesen, über die Vernunft als staatliche Veranstaltung bereits der Tendenz nach hinauswies; dies wäre notwendig Forderung einer Vernunft gewesen, die darin, daß sie zur staatlichen Veranstaltung gemacht wird, ihren Anspruch anerkannt sieht, Wirklich~eit praktisch zu bestimmen. Wenn dagegen Männer wie Humboldt bei der Universitätsgründung sich am gerade restaurierten Feudalstaat orientierten, so standen sie im Begriff, den Staat, der feudalen Klasseninteressen diente, für die Totalität auszugeben, auf die Vernunft hinauswolle. Angesichts solcher Tendenzen verlangten Männer wie Schleiermacher zu Recht, daß die neue Universität nicht der Regie des Feudalstaates unterstehen dürfe, sondern autonom sein müsse. Aber diese Autonomieforderung war von vornherein unkritisch, weil unhistorisch: Sie formulierte nicht die bestimmte Distanz und Kritik gegenüber dem restaurierten Feudalstaat, sondern die Distanz der Wissenschaft gegenüber Staat und Politik überhaupt. In dieser Autonomieforderung verlangte Wissenschaft, von Politik frei zu sein, und versäumte darüber, sich von den politischen Beschränkungen des Feudalstaats zu befreien. Die scheinbar universale kritische Distanz der Wissenschaft machte sie unfähig, gegenüber dem Nächstliegenden in wirkliche Distanz zu treten. Sie verlangte uneingeschränkte Entfaltung für Vernunft und verfehlte die Hinwendung zur vernunftgebotenen Praxis für eine Gesellschaft, in der die Anforderungen von Vernunft nicht nur Philosophenköpfe, sondern die gesellschaftliche Wirklichkeit selbst bestimmen würden. So verschaffte diese Autonomieforderung der Vernunft einen staatlich garantierten Freiraum jenseits der blinden Auseinandersetzungen in der Gesellschaft; sie verbannte also aus der tatsächlichen gesellschaftlichen Praxis die gesellschaftliche Fähigkeit, diese Praxis als Gesellschaft aufgeklärt zu planen.

Immerhin schien die Universitätsautonomie die wissenschaftliche Produktion der Universität dem unmittelbaren Einfluß gesellschaftlicher Kräfte oder des Staats selbst zu entziehen. Für technisches Wissen und technische Ausbildung ließ die sich emanzipierende Bourgeoisie den Staat neue Institutionen schaffen, die keinen autonomen Status wie die Universitäten erhielten. Aber auch die Ausbildungsfunktionen der autonomen Universität, die den Hauptinteressengegenstand des Staats und der herrschenden gesellschaftlichen Kräfte darstellten, wurden jeweils auf die öffentlichen Interessen direkt zugeschnitten. Hierin gab es von allem Anfang an keine Autonomie der Universität, auch wenn diese direkte Dienstbarmachung der universitären Ausbildungsfunktionen es stets zu vermeiden wußte, die Freiheit der Forschung und Lehre direkt anzutasten. Die Geschichte dieser jeweiligen Dienstbarmachungen, an denen man das öffentliche Interesse an der Universität detailliert studieren kann, ist die Geschichte der Bestallungs-, Ausbildungs- und Prüfungsordnungen sowie die Geschichte der Prüfungsarten, wann sie aufkamen, welche Fächer zuerst betroffen waren etc. Dabei ist festzustellen, daß mit der politischen Emanzipation der Bourgeoisie die immer straffere Ausrichtung der Ausbildungsfunktionen der Universität stark zugenommen hat, jedoch ohne direkte Einflußnahme auf die Inhalte von Forschung und Lehre. Wenn der erste Entwurf zum jüngst verabschiedeten hessischen Hochschulgesetz den Studenten das Recht einräumte, eine Fakultät zu verklagen, wenn in den Lehrveranstaltungen bestimmte Gebiete eines Fachs nicht behandelt wurden, obwohl deren Kenntnis nach Prüfungsordnung in der Prüfung verlangt werden kann, so zog dieser Entwurf nicht mehr als die Konsequenz aus den längst eingeführten Bestallungs-, Ausbildungs- und Prüfungsordnungen. Wem erst in dieser Konsequenz völlig offenbar wird, daß diese Ordnungen die Lehrfreiheit antasten, der hat bislang lediglich sich zu übersehen gestattet, daß diese Ordnungen die Lernfreiheit längst außer Kraft setzten.

In diesem Zusammenhang ist es ein wichtiges Symptom, daß die von Professoren geschriebene Universitätsgeschichte so gut wie keine Notiz von der Aufhebung der Lernfreiheit durch jene Ordnungen nimmt; dagegen darf jeder Versuch eines Kultusministers, auf eine Berufung Einfluß zu nehmen, der ausfährlichsten und empörtesten Überlieferung sicher sein. Die Autonomie der Universität ist ja tatsächlich nichts anderes als die Autonomie der Lehrstuhlinhaber, die sich, weil sie faktisch in der Universität allein bestimmen, mit einem gewissen Realismus mit der Gesamtuniversität verwechseln, wenn sie von der Autonomie der Universität reden. Sicherlich war die Freiheit der Lehrstuhlinhaber in Forschung und Lehre gegenüber der feudalen Universität ein Fortschritt. Vorgänge wie die, mit Androhung der Todesstrafe begleitete, Vertreibung des Philosophen Wolff von der Hallenser Universität oder wie die Intervention des preußischen Hofs gegen eine Kantische Abhandlung waren 1810 noch in böser Erinnerung. In der Beschränkung der Freiheit der Universität auf die Freiheit der Ordinarien, die innerhalb der Universität hierarchisch-feudale Herrschaftsverhältnisse begründete, findet sich jedoch die innere Entsprechung und Abstützung des dargestellten Charakters der universitären Autonomie, der sie zum Damm gegen die politische Emanzipation der Vernunft macht. Ihre theoretische Freiheit bezahlen die Ordinarien damit, daß sie die Vernunft hindern, die praktische Befreiung zu betreiben.

Die Autonomie der Universität sollte, wie wir sahen, die universitäre Wissenschaft von Politik überhaupt befreien; meinte also eine Freiheit in Weitabgeschiedenheit. Durch diese ihre Freiheit war die Wissenschaft definiert, von Praxis getrennte Theorie zu sein. Damit hatten die universitären Wissenschaften verzichtet, zu bestimmen, wie ihre theoretische Produktion in der Gesellschaft genutzt würde. Nach dieser Autonomie-Konstruktion mußten notwendig Institutionen, die nicht unter wissenschaftlichen Kriterien Entscheidungen fällen, die gesellschaftliche Nutzung wissenschaftlicher Erkenntnis bestimmen. Diese Arbeitsteilung zwischen Produktion wissenschaftlicher Erkenntnis und ihrer Verwendung institutionalisiert, konnte sich ein Ordinarius auch kritisch mit dieser Nutzanwendung, etwa durch den Staat, befassen, ohne doch irgendeine Wirkung zu erzielen; denn der Staat mochte für diesen - selbstverständlich erlaubten - Vernunftgebrauch seines Beamten eben gerade keine Verwendung haben. Sollte diese Situation einen Ordinarius sogar so weit bringen, sich politisch zu betätigen, so wäre er doch in solcher Betätigung auf den Status eines isolierten Bürgers zurückgeworfen. Erst ein politisches Wissenschaftsverständnis der Universitätswissenschaftler könnte sie befähigen, nicht als ein Häuflein Bürger, sondern als Universität politisch zu handeln, also das gesellschaftliche Interesse an universitäter Wissenschaft und damit deren gesellschaftliche Dimension politisch zur Geltung zu bringen. Aber genau diese politische Selbstverständigung der universitären Wissenschaften, durch die die Autonomie als Ausdruck einer unkritischen Distanz zu Politik überhaupt hätte überwunden werden können, mußte in einer Universität scheitern, in der Autonomie nur den Ordinarien gegeben war.

Eine privilegierte Position, wie die des Ordinarius, ließ sich ja im wissenschaftlichen Arbeitsprozeß, der so leicht keine Rechtfertigung für Über- und Unterordnungsverhältnisse hergibt, nur mit einer Wissenschaftstheorie legitimieren, nach der wissenschaftliche Wahrheit an eine bestimmte Persönlichkeitsstruktur geknüpft ist; und zwar mußte diese Persönlichkeitsstruktur gerade ihre Unbestreitbarkeit bei sich haben: Die Wahrheit mußte an eine Persönlichkeit delegiert sein, die über dem Streit der konkreten Menschen zu stehen glaubhaft machte. Diese Persönlichkeit wird im hierarchisch-korporativen Ritual der Universitätslaufbahn produziert; eine säkularisierte Form alter Reinigungs- und Abtötungsrituale, deren Resultat der von aller konkreten Geschich te gereinigte Wissenschaftler ist. Die Autonomie der Universität als Ausdruck der Abkehr universitärer Wissenschaften von Geschichte und Politik überhaupt findet in der autonomen Ordinarienpersönlichkeit ihre mikrokosmische Ent,sprechung: beides garantiert, einander ergänzend, daß die wissenschaftliche Wahrheit von aller geschichtlichen und politischen Bestimmung gereinigt ist.

Eine politische Selbstverständigung der universitären Wissenschaften mußte das wissenschaftliche Selbstverständnis zerstören, in dem sich die privilegierte Position der Ordinarien rechtfertigen ließ; eine politische Selbstverständigung konnte in der Universität nicht vonstatten gehen, ohne die auf der Ordinariensouveränität beruhende Universitätsstruktur selbst anzugreifen. Die Isolierung der Theorie von der Praxis, die durch die Universitätsautonomie besorgt wurde, fand also ihre Stabilität innerhalb der Universität darin, daß sich diese Autonomie auf die Ordinarien beschränkte; die grundsätzliche gesellschaftliche Arbeitsteilung zwischen theoretischer Produktion und gesellschaftlicher Verwertung von Erkenntnis fand in der Universität ihre Stütze, indem inneruniversitär eine innertheoretische Arbeitsteilung von Erkenntnisproduktion und freier Bestimmung darüber wiederholt wurde.

Ordinarien, die sich so zu alleinigen Hütern geschichtsunabhängiger Wahrheit ernannt und damit die prinzipielle Vernunftunfähigkeit der Restgesellschaft und ihrer konkreten Kämpfe behaupteten, konnten nicht in Widerspruch geraten zu solcher Klassenherrschaft, deren Regiment die Unmündigkeit der Restgeselischaft zur Voraussetzung hat; ist dies doch die materiell-historische Voraussetzung solcher Ordinarien selbst. Freilich darf solche Klassenherrschaft nicht die Privilegien der Ordinarien antasten. Dafür gibt es auch so leicht keinen Anlaß: Garantieren doch diese Ordinarien, daß die Vernunft der universitären Wissenschaften fortfährt, «die Welt nur verschieden zu interpretieren», und nicht beginnt, die Welt «zu verändern».

Für die deutschen Idealisten, die erste Ordinariengeneration der neuen deutschen Universität, war ihre Distanz zur konkreten geschichtlichen, politischen Praxis keineswegs schon ein Verzicht auf inhaltliche Selbstbestimmtheit oder gar gleichbedeutend mit einem instrumentalen Selbstverständnis. Die Aufklärung, die in himmlischen oder metaphysischen Wahrheitsgarantien die Beschränktheit und Beschränkung klerikal-feudaler Herrschaft kritisiert hatte, mußte dem menschlichen Individuum, das seine Erfahrungen reflektiert, die Wahrheit anvertrauen. Angesichts des Streits unter den konkreten menschlichen Individuen konnte dies nicht unproblematisch möglich erscheinen. Distanz gegenüber diesem Kampf unter den Individuen war in der Tat eine Bedingung für Aufklärung. Wissenschaftlich bestimmte gesellschaftliche Praxis harrte ja noch der Verwirklichungsmöglichkeit in der entscheidenden, nämlich der materiellen Dimension. Erst in der bürgerlichen Produktionsweise war die Entwicklung von wissenschaftlichen, aus dem Stadium der Tradierung von handwerklichen Fertigkeiten herausgewachsenen Produktionsverfahren möglich. Zumal im industriell rückständigen Deutschland des frühen 19. Jahrhunderts hatte Rationalität keine reale, den materiellen Produktionsprozeß des gesellschaftlichen Lebens bestimmende Dimension. Rationalität mühte sich - im emphatischen Sinne - um den Begriff der Epoche, ohne irgend etwas an ihr tatsächlich zu bestimmen.

Die Vernunft des wissenschaftlichen Begriffs jenseits der konkreten Geschichte konnte zu einer Zeit, in der nicht die Möglichkeit bestand, das gesellschaftliche Leben der Menschen in rationaler Planung zu produzieren, im historischen Vorgriff auf eine Gesellschaft bestehen, die der Vernunft-bestimmten Selbstverwirklichung fähig wäre. Darin jedoch, daß die Aufklärung ihre Distanz zur konkreten Geschichte zur Bedingung von Wissenschaft überhaupt erhob und damit die Konkretion als prinzipiell irrational deklarierte - institutionell in der Autonomie der Universität und in der asketischen Ordinarienpersönlichkeit - erkenntnistheoretisch in der transzendentalen Formalisierung von Erkenntnis, darin war Aufklärung nur der unkritische, zeitgemäße Ausdruck einer Gesellschaft, deren Produktionsverhältnisse die lebendige Produktivität der Menschen zur inhaltsleeren, quantitativ-kalkulierbar gemachten puren Arbeitskraft aufzulösen begannen.

In dem Maße, wie die kapitalistische Produktionsweise wissenschaftliche Produktionsverfahren und damit die Wissenschaft zu einem entscheidenden Produktionsfaktor entwickelte, in dem Maße mußte aufgeklärte Vernunft sich inhaltlich im konkreten, geschichtlichen Produktionsprozeß gesellschaftlichen Lebens bestimmen, mußte sich also in den durch den Kapitalismus produzierten Klassenantagonismen bestimmen, oder aber zu einer Randfunktion im gesellschaftlichen Leben werden, zum Bildungsdekor einer weiterhin verroht sich reproduzierenden Gesellschaft verkommen. Der historische Vorgriff der Begriffe der Aufklärung hatte, nachdem die wirkliche Geschichte die Bedingungen ihrer Verwirklichung hervorgebracht hatte, zur praktischen, politischen Konsequenz zu schreiten oder aber ihm entschwand jede Vernünftigkeit.

Die institutionelle Form der wissenschaftlichen Arbeit in der Universität war, wie oben dargelegt, ein entscheidendes Hemmnis dafür, daß Vernunft sich entsprechend ihrer historischen Verwirklichbarkeit in der Gesellschaft neu bestimmte, das heißt sich politisch bestimmte. Dies zeigen deutlich die inneruniversitären Aufstände während der Revolution der Jahre 1848/49.

Während die universitären Bildungswissenschaften der historisch-ökonomischen Entwicklung während des 19. Jahrhunderts ratlos gegenüberstehen, feiern die exakten Naturwissenschaften als materielle Kraft des Produktionsprozesses die Triumphe, die von der Aufklärung gerade der Wissenschaft erträumt wurden, die nicht nur die technische, sondern auch die umfassend menschliche Lebensproduktion bestimmen sollte. So schreibt W. Dilthey kleinlaut: «Warum hat diese unsere nationale Philosophie, gegründet von Kant, entwickelt von einer großen Zahl beredter und scharfsinniger Schriftsteller, unwiderleglich in dem, was sie verneint (sie verneint eine empirische Begründung von Erkenntnis), nicht wenigstens bei uns die Übermacht des Empirismus in den Wissenschaften zu brechen vermocht? Weil die Stärke dieses Empirismus darin liegt, daß sich mit ihm etwas anfangen läßt.» Weil sich «unsere nationale Philosophie» nicht zu begreifen gestattete, daß sich mit dem unkritischen Positivismus nicht «etwas» anfangen läßt, sondern daß sich mit ihm konkret Kapital akkumulieren läßt. Hätte die Ordinarienelite in der «Stärke» des Positivismus die historische Macht des Kapitals, in der «Schwäche» der «Philosophie» dagegen das Desinteresse des Kapitals an einer Wissenschaft erkannt, die das Ganze des gesellschaftlichen Lebens im Auge hat, dann wären sie vielleicht darauf gekommen, nach der real-geschichtlichen Kraft zu fragen, die Interesse an einer Wissenschaft hätte, die auf Aufhebung aller Widersprüche ausgeht, also zu fragen nach einem Stand, «welcher die Auflösung aller Stände ist, einer Sphäre, welche einen universellen Charakter durch ihre universellen Leiden besitzt und kein besonderes Recht in Anspruch nimmt, weil kein besonderes Unrealit, sondern das Unreaht schlechthin an ihr verübt wird, [,..] welche in keinem einseitigen Gegensatz zu den Konsequenzen, sondern in einem allseitigen GegenSatz zu den Voraussetzungen des deutschen Staatswesens steht, einer Sphäre endlich, welche sich nicht emanzipieren kann, ohne sich von allen übrigen Sphären der Gesellschaft und damit alle übrigen Sphären der Gesellschaft zu emanzipieren, welche mit einem Wort der völlige Verlust des Menschen ist, also nur durch die völlige Wiedergewinnung des Menschen sich selbst gewinnen kann [...] das Proletariat» (K. Marx).

Indem aber die ehemaligen Statthalter der Aufklärung lediglich resigniert konstatierten, wie die zersplitterten, keines Begriffs von sich fähigen (denn genau darauf zielt - mit Recht - Diltheys Vorwurf), Einzelwissenschaften eine ungeahnte Emanzipation durch die beherrschend gewordene bürgerliche Produktionsweise erfahren, Stellen sie zugleich fest, daß auch die Universität den Begriff von sich verloren hat, daß das Modell der Gelehrten-Korporation Universität zur äußerlichen Hülle heterogener, untereinander keiner Verständigung fähiger Einzeldisziplinen heruntergekommen ist; der Zusammenhang der Wissenschaften wird nicht durch Wissenschaft hergestellt, sondern im blinden Spiel der gesellschaftlichen Kräfte. Dies konnte eine Universitätsautonomie, die die universitären Wissenschaften von Geschichte und Politik überhaupt befreite, nicht hindern, sondern dies führte sie herbei. Die Universitätsautonomie war völlig inhaltslos geworden, war nur noch eine Rechtsform, die die Privilegien der Ordinarien regelte. Die "Aufstände" der universitären Wissenschaften gegen ihre historisch abgeschlossene Instrumentalisierung, vor allem die Lebensphilosophie um die Jahrhundertwende, nehmen völkischen, chauvinistischen oder antisemitischen Charakter an. Die gesellschaftlichen Mächte, die über die Wissenschaften und ihren Zusammenhang blind verfügen, werden zum Gegenstand heroisierender Identifikation des zum Kleinbürger gewordenen Ordinarius, der jene Mächte nicht begreifen und nicht entthronen kann, ohne seine eigenen kleinen Vorrechte abzustreifen.

c) In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren die universalen Bildungswissenschaften, die nach den Vorstellungen von 1810 das Zentrum der neuen Universität sein sollten, an den Rand der wissenschaftlichen Entwicklung geraten. Indem sie den Anspruch ihres Vernunftsbegriffs, die von den Menschen vernünftig-gestaltete Wirklichkeit, nicht in dem Augenblick in historische Praxis umsetzen konnten, als durch die Entfaltung der Produktivkräfte im Kapitalismus dafür die materiellen Bedingungen gegeben waren, degenerierten sie zur in sich rat- und perspektivelosen Sektion Kultur in einer geistlosen Gesellschaft; welche Sektion sich nur in dem Maße vor ihrer unmittelbaren Eingliederung'in die barbarischen Ideologien des entwickelten Kapitalismus (Chauvinismus, Faschismus, Antikommunismus) bewahren konnte, in dem sie sich zu quasi-natur- wissenschaftlich-techm.schen Wissenschaften umwandelten und so der Stufe des Kapitalismus harrten, in der er der herrschaftlichen Verfügung über alle Lebensbereiche mächtig sein würde. Dieser Abdankung aufgeklärter Wissenschaft entsprach die naturwüchsige, eben begriffslose Entfaltung der "exakten" Erfahrurigswissenschaften und der auf ihnen gegrändeten technischen Wissenschaften zu einem entscheidenden Faktor des materiellen Lebens der bürgerlichen Industriegesellschaft.

Die kapitalistische Produktionsweise trat in ihrer ersten Gestalt als Entfesselung und Motor unbegrenzt erscheinender Entfaltung von Produktivkräften auf. Aber diese kapitalistische Entfesselung der Produktivkräfte ging von Anfang an mit der rigidesten [esselung der wichtigsten Produktivkraft, der lebendigen menschlichen Produktivität, politisch: mit der Produktion der entmündigten Arbeiterklasse einher. Diese Fesselung ist in der entfesselten Technik und ihrer wissenschaftlichen Grundlage, den "exakten" Erfahrungswissenschaften, selbst zu erkennen. In der Eindämmung wissenschaftlicher Produktion auf Rezeption beziehungsweise auf technisch optimale Realisation nicht selbst bestimmter Zwecke sind Erfahrungswissenschaftler und Techniker von Anfang an willenlose Werkzeuge, ist Wissenschaft als Produktivkraft ihres Produkts nicht mächtig, und damit auch nicht ihrer Produktivität und deren Entfaltung. Sie bringt einen gesellschaftlichen Produktionsapparat hervor, der entsprechend konstruiert ist: ob es sich um die in Maschinen und Produktionsanlagen materialisierten Produktivkräfte handelt, die nur produzieren, wenn das Profitkalkül des Kapitalisten es geraten erscheinen läßt, ob es sich um die Produktivität der qualiflzierten Arbeitskraft handelt, die vom Kapital gekauft sein muß, um produzieren zu können, oder ob es sich um das technische Wissen selbst handelt, dessen Entfaltungsrichtungen, weil an immer erweiterte materielle Bedingungen geknüpft, vom jeweiligen Kapitalverwertungsinteresse bestimmt sind.

Dies mochte auf den ersten Blick unproblematisch erscheinen, solange die Kapitalinteressen unorganisiert waren; solange das Marktmodell funktionsfähig erschien, solange dessen wichtigste Vermittlungskategorie, der Preis als annähernd adäquater Ausdruck verausgabter menschlicher Arbeitskraft, sowohl maximale Produktivität wie auch deren inhaltliche Bestimmung durch die Bedürfnisse der Menschen in der Gesellschaft zu erzwingen schien; solange also die Fiktion aufrechterhalten werden konnte, daß die Kapitalinteressen nicht fähig seien, sich gegenüber dem Bedürfuiszusammenhang der Gesamtgesellschaft zu verselbständigen. Die Kapitalverwertung war jedoch von Anfang an vom gesellschaftlichen Bedürfniszusammenhang unabhängig. Die historische Entfaltung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse zeigte, was bereits auf der Stufe des Konkurrenzkapitalismus strukturell zu analysieren war: daß die kapitalistischen Produktionsverhältnisse zu den Produktivkräften, deren Entfaltung sie hervorriefen, in antagonistischem Widerspruch stehen und damit zur jeweils möglichen Befriedigung der Bedürfnisse der Gesamtgesellschaft.

Die durch Zentralisation, Monopolisierung und vor allem durch das Finanzkapital bestimmte Organisation der mächtigsten Kapitalinteressen, die sich um die Jahrhundertwende herausbildete, liquidierte in den entwickeltsten industriellen Sektoren den Markt als Instanz, durch die der gesellschaftliche Bedürfniszusammenhang die gesellschaftliche Produktion bestimmen sollte. Durch Marktaufteilungen unter den Monopolen konnte die Preiskonkurrenz durch die Kostenkonkurrenz ersetzt werden. Im Vergleich zu den so organisierten Kapitalgrößen, sowohl des in Produktionsanlagen gebundenen Kapitals wie auch des profitable Reinvestitionsmöglichkeiten verlangenden liquiden Kapitals, wurde die Aufnahmefähigkeit der Binnenmärkte, die durch die rigide Lohnpolitik bestimmt war, heillos unzulänglich. Die weitgehend, vermittels des Finanzkapitals, kontrollierte Staatsbürokratie betrieb daraufhin imperialistische Außenpolitik, die in internationaler Konkurrenz der jeweiligen nationalen Bourgeoisie kompensierende Märkte und Möglichkeiten, Kapital zu exportieren, erobern sollte. Diese Politik endete für Europa zunächst mit den Greuel des Ersten Weltkrieges, der zugleich politische und ökonomische Entwicklungen beschleunigte, die die Bedeutung der Kapitalverwertung durch Kolonisation zumindest für Europa - herabminderten. Danach in erster Linie auf die Binneniphäre verwiesen, entfesselte die Kapitalverwertung unter organisierter Kostenkonkurrenz eine katastrophale Dynamik. Die Strategie der Kostenkonkurrenz, vor allem der höchstorganisierten Schwer- und Investitionsgütersektoren, erforderte weitere Rationalisierungsinvestitionen, um die Akkumulationsrate des variablen, auf den Ankauf menschlicher Arbeitskraft verwandten Kapitals zu steigern. Denn an Erweiterungsinvestitionen, die das Arbeitsvolumen ausgedehnt hätten, war angesichts der ohnehin zu engen Märkte nicht zu denken. Die Rationalisierungsinvestitionen mußten sich unter diesen Bedingungen sehr bald als Freisetzung von Arbeitskräften auswirken. Dadurch verengte sich der Markt der Konsumgütersektoren, und dadurch noch einmal, da die Konsumgütersektoren unmöglich angesichts eines schrumpfenden Marktvolumens investieren konnten, der Markt für die Schwer- und Investitionsgütersektoren. Diese, dadurch wiederum gezwungen, weitere Kapazitäten stillzulegen, setzten erneut Arbeitskräfte frei und beschleunigten damit den krisenhaften Prozeß, bis er in der Weltwirtschaftskrise 1929 ff über den bürgerlichen Gesellschaften zusammenbrach.

In der Großen Krise war also sinnlich die Bedürfsnissphäre des Kapitals in zerstörerischen Widerspruch zu der der Gesellschaft geraten. Unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen produzierten die am weitesten entwickelten Produktivkräfte Armut - sie schafften nicht die Arbeit ab, sondern verwandelten den Arbeiter zu einem kaum des Überlebens fähigen Arbeitslosen, in einen Paria. (Diese Darstellung konzentriert sich auf den systematischen Widerspruch des Kapitals, ist also nicht wirklich historisch. Deswegen erscheint das Imperialismusproblem nur schematisch am Rande. Dutschkes Kapitel zeigt, wie sich der hier analysierte Widerspruch zur wirklichen Weltkrise auswächst.) Es konnte sich nicht deutlicher als in der Großen Krise zeigen, daß der entfaltete Stand der Produktivkräfte ihre Emanzipation von privater Aneignung verlangt.

Sollte nach der Großen Krise die kapitalistische Produktionsweise aufrechterhalten werden, so mußte die Gesellschaft insgesamt den Kapitalverwertungsprozeß unabhängig von der gesellschaftlichen Bedürfnissphäre garantieren und organisieren. Die vollständige Umfunktionierung der gesellschaftlichen Produktion daß die gesellschaftlichen Bedürfnisse sich nach profitabler Produktion richten, anstatt daß die Produktion sich nach den gesellschaftlichen Bedürfnissen richtet erforderte jetzt ihre systematische Realisation, ihre bewußte gesellschaftliche Dimension; erforderte die gesamtgesellschaftliche Organisation solcher Bedürfnisse, deren Erfüllung die volle Produktion in den Sektoren ermöglicht, in denen das größte und organisierteste Kapital gebunden ist und seine kontinuierliche, optimale Verwertung garantiert zu erhalten verlangt. Dies bedeutete zu Beginn der dreißiger Jahre konkret, daß die Schwer- und Investitionsgütersektoren unabhängig würden von der Investitionsfähigkeit der Konsumgütersektoren, deren Markt von der Lohnsumme abhängt und deswegen wenig expansiv ist. Der Staat hatte diesen Sektoren eine autonome Absorptionssphäre zu erstellen. Die faschistischen Staats- und Wirtschaftsbürokraten Deutschlands begriffen zuerst, was veflangt war: Destruktion, systematische Zerstörung gesellschaftlichen Reichtums, Kriegswirtschaft. Als die USA in den Zweiten Weltkrieg eintraten, wurde die systematische Absorption und Vernichtung gesellschaftlichen Reichtums das allgemein praktizierte Geheimnis der Reproduktion der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, das nach ,945, auf Grund der neuen Machtaufteilung innerhalb des kapitalistischen Lagers, international-arbeitsteilig praktiziert wurde.

Zur Aufrechterhaltung des Kapitalverhälmisses reichten also die, vom Staat lediglich unterstützten, Organisationsformen des Kapitals auf privater Ebene nicht mehr aus; die staatlichen Institutionen selbst hatten unmittelbar entscheidende Kapitalfunktionen zu übernehmen. Das Staatsbudget und die staatlich geplante Infiationierung waren zu zentralen ökonomischen Kategorien der Kapitalverwertung avanciert. Das Kapitalverhältnis war auch in seiner Erscheinungsform zum unmittelbar politischen Herrschaftsverhältnis geworden. Das unmittelbar politisch gewordene Kapitalverhältnis begründete seinerseits, in seiner bürokratischen und in seiner unmittelbar repressiven Funktion, weitere Felder der Absorption gesellschaftlichen Reichtums: Kosten für Bürokratie, Polizei, Militär. (Rüstungsproduktion und aufgeblähte, totalitäre Verwaltungsmaschine sind die bekanntesten, keineswegs aber die einzigen oder auch nur immer die bedeutendsten Formen systematischer Vernichtung gesellschaftlichen Reichtums. In den westeuropäischen Ländern dürfte nach dem Zweiten Weltkrieg die Reichtumsabsorption durch Massenmanipulation, sei es durch die publizistischen Medien oder durch Werbung und Verpackungsästhetik, die bedeutendsten unproduktiven und destruktiven Kapitalverwertungsmöglichkeiten geboten haben.) Das Erfordernis, das gesellschaftliche Leben in jeder Äußerung der Kapitalverwertung zu unterwerfen, war total geworden und damit die Funktionen von Bürokratie, Polizei und Militär.

Die Pervertierung, die die Produktivkräfte in der kapitalistischen Produkteter Form: Die, von der Bestimmung der Zwecke ihrer Produktion ausgeschlostionsweise von Anfang an erfuhren, zeigte sich in der Großen Krise in entfalsene Produktivkraft Arbeiterklasse produziert ihre eigene Zwecklosigkeit bis zur Form der existentiellen Negierbarkeit; der von ihr produzierte Überfluß stellt sich ihr als ihre eigene Überflüssigkeit dar. Die aufs Instrumentale verkürzte Wissenschaft und Technik, die von der Konstruktion eines gesamtgesellschaftlichen Produktionsprozesses abgeschnitten sind, der die gesamtgesellschaftlichen Bedürfnisse befriedigen würde, werden für den überwiegenden Teil der Gesellschaft zur Bedrohung, auch die primitivsten Reproduktionsbedürfnisse nicht befriedigen zu können. Die vollständige Umfunktionierung der gesellschaftlichen Produktion nach der Großen Krise stellte auch die Funktion der wissenschaftlichen Produktivkraft auf den Kopf, genauer, auf ihre richtigen kapitalistischen Füße: Mit der Organisation einer autonomen Kapitalverwertungssphäre daraus befreit, in ihrer Entfaltung ständig durch eine gesellschaftliche Bedürfnissphäre beschränkt zu werden, die vom Kapital verengt und unentwickelt gehalten wird, produzieren die wissenschaftlich-technischen Produktivkräfte in ihrer immanenten Entfaltung zugleich den endlosen, sachnotwendigen Motivationszusammenhang für die systematische Absorption gesellschaftlichen Reichtums: systematisch produzierte Veralterung des eben erreichten technologischen Niveaus der Rüstungsgüter sowie Raumfahrt sind die bekanntesten Formen. Die technologische Dynamik der destruktiven Produktionssektoren wurde zugleich zur Begründung immer erneuter Destruktion. Das Destruktionssystem konnte den Anschein sachlicher Notwendigkeit er langen, weil Entwicklung der Technologie und Kapitalverwertung in der Destruktion harmonieren. Die Entwicklung der Technologie, des Inbegriffs des Instrumentalen, mausert sich zum letzten Zweck, indem alle Zwecke zum Mittel der Kapitalverwertung werden. Die Vernichtung aller Zwecke ist zum alleinigen Zweck einer, aufs Instrumentale verkürzten Wissenschaft geworden: Die Konstruktion der Destruktion auf immer erweitertem technologischen Niveau, ihr historisch entfaltetes Wesen.

d) Die wissenschaftlichen Produktivkräfte, die in den technisch entwickeltsten Produktionsmitteln materialisiert waren, gerieten in der Weltwirtschaftskrise in kontradiktorischen Widerspruch zur Kapitalverwertung. Es oblag dem Staat, eine autonome Kapitalverwertungssphäre zu organisieren, in der sich die wissenschaftlichen Produktivkräfte kapitalkonform weiter entwickeln konnten. Geselischaftliche Organisation in Form staatlicher Organisation war also die Voraussetzung, Entfaltung der wissenschaftlichen Produktivkräfte - in dem Umrissenen Destruktionszusammenhang - unter dem a priori der KapitalverWertung zu ermöglichen. Wenn heute dieser spätkapitalistische Staat daran geht, den Ausbildungssektor zu reorganisieren, so werden wir zu untersuchen haben, welcher bestimmte Widerspruch zwischen Kapitalverwertung und wissenschaftlicher Qualifizierung aufgetreten ist und in welcher Form der Staat ihn zu lösen sich anschickt.

Die technischen Ausbildungssysteme, insbesondere die neben der Universität geschaffenen technischen Hochschulen, beließen zunächst der Universität, neben der Selbstergänzung, die Aufgabe, Spitzenkader der Administration und daneben die klassischen Freiberufe, Arzt, Jurist, auszubilden. In dem Maße, wie die industrielle Entwicklung die technischen Wissenschaften entwickelte, dienten die an der Universität betriebenen Naturwissenschaften ebenfalls zur Ausbildung wissenschaftlicher Spitzenkader der technischen Produktion.

Das technologische Niveau der Produktion und ihrer Verwaltung, das sich im Kapitalismus entwickelte, erforderte die generelle Hebung des Qualifikationsniveaus der mittleren Kader der privatwirtschaftlichen wie staatlichen Administration. Dies wiederum erforderte den Ausbau der mittleren und höheren Schultypen, wodurch sich für die Universitäten die Aufgabe ausweitete, Lehramtskandidaten für diese Schultypen auszubilden. Die klassischen Freiberufe selbst erfuhren eine Entwicklung, die ihren Angehörigen weitgehend die Selbständigkeit und den Spitzenrang innerhalb der Berufshierarchie nahm: die Verwaltungsexpansion ließ den Prozentsatz selbständiger Juristen rapide sinken, die Organisation der Krankenversorgungs- und Krankenkontrollsysteme machte den größten Teil der Ärzte zu Angestellten im tertiären Sektor. Die oben dargestellten wachsenden Widersprüche, die die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse hervorbrachte, und die zu ihrer Lösung nötigen höheren Organisationsformen des Kapitals, die zur Verwaltung sämtlicher Lebensäußerungen der Gesellschaft voranschreiten, machten die Entwicklung exakter Wirtschafts- und Sozialwissenschaften in der Universität und die Ausbildung einer wachsenden Zahl von Wirtschafts- und Sozialtechnikern durch die Universität erforderlich. Die alte Aufgabe der Universität, Spitzenkader auszubilden, ist zu einer ihrer Randfunktionen geworden. Die erkennbare Entwicklung, die immer größere Teile der Beschäftigten in Produktion und Verwaltung akademisch auszubilden verlangt, steht dabei erst am Anfang.

In dieser Entwicklung zeichnet sich ein Funktionswandel in der Qualifizierung der Arbeits- und Verwaltungskräfte ab. (Dabei ist es zur Herausarbeitung des Problems hier gleichgültig, inwiefern hierzulande dieser Funktionswandel noch Tendenz oder inwiefern er schon manifester und bestimmender Prozess ist.) Die Ausbildung an Universitäten zeichnete sich gegenüber der an Akademien und der an technischen Hochschulen dadurch aus, daß es bei der universitären Ausbildung nicht so sehr um den Erwerb festen Wissens ging als um die Aneignung der Fähigkeit, selbständig wissenschaftlich arbeiten zu können. Diese Qualität der universitären Ausbildung begründete ihre Funktion, Spitzenkader auszubilden, sofern nicht die Universität von den herrschenden Klassen einfach dazu benutzt wurde, eine "Kultiviertheit" zu erwerben, was sicherlich für den größten Teil der universitären Ausbildung der Spitzenkader galt und gilt. Das technologische Niveau der Produktion aber auch der Verwaltung, dessen ständige und rapide sich vollziehende Entwicklung dadurch garan tiert ist, daß der Staat die Absorptionssphäre gesellschaftlichen Reichtums auf immer weiter entwickeltem Niveau organisiert, macht zusehends eine Ausbildung disfunktional, die im Erwerb festen Wissens besteht. Die systematisch produzierte Veralterung des eben erreichten technischen Produktionsniveaus und damit auch des technischen Verwaltungsniveaus hat auch die Veralterung dieses Ausbildungstyps produziert. Diese Entwicklung verlangt für eine stets wachsende Zahl der Produzenten und Administratoren, die keineswegs mehr Spitzenstellungen einnehmen werden, eine Ausbildung, deren Hauptmerkmal die Fähigkeit ist, sich in kürzester Zeit die Verfahrenstechniken aneignen zu können, die auf dem jeweiligen technologischen Niveau erforderlich sind.

Es ist deutlich, daß die in der autonomen Destruktionssphäre systemkonform entfesselte wissenschaftliche Produktivkraft eine Entwicklung hervortreibt, zu der abermals die Kapitalverwertungsinteressen in einen zerstörerischen Widerspruch geraten können. Die Produktivkräfte, wenn auch jenseits des gesellschaftlichen Bedürfniszusammenhangs, in relativ freie Entfaltung gesetzt, verlangen als Qualifikationsmerkmal der Arbeitskräfte, die mit diesen Produktivkräften Mehrwert produzieren sollen, die Auflösung starrer Wissensformen. Indem nicht mehr die Aneignung bestimmter technischer Verfahren Hauptinhalt der Ausbildung sein kann, sondern die Aneignung des Aneignens und des Produzierens technischer Verfahren verlangt ist, kann die Gesamtkonstruktion der Technik, und damit auch die gesellschaftliche Gesamtkonstruktion der technischen Produktion in das Blickfeld derer geraten, die in dieser technischen Produktion lediglich Konsumgegenstand des Kapitals sein sollen.

Die wachsende Interdependenz der technischen Entwicklungen in den verschiedenen industriellen Sektoren, die keineswegs einfach ein natürliches Resultat reiner technologischer Entfaltung ist, sondern Ausdruck der konkreten spätkapitalistischen Form technologischer Entwicklung - daß diese in einer destruktiven Sphäre konzentriert bleibt, die vom gesellschaftlichen Bedürfniszusammenhang unabhängig ist -, stellt schon gegenwärtig die technische Intelligenz in verschiedenen Bereichen der Produktion und Verwaltung vor Probleme der technischen Gesamtkonstruktion der Gesellschaft unter den widerspruchsvollen Bedingungen der kapitalistischen Produktionsverhältnisse. Dies betrifft zur Zeit jedoch erst Spitzenkader. Insgesamt scheint die in den verschiedenen, relativ selbständigen industriellen Sektoren und deren heterogenen Produktionsprogrammen zersplitterte Fntwicklung technischer Praxis die institutionelle Garantie dafür zu sein, daß selbst noch erheblich vergrößerte Zahlen wissenschaftlich ausgebildeter Arbeitskräfte in ein System widerspruchsfrei integriert werden können, in dem die technische Produktion bewußtlos um der Entwicklung willen entwickelt wird. Die darin konstitutiv fortbestehende Isolierung technischer Praxis von anderer technischer Praxis, und damit von der Dimension wirklicher und möglicher Zwecke technischer Praxis, ermöglicht die Bindung der technischen Intelligenz an die pure Funktionstüchtigkeit zu gegebenen, nicht-reflektierten Bedingungen.

Die völlige Pervertierung der Produktivkraft Wissenschaft nach der Großen Krise, daß ihre "natürliche" Entfaltung zum endlosen Motivator für Vernichtung gesellschaftlichen Reichtums wurde, diese Pervertierung steht und fällt damit, daß die ständig sich ausdehnende Zahl wissenschaftlich qualifizierter Arbeitskräfte eine Ausbildung erfährt, durch die die technische Intelligenz ihr produktives Interesse darin zu befriedigen lernt, in den von ihr verwandten oder auch entwickelten technischen Verfahren reine Funktionsfähigkeit zu beweisen. Die Absorption materiellen gesellschaftlichen Reichtums, die Voraussetzung relativ ungehemmter technologischer Entfaltung im Kapitalismus, hat ihrerseits die gelingende Absorption des gesellschaftlichen Reichtums zur Voraussetzung, der in der produktiven, auf gesamtgesellschaftliche Zwecke richtbaren, wissenschaftlichen Fähigkeit der Menschen besteht*. In der gegenwärtigen Phase des Kapitalismus geht es deswegen darum, diese Absorption und Verstümmelung des produktiven Vermögens der Menschen sicherzustellen, damit das Kapitalverhältuis nicht erneut mit den Produktivkräften, diesmal in ihrer mächtigsten Form: mit den qualifizierten menschlichen Arbeitskräften in einen Konflikt gerät, der leicht das Ende des Kapitalverhältnisses selbst bedeuten kann.

Auf dem heutigen Stand der historischen Entfaltung dieses Widerspruchs scheinen zunächst die gesellschaftlichen Mechanismen dem Kapital zu Gebote zu stehen, um damit fertig zu werden. So helfen sich die Industriesektoren, die durch ihre technologische Entwicklung am stärksten von diesem Problem betroffen sind, gegenwärtig damit, daß sie strikte Differenzierungen innerhalb der wissenschaftlich qualifizierten Kader institutionalisieren. Den Virtuosen, also den Wissenschaftlern, von deren Arbeit die profitabelsten Innovationen zu erwarten sind, werden Arbeitsbedingungen geschaffen, in denen fast vollständige Selbständigkeit besteht. Unterhalb dieser Ebene werden komplizierte Gefüge hierarchischer Abhängigkeiten institutionalisiert. Die allgemeine Voraussetzung solcher Institutionalisierungen ist ein allgemeines Ausbildungssystem, das die reine Konditionierung in Verfahrensaneignung bereits auf den Stufen erzwingt, auf denen das Lernen des Lernens allzu leicht in Entfaltung sich selbstbestimmender, nicht aufs Instrumentale verkürzter Rationalität umschlagen kann. In dem Maße, wie technologische Entwicklungen auch in ihrer kapitalistischen Form, als immanente Begründung von Absorption und Destruktion, eine gewaltige Verbreiterung einer Qualifikationsstruktur verlangen, die nicht mehr im Erwerb und in der Reproduktion festen Wissens ihren Schwerpunkt hat, in dem Maße wird die Absicherung des Ausbildungssektors dagegen, daß in ihm Vernunft produziert wird, die sich nicht mehr in der Dimension des Instrumentalen binden läßt, sondern nach den Zwecken und Inhalten* ihrer Tätigkeit fragt, zu einer strategisch entscheidenden Frage für die Aufrechterhaltung des kapitalistischen Systems.

e) Es ist also nicht erstaunlich, daß die Hochschulkritik, die heute von Ministerialund Wirtschaftsbürokratien betrieben wird, sich vor allem dagegen richtet, daß die Universität dem Studenten noch zu viele Möglichkeiten bietet, selbständig seinen Erkenntnisinteressen nachzugehen. Auch wenn hinter dieser Kritik vordergründig, wie dargelegt, fiskalische Interessen stehen, so ist die Struktur dieser Fiskalpolitik der Sache ja nicht äußerlich. Die jetzige Wachstumskrise der westdeutschen Ökonomie, die zur Verknappung der öffentlichen Haushalte fährte und damit zu einer Reform des Ausbildungssektors durch Druck anstatt durch Geld, reflektiert ja nur den Reichtum der vergangenen, der "Wunder"- Periode in seiner wirklichen Form: daß er nicht dem gesellschaftlichen Bedürfnis nach langfristiger Planung der Prosperität zugute kam, sondern der Verwertung des Kapitals, das jetzt, unter geänderten profitstrategischen Bedingungen, die Gesamtgesellschaft formiert, damit sie die neuen Voraussetzungen der optimalen und kontinuierlichen Kapitalverwertung erstellt, und das dabei offenkundig versuchen muß, im verstärkten Maße an der destruktiven Produktionssphäre verwertend zu partizipieren. Heute versuchen Ministerial- und Wirtschaftsbürokratien, der Gesellschaft mit unmittelbarem Leistungsdruck die Voraussetzungen abzupressen, die Kapitalverwertung durch erweiterte Absorption und Destruktion gesellschaftlichen Reichtums garantieren können. Die mit unmittelbarer Repression betriebene Konditionierung der gesamtgesellschaftlichen Struktur für effektivere Reichtumsvernichtung - davon ist es in der Tat ein, wie wir sahen: langfristig wesentlicher Teil, die produktive Intelligenz in der Ausbildung auf das reibungslose, nach keinen Zwecken fragende Funktionieren zu verkürzen.

Ein wichtiges Indiz dafür, welche bestimmten Reformen auf dem Universitätssektor durchgeführt werden sollen, liegt in der, auf den ersten Blick verwunderlichen Tatsache, daß der Staat angesichts seiner Budgetschwierigkeiten nicht einmal den Versuch unternimmt, die universitäre Ausbildung seiner direkten Aufsicht zu unterwerfen, um eine kostenintensive und eine, den gegenwärtigen ökonomischen Interessen optimal entsprechende Ausbildung sicherzustellen; daß er nicht den Versuch macht, die, gerade unter Kostengesichtspunkten bedeutsamen "Effektivitätsverluste" zu beheben, die durch die hierarchische Struktur der Universität entstehen. Innerhalb eines so demokratiefeindlichen Konzepts, das zum Beispiel Notstandsgesetze vorsieht, die dem Faschismus durchaus Ehre bereitet hätten, kamt den Staat wohl kaum das Argument, daß es der Faschismus war, der die Universitäten gleichschaltete, davon abhalten, das gleiche zu tun.

Das angeführte Gutachten des WR, das zwischen den Spitzenmanagern der Universität und der staatlichen und wirtschaftlichen Bürokratien ausgehandelt wurde, zeigt deutlich, daß gerade die hierarchische Struktur der Universität ein wesentlicher Faktor der verfolgten Ausbildungskonzeption ist; wenngleich die Hochschullehrer, deren Privilegien Sonst unangetastet bleiben, die Verstümmelung der Lehrfreiheit in Kauf nehmen müssen.

Die Empfehlungen des WR sehen vor, daß alle Studenten einem vierjährigen, straff durch Studiengänge und eine Ausleseprüfung in der Mitte reglementierten Studium unterworfen werden, einem Studium also, das unter extremen Leistungsdruck steht. Diesem Studium kann sich für eine kleine Elite, die sich im reglementierten Studium als best-integriert ausgewiesen hat, ein Aufbaustudium in Art des jetzigen, dann aber wahrscheinlich, wegen der kleinen Zahl, wirklich wissenschaftlichen Studiums anschließen. Dadurch wird nicht allein erreicht, daß die Studenten nur noch unter dem Risiko, im vorgeschriebenen Studium zu scheitern, eigenen Erkenntnisinteressen nachgehen können; darüber hinaus würde die Verwirklichung der WR-Empfehlungen bewirken, daß sich die Studenten ein subjektives, an den Inhalten ihres Studienfachs orientiertes Interesse, das zu Beginn des Studiums noch bestehen könnte, abgewöhnen. Denn sie erfahren nach diesem Plan während ihrer universitären Ausbildung, daß ihre Betätigung institutionell honoriert wird durch einen Effekt, der dem Inhalt ihrer Betätigung völlig äußerlich und fremd ist; durch den erlangten Schein oder das erlangte Zertifikat. Dieses System wird jedoch erst perfekt, wenn dadurch, daß die obligatorischen Lehrveranstaltungen an die divergierenden, keiner rationalen Kontrolle unterworfenen Professorenpersönlichkeiten geknüpft sind, sich nicht einmal in ein und demselben Fach ein Zusammenhang der einzelnen Lehrinhalte erkennen läßt; denn dann muß notwendig das durch Scheine, deren Bedeutung sich zur Entscheidung über Sein rder Nicht-Sein auswächst, belohnte Lernen ohne Durchschauen eines Gesamtzusammenhangs zur einzigen rationalen Form des Studierens werden. Die so erzwungene Lernhaltung muß vollends jedem Anspruch auf eigenständiges Erkennen abschwören, wenn nicht allein erfahren wird, daß erst in der Berufspraxis das Entscheidende gelernt werden muß, sondern wenn die StudienOrganisation selbst dadurch, daß sie zwischen einem normalen Studium für die Massen und einem wissenschaftlichen Studium für eine kleine Elite unterscheidet, den Studenten zu verstehen gibt, daß es im normalen Studium nicht auf Wissenschaftlichkeit, sondern auf den Erwerb von Zertifikaten ankommt. Indem das unangetastete Lehrstuhlprinzip für die Disperatheit des Stoffs sorgt und die hierarchische Struktur der Universität eine hierarchische Zweiteilung des Studiums begünstigt, leistet die alte Ordinarien-Universität einen konstruktiven Beitrag zu der jetzt geforderten Einpassung der Intelligenz während der Ausbildung: dem Studenten wird sein inhaltliches Interesse in der Betätigung verwandelt in das Interesse an Karriere durch eine Betätigung, deren Inhalt und Zweck gleichgültig geworden ist..

Die Professoren selbst - die sich nachträglich als Absolventen des einer Elite vorbehaltenen Aufbaustudiums fühlen dürfen, wie denn nach einer neueren Untersuchung mehr als 90 0/0 der Professoren Genieverdacht gegen sich selbst hegt - die Professoren haben keinen Grund, sich über diese Umfunktionierung der Universität zu beklagen. Ihre Privilegien - Unkontrollierbarkeit ihrer Arbeit und elitebewußte Selbstergänzung - sind nicht angetastet, sondern bestätigt und abgesichert worden. Nur wenigen Professoren wird die verkrüppelte Ausbildung im Normalstudium Sorge bereiten; waren sie doch lange schon, ihrer eigenen "dornenreichen" Karriere zufolge, der Ansicht, daß nur ganz wenige Studenten zu wissenschaftlicher Arbeit die "natürliche Begabung" mitbringen; und diese wenigen im Aufbaustudiom an die wahren Brüste der Alma Mater zu geleiten, ist ihnen ja künftig nicht verwehrt. Soweit diese "Reform" für die Professoren eine erweiterte Lehrtätigkeit bedeuten müßte, ist zu wissen, daß sie es längst gewöhnt sind, die Hauptlast der Lehre und Verwaltung auf die Untergebenen abzuwälzen, ohne freilich die letzte Entscheidung darin abzugeben; denn sie müssen Zeit für Publikationen und Vortragsreisen gewinnen, weil unter jetzigen Bedingungen daran ihre, die Karriere bestimmende Reputation haftet.

III. Der Aufstand der lebendigen wissenschaftlichen Produktivkraft gegen ihre Fesselung

Die systematische Darstellung des Grundwiderspruchs in der spätkapitalistischen Ausbildungsplanung, wie sie - im groben Umriß - im vorhergehenden Abschnitt versucht wurde, unterscheidet sich erheblich davon, wie sich den betroffenen Studenten dieser Widerspruch während ihrer hochschulpolitischen Praxis darstellte. Die vorgezogene systematische Analyse wird uns jedoch in die Lage versetzen, jetzt die konkrete geschichtliche Entfaltung jener Ausbildungsplanung, und zwar in dem von ihr hervorgebrachten Widerspruch, in den rebellierenden Studenten, am FU-Beispiel exemplarisch verfolgen zu können.

a) Am Ende des Wintersemesters 1964/65 stand die Studentenvertretung der EU vor der Entscheidung, die loyale, partnerschaftliche Zusammenarbeit in den Selbstverwaltungsgremien der Universität durch eine, für universitäre Verhältnisse damals: spektakuläre Flucht in die Öffentlichkeit zu ergänzen. Der Akademische Senat der FU beriet die Einführung der Zwangsexmatrikulation. Der Allgemeine Studentenausschuß (AStA), der nach loyalen Vorabklärungen auf keine entschiedene Abweisung der Zwangsexmatrikulation durch den Akademischen Senat hoffen konnte, ließ vorsorglich ein Plakat drucken, mit dem inneruniversitär auf die schwerwiegende Senatssitzung hingewiesen und die ablehnende Position der Studentenschaft zur Zwangsexmatrikulation erläutert werden sollte. Darüber, ob das Plakat tatsächlich ausgehängt werden sollte, wurde im AStA stundenlang diskutiert; denn dieser Schritt hätte in der Tat den Bruch mit der traditionellen Arbeitsweise der Studentenvertretung signalisiert. Das Plakat blieb schließlich unverüffentlicht.

Die Ohnmacht der Studentenvertreter in den verschiedenen Institutionen war längst Hauptgegenstand in den Diskussionen der Studentenvertreter. Skandalöse Mißachtungen der Studentenvertretung waren deren fester Erfahrungsbestand. Die expansive, politischen Entscheidungsspielraum immer mehr einengende Bürokratisierung, der die verschiedenen Sektionen der universitären oder die um die Universität gelagerten Selbstverwaltungsinstitutionen unterworfen waren, beklagten gemeinsam Studenten- und Professorenfunktionare. Jede weitere Einschränkung der Kompetenzen der studentischen Mit- und Selbstverwaltung abzuwehren, galt als der Kern der Arbeit der Studentenvertretung. Diese Defensivarbeit vollzog sich vor allem in Protestbriefen und ausgedehnter Vorabklärung von Problemen, die in individuellen Gesprächen mit sogenannten liberalen Professoren betrieben wurde. Solange es sich um kleine, in Salami-Taktik durchgeführte Kompetenzverluste in einzelnen, auf den ersten Blick nicht so wichtig erscheinenden Arbeitsbereichen etwa des Sozialsektors, zum Beispiel bei der Bearbeitung von Anträgen auf Freitisch, handelte oder darum, daß man mit eigenen Reformvorschlägen nicht durchkam, begnügte sich eine Generation von Studentenvertretern mit ohmmächtigem Protest und dem festen Vorsatz, mit noch größerer Pfiffigkeit ein nächstes Mal die Bürokratie hereinzulegen; was manchmal auch gelang. Dies Bewußtsein der Studentenvertreter, das den Status quo prinzipiell für erträglich oder für unabänderbar ansah, wurde erst fundamental erschüttert, als erhöhter Druck seitens der Ministerial- und Wirtschaftsbürokratien die universitären Manager zu größeren, nicht mehr behutsam durchgeführten Angriffen auf studentische Freiräume zwang.

Im Juni 1964 wurden die Universitäten seitens der Kultusministerkonferenz (KMK) mit einer Reihe von Vorschlägen konfrontiert, die zur unmittelbaren Steigerung der universitären Ausbildungsleistung führen sollten; darunter, zur Erwägung, die Zwangsexmatrikulation: «Überprüfung der Frage, ob eine Höchststudiendauer in der Weise normiert werden kann, daß nach ihrem Ablauf die Exmatrikulation von Amts wegen erfolgen kann, wenn nicht die sach liche Berechtigung eines weiteren Studiums dargetan wird.» Von den Vorschlägen der KMK griff die Westdeutsche Rektorenkonferenz (WRK), das Spitzengremium der professoralen Manager, bereits einen Monat später allein die Zwangsexmatrikulation auf und empfahl den Universitäten, sie einzuführen. Die anderen Vorschläge der KMK - Reform der Studien- und Prüfungsordnungen, Arbeit in der vorlesungsfreien Zeit etc. -, die von den Professoren Mehranstrengungen erfordert hätten, fielen unter den Tisch. Der unzulängliche Studienbetrieb, der die Studienzeiten verlängerte, sollte unangetastet bleiben; sein Symptom, eben die Verlängerung der Studienzeiten, verboten werden. Die administrative Festlegung von Studienhöchstzeiten löste das Problem universitätskonform: der Studienbetrieb ist im Kern gesund; treten dennoch zu lange Studienzeiten auf, so kann das folglich nur an den Studenten liegen; also muß man gegen sie vorgehen. An der FU griff zudem die Juristische Fakultät einer Entscheidung des Akademischen Senats vor, indem sie bereits ab WintersemeSter 1964/65 bei sich die Zwangsexmatrikulation einführte. Die Administration der FU selbst behandelte die Empfehlung der WRK routiniert bürokratisch: sie erbat Stellungnahme der einzelnen Gremien bis zu einem bestimmten Termin und brachte dann, ungeachtet der ablehnenden Stellungnahmen, die Kodifizierung der Zwangsexmatrikulation als Antrag des Rektorats in den Akademischen Senat ein.

Diese Behandlung einer Entscheidung, die die gesamte Studiensituation für die Studenten schlagartig ins Unerträgliche verschlechtern würde, begann an dem institutionellen Selbstverständnis der Studentenvertreter zu rütteln. Die Behandlung des rektoralen Antrags durch den Akademischen Senat im März 1965 zeigte den Studentenvertretern zudem in unübertrefflicher Deutlichkeit, daß die Universität, die durch das Lehrstuhl- und Fakultäten-Prinzip strukturiert ist, außerstande ist, rational zu entscheiden: Gegen die Argumentation der Studentenvertretung - daß eine Verkürzung der Studienzeit ja nur aus einer Studienorganisation resultieren kann, in der sich die Studenten in kürzerer Zeit ausreichend qualifizieren können - gab es im Akademischen Senat - wie sollte auch - keine Gegenargumente; dennoch erklärte sich der Akademische Senat außerstande, in die Autonomie der Fakultäten einzugreifen und ihnen die Einführung der Zwangsexmatrikulation zu untersagen. Der AStA, ohnehin am Ende seiner Amtszeit, gab sich schließlich - natürlich unter Protest - damit zufrieden, daß der Akademische Senat wenigstens nicht die Einführung der Zwangsexmatrikulation beschlossen hatte. Die Erschütterung des Vertrauens, in den universitären Institutionen durch kooperative Arbeit die Interessen der Studenten vertreten zu können, blieb hierbei also ohne unmittelbare Folgen.

Strukturell der gleiche Vorgang wiederholte sich auf einer anderen Ebene im Frühjahr 1965, führte aber diesmal zu Konsequenzen auf seiten der Studentenvertreter. Ende 1964 hatte das Abgeordnetenhaus von West-Berlin, dem Beispiel des Niedersächsischen Landtags folgend, die Fakultäten der FU aufgefordert, bis zum 15. März 1965 Vorschläge zu unterbreiten, mit welchen Maßnahmen die Fakultäten das Studium intensivieren und seine Dauer verkürzen wollen. Die Philosophische Fakultät, die mit über 40 Fächern zweifellos heterogenste Fakultäten, setzte eine Strukturkommission ein. Angesichts der Aussichtsunter den verschiedenen Fachvertretern, ja selbst unter den verschiedenen Vertretern ein und desselben Fachs, auch nur eine Reformdebatte, gesd'weige denn einen Reformprozeß einzuleiten, der einer gemeinsamen Konzeption entspräche, war diese Kommission darauf verwiesen, das Problem zu schematisieren: einfache, administrative Festlegung der Semesterzahl für das sogenannte Grundstudium, der Anzahl obligatorischer Wochenstunden, der Zwischenprüfung etc. Das Interesse der Studentenvertreter, alle Maßnahmen aus einer inhaltlichen Konzeption des Studiums, die vor allem von der wissenschaftlichen Integration der disperaten Wissensstoffe ausgehen sollte, zu entwickeln, konnte dabei keine Berücksichtigung finden. Es kam zu so kuriosen Situationen, daß die~Strukturkommission, wie man konzidieren muß: notgedrungen, von den Wünschen der Fachvertreter nach sehr hohen obligatorischen Wochenstundenzahlen für das Hauptfach ausging und dabei jede Voraussetzung für die ebenfalls obligatorisch vorgeschriebenen Zweit- und Drittstudienfächer beseitigte. Die neugewählten Studentenvertreter versuchten drei Monate hindurch, in unermüdlichen Diskussionen mit Fachvertretern und mit den Mitgliedem der Strukturkommission, diesen Irrsinn zu verhindern; dann hatten sie begriffen, daß diese schematische, unpraktikable "Reform", die simpel den Leistungsdruck auf die Studenten bei ungebesserter Studiensituation erhöhte, notwendig aus einer Hochschulstruktur resultierte, in der die Autonomie der Lehrstühle und Institute zur formal-rechtlichen Unabhängigkeit geworden ist, die jede inhaltliche Diskussion und jede darauf fußende Entscheidung unmöglich macht. Ausgerechnet von denen, die diese rechtliche Unabhängigkeit genießen, zu verlangen, daß sie ihr entsagen sollen, erschien als eine naive Illusion. Die studentische Sprecherin der Philosophischen Fakultät schrieb damals in einem Brief an den AStA: «Ich habe nur die Befürchtung, durch meine Erfahrungen in den letzten Monaten mit der Professorenschaft, der Instituts- und Fakultätsvertretung, der politischen Hochschulgruppe, der ich angehöre, und nicht zuletzt mit Euch jetzt gewitzigt, daß wir auf die bisherige Weise einfach nicht weiterkommen werden. Aus meinen Gesprächen mit Altstudentenvertretern habe ich die Bestätigung entnommen für die Beobachtung, daß durch den ständigen Wechsel in der Studentenvertretung die alten Erfahrungen immer fruchtlos, weil ungehört und ungenützt wie unreflektiert bleiben, daß jeder mit der alten Taktik von Vorne beginnt und entweder aus Konformität mit den Verhältnissen keine Widersprüche und Kollisionen erfährt oder abtritt, wenn er gerade aus den Erfahrungen die Konsequenzen zu ziehen fähig und bereit wäre. Ich habe die Erfahrung gemacht, daß die Professoren, wenn es um entscheidende Fragen geht oder ihre Existenz tangiert ist, nicht einen Finger breit von ihren Vorstellungen und. deren Durchsetzung abweichen. Sie lassen uns in ihre Vorzimmer und Kabinette, Um sich unsrer zu versichern. Und die wenigen, wirklich inhaltlich sich demokratisch verhaltenden Professoren müssen äußerst vorsichtig sein und können es sich nicht leisten, die gegenseitige Loyalität der Professoren zu durchbrechen. ,Morauf warten und hoffen wir dann eigentlich, wenn wir so weitermachen? Wir können allerdings Studentenvertretung auch als Schule persönlicher Erfahrungen betrachten, wobei dann jeder das hinzulemt, was er einzusehen fäh ist. Ich bin durchaus auch für taktisches Vorgehen, nur hört es da bei mir aut, wo der inhaltliche Kern dadurch unkenntlich und seine Mitteilung an andere verhindert wird. Sind wir denn antichambrierende Diener des königlichen Rektors und seiner Nächsten, der Professoren, oder haben wir handfeste Inter essen zu vertreten, und zwar laut und so öffentlich wie möglich.»

Es war also kein Zufall, wenn die Studentenvertreter der Philosophischen Fakultät maßgeblich dafür sorgten, daß die Auseinandersetzung, die wenige Tage später mit dem Rektor in der sogenannten Kuby-Affäre geführt wurde auf den Campus getragen wurde, das heißt in die universitäre Öffentlichkeit außerhalb der Institutionen.

b) Die Anstrengungen der spätkapitalistischen Gesellschaft, ihre Ausbildungs. einrichtungen, und dabei in erster Linie die Universität, zu reformieren, stellte sich also den Studenten - zuerst deren Vertretern - darin dar, daß institutionelle Konflikte innerhalb der Universität aufbrachen. Die Verfassung der FU war zweifellos außerordentlich geeignet, diese Konflikte besonders deutlich hervorzutreiben. Die im "Berliner Modell" den Studentenvertretern eingeräumten Mitverwaltungsrechte sind ja, ihrem Anspruch nach, Elemente einer Organisation wissenschaftlicher Arbeit, die der "Reform" diametral entgegengesetzt ist, die jetzt seitens der Ministerial- und Wirtschaftsbürokratien betrieben wurde. Die Formel von der Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden widerspricht in ihrem Anspruch einem wissenschaftlichen Lernprozeß, der die Studenten zu Objekten verwandelt. Es ist nur konsequent, daß gerade an der Stelle, wo die Entmündigung der Studenten im Lernprozeß institutionalisiert werden sollte, den Studenten die Augen über den tatsächlichen Charakter der bestehenden Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden aufgingen. Sie ist in der Tat eine verschleiernde Phrase, wenn die Lehrenden, der Wahrung ihrer privilegierten Stellung wegen, sich nicht gewillt zeigen, Tendenzen abzuwehren, die inhaltlich vollenden würden, was in den Selbstverwaltungsgremien sich längst institutionell vollzog: daß die Studenten in der Universität jede Selbst- und Mitbestimmung verloren haben. Darin, daß sich die universitären Selbstverwaltungsgremien, in denen die Studentenvertreter Sitz und Stimme haben, in den Fragen für inkompetent erklärten, die für die tatsächliche Selbst- und Mitbestimmung im wissenschaftlichen Arbeitsprozeß entscheidende Bedeutung haben, lag ja keine Neutralität dieser Gremien. Vielmehr zeigte sich darin die Betätigung der tatsächlichen Herrschaftspositionen in der Universität. Den Ordinarien wie Souveränen anheimgestellt, was Intensivierung der Studien ist, konnte immer nur straffere Unterwerfung unter die Lehrveranstaltungen herauskommen, die von diesen Ordinarien von jeher verabfolgt wurden.

Da zunächst nicht die Studenten, sondern ihre Vertreter vor diese Konflikte gestellt waren - darin resümierte sich bereits das ganze Elend der alten kooperativen Studentenvertretungspolitik -, stand nun dieses kooperative Selbstverständnis selbst zur Debatte. In den Institutionen belehrt, daß für Verhandlungen deswegen keine Chance bestand, weil es zwischen Souveränen und absolut Ohnmächtigen keine Verhandlungen, sondern allenfalls Erbettlungen von Gnadenerweisungen gibt, standen die Studentenvertreter bei dem naheliegenden Ausweg, ihre Position durch Mobilisation von Öffentlichkeit zu verstärken; standen dabei jedoch zugleich mit Bangigkeit vor dem Resultat ihrer bisherigen Politik: uninformierten, desinteressierten und passiven Studenten, über deren Aktivierbarkeit keinerlei Anhaltspunkt bestand. Die Studentenvertreter waren also zunächst Gefangene ihrer bisherigen Politik: würde der Versuch, in der studentischen Öffentlichkeit Unterstützung zu finden, fehlschlagen, wären sie gleichermaßen von ihrem Rechtstitel, Interessen der Studenten zu vertreten, wie auch von den Institutionen entblößt, die sonst einen gütigen Schleier über ihre Arbeit gebreitet hatten.

Der Druck, der seitens der Ministerial- und Wirtschafisbürokratien auf den Universitäten lastete, brachte jedoch ein weiteres universitäres Resultat hervor, das der Herstellung studentischer Öffentlichkeit zugute kam. Die Ordinarien wußten, daß ihre einfache, disziplinierende Weiterleitung des Drucks auf die Studenten zunächst nicht die Resultate hervorbringen würde, die die Öffentlichkeit von der Universität erwartete. Angesichts der Gefahr, deswegen vom Staat auf Kosten der eigenen Privilegien härter in Pflicht genommen zu werden, hatten die Ordinarien ein großes Interesse daran, dem Staat und der Öffentlichkeit eine fleißige, das heißt vor allem eine ruhige Universität vorzuspielen. Jede weitere Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die Universität war ihnen unerwünscht. Diese Nervosität der Ordinarien machte sie extrem intolerant gegenüber allen Auseinandersetzungen in der Universität, die das Interesse der Öffentlichkeit erregen könnten.

So trafen auf Grund des Leistungsdrucks, der auf der Universität lastete, optimale Bedingungen zusammen, um eine studentische Öffentlichkeit bei einer Auseinandersetzung hervorzubringen: in dieser Situation hatte die Universität zum einen Studentenvertreter produziert, die bereit waren, mit der kooperativen Konflikterledigung in den Institutionen zu brechen, zum anderen hatte sich die Universität wegen dieses Drucks in eine Angstlichkeit manövriert, die ihre Fähigkeit, Konflikte herrschaftstechnisch optimal zu lösen, erheblich verminderte. Als dann im Sommersemester 1965 mit der Kuby-Affäre die Studentenvertretung, vor allem die der Philosophischen Fakultät, in Zusammenarbeit mit studentischen Vereinigungen den Versuch machte, sich nicht mit der institutionellen Konfliktlösung, die Unterwerfung bedeutete, abzufinden, sondern den Konflikt auf dem Campus auszutragen, kamen ihr die hektischen Abwehrversuche der universitären Administration zugute: kein Student hätte normalerweise einem Studentenvertreter etwas von dem geglaubt, was nun das Rektorat vor aller Augen vollführte.

Eine administrative Ungeschicklichkeit hat also zweifellos zur Verschärfung der Auseinandersetzungen beigetragen; aber sowenig diese Ungeschicklichkeit, wie wir sahen, zufällig war, sowenig verzerrte sie die strukturellen Probleme, um die die Auseinandersetzung ging. In den Auseinandersetzungen des Sommersemesters 1965 erschienen in einer ersten Form die Widersprüche, die die Unterwerfung der lebendigen Produktivkraft Wissenschaft unter die inhaltsleeren Absoptionsmechanismen einer Gesellschaft hervorbringt, die vom Verwertungsinteresse des Kapitals strukturiert ist. Der Streitpunkt in der Kuby-Affäre, das Hausrecht des Rektors, zeigt in aller Deutlichkeit die Unterwerfungsleistung, die die Universität in ihrer institutionellen Form vollbringt.

Im Anspruch des Rektors, deswegen, weil das Hausrecht in seine Kompetenz fällt, lediglich kritisiert, keinesfalls aber bewegt werden zu können, auf Grund von Diskussion seine Entscheidung zu revidieren, ein Anspruch, der im Krippendorif-Fall so weit gebracht wurde, daß aus der formalen Zuständigkeit sogar hergeleitet wurde, daß die Kritik durch formal nicht-zuständige Gremien unzulässig sei - in diesem Anspruch kommt die abgrundtiefe Verachtung gegenüber Entscheidungsmodellen zum Ausdruck, die die inhaltliche, argumentative Bestimmung durch alle Beteiligten zum konstitutiven Grundsatz haben. Jede inhaltliche Diskussion ist in diesem Anspruch zum herrschaftstechnischen Mittel geworden, alle Kritik gegen Entscheidungen zu kanalisieren, die von Institutionen souverän über die ohnmächtig Diskutierenden gefällt werden. Darin ist die Universität nicht feudal, sondern up-to-date mit einer Ministerialbürokratie, die auch den Parlamentsdebatten diese Funktion verliehen hat. Dieser Mechanismus, der rationale Diskussion zum ritualen Moment für die Durchsetzung autokratisch getroffener Entscheidungen macht, strukturiert das gesamte universitäre Leben bis in die wissenschaftlichen Arbeitsformen hinein. Darin wird die Verachtung des Arguments als "uneffektiv" und die Anerkennung der Herrschaftsausübung als effektiv trainiert. Der Akademische Senat machte dieses vernunftfeindliche Effektivitätsprinzip während der Kuby-Affäre besonders deutlich. Indem kein Senator zu finden war, der die inhaltliche Entscheidung des Rektors unterstützt hätte, aber auch keiner, der vom Rektor im Senat die Aufhebung seiner Entscheidung gefordert hätte, zeigten die Senatoren, daß sie das Prinzip, daß entschieden wird, über das stellten, was im Einzelfall entschieden wird. Darin resümierten sie bereits den vielleicht wichtigsten Punkt der viel später beginnenden Hochschulverfassungsdebatte. Der Forderung der Studenten, in sie betreffenden Fragen nicht einfach überstimmt werden zu können, begegnete durchweg ein einziges Argument: dies könne zur Entscheidungsunfähigkeit von Beschlußgremien führen. Wie sehr dies ein parteiliches Argument ist, geht daraus hervor, daß dieselben Leute es keineswegs akzeptieren würden, wenn die Entscheidungsfähigkeit durch eine institutionalisierte Majorität - sagen wir - der Assistenten, anstatt der Ordinarien, garantiert wäre.

Bereits in der Kuby-Affäre enthüllte sich also die institutionelle Struktur vollständig als autokratisch, wurde sichtbar, daß die verschiedenen clearing-Ebenen, die bereits institutionalisiert waren oder angesichts des Konflikts von besorgten Professoren gefordert wurden, nicht der Durchsetzung von Argumenten, sondern allein der Absorption des Arguments jenseits des tatsächlichen Entscheidungsraums dienen. Die Studenten sahen jedoch diese vernunft- und demokratiefeindliche Struktur als universitätsspezifisch an; glaubten darin feudale Relikte zu erkennen, über die die übrige Gesellschaft längst hinaus wäre. In ihren Köpfen spukte zum Teil die Vorstellung, daß die Strategie darauf abzustellen sei, die Universität erst einmal auf das demokratische Niveau zu bringen, das in der Gesellschaft herrsche.

Die Forderungen der Studenten verließen während der Auseinandersetzungen des Sommersemesters 1965 deswegen nicht die Ebene der formalinstitutionellen Argumentation. Man konnte die Auseinandersetzungen geradezu als große, in voller Öffentlichkeit geführte Interpretationskontroverse über die FU-Verfas- sung bezeichnen. Dabei kam immerhin ein fundamentaler Widerspruch in dieser Verfassung selbst erstmals klar zum Vorschein: die nach Prinzipien des bürgerlichen Parlamentarismus strukturierte Selbstverwaltung der Studentenschaft kollidierte mit der feudal-korporativen Struktur der übrigen, universitären Organe und Gremien, und zwar an der Frage der Öffentlichkeit. Während die Entscheidungen der studentischen Selbstverwaltungsgremien grundsätzlich öffentlich gefällt werden, und darin die einzige denkbare Legitimierung von majorisierenden Abstimmungen erblickt werden kann, wurde in den akademischen Gremien, entgegen den Prinzipien einer korporativen Struktur, zwar majorisiert, nämlich gegen die Studentenvertreter; aber es wurde nicht gestattet, hier kam das korporative Prinzip zur Geltung, daß die überstimmte Minderheit an die Offentlichkeit appelliert. Jede Veröffentlichung der studentischen Niederlagen in den akademischen Gremien durch die Studentenvertreter wurde seitens der Ordinarien formal als Bruch der Vertraulichkeit und politisch als illegitimes Ausüben von Druck gerügt. Diese formalen Verstöße seitens der Studentenvertreter versuchte man zu den Ursachen der Konflikte auszustaffieren, um von den wirklichen Ursachen abzulenken, den Gegenständen der Auseinandersetzung. Zugleich versuchte man auf diese Weise zu verbergen, daß die völlige Mißachtung der studentischen Interessen in den akademischen Gremien die Studentenvertreter veranlaßte, an die Öffentlichkeit zu appellieren.

Entsprechend der formal-institutionellen Argumentationsebene während des Sommersemesters 1965 blieb auch das Prinzip der Öffentlichkeit, für das die Studenten kämpften, abstrakt, weil es in den Köpfen der Studenten selbst zunächst nur als Ergänzung zum institutionalisierten Entscheidungsraum begriffen wurde, als Verstärkung der institutionell ohnmächtigen Position der Studentenvertreter in der Universität beziehungsweise ganz abstrakt als das Recht der Studenten auf unbeschränkte Informiertheit. Aus der Kontroverse blieb zunächst ausgespart, daß auch die größte Informiertheit nichts an den tatsächlichen Machtstrukturen in der Universität ändern würde. So führte der AStAvorsitzende noch am Ende der Krippendorif-Affäre - völlig institutionskonform - aus: «Der Konvent (das Studentenparlament der FU) hat [...] einen BeSchluß gefaßt, in dem er den Rektor auffordert, die Nichtverlängerung des ASsistenten Dr. Krippendorif mit dem Ziel zu überprüfen, Dr. Krippendorffs Vertrag zu verlängern und den Konvent noch vor den Parlamentsferien von dieser Überprüfung zu unterrichten. Aber auch dieser Konventsbeschluß wurde erst gefaßt, nachdem seit nahezu sechs Wochen innerhalb und außerhalb der Universität der sogenannte Fall Krippendorff öffentlich diskutiert wurde... Falls man den Konvent so verstanden hat, als wollte er den Rektor zur Revisior seiner Entscheidung zwingen, oder als wollte er dem Rektor das Recht bestrei. ten, die zuständige Entscheidungsinstanz zu sein, so hat man den Konvent falsd verstanden. Der Konvent hat allerdings sehr deutlich den Rektor auf die mög lichen Konsequenzen seiner Entscheidung hinweisen wollen.»

c) Diese Kontroverse über Öffentlichkeit, als abstraktes Recht auf Informiertheit und Kritik, die im Sommersemester 1965 ausgetragen wurde, hatte immerhin ausgereicht, um die Macht der Pröfessoren sich vollkommen decouvrieren zu lassen. Gezwungen, sich öffentlich verteidigen zu müssen, verlor sie ihre ganze Aura, ohne die sie als pure Willkür erschien. Ihre Autorität als verinnerlichte, fraglos anerkannte, war dahin. Die universitären Institutionen hatten ihre Schwäche und Anfälligkeit gegenüber der öffentlichen Diskussion ihrer Entscheidungen erkennen lassen. Das später als "Vietnam-Semester" bezeichnete Wintersemester 1965/66, dessen Bewegungskräfte deswegen vor allem in den Kapiteln von Dutschke und Rabehl dargestellt werden, brachte eine entscheidende Konkretisierung des Prinzips der Öffentlichkeit.

Konnten die rektoralen Zensurmaßnahmen im Sommersemester 1965 als gereizt-autokratische Vergeltungsmaßnahmen gegen Kritik beziehungsweise gegen politische Informationsarbeit überhaupt erscheinen, so erwiesen sich diese Maßnahmen im Wintersemester 1965/66 als gegen bestimmte politische Informationsveranstaltungen gerichtet, ließen sich also als politisch-parteiliche Maßnahmen erkennen. Indem das Rektorat wissenschaftliche Neutralität von studentischen Informationsveranstaltungen zu politischen Fragen verlangte, eignete es sich nicht nur auf sublimere Weise ein inhaltliches Zensurrecht zu denn über Wissenschaftlichkeit kann nach universitärem Brauch selbstverständlich letztinstanzlich nur der Ordinarius befinden , sondern es sprach auch ein generelles Verbot gegen politische Parteinahme in der Universität aus. Das Recht auf Informiertheit und Kritik, das die Studenten verteidigten, erweiterte sich dementsprechend zum Recht auf politische Parteinahme in der Universität. Auch wenn die Studentenvertretung im Wintersemester 1965/66 daraus noch keine Konsequenzen zog, die über das Sommersemester 1965 hinausgegangen wären, war dennoch in dieser Erweiterung prinzipiell das Stadium verlassen, in dem die Forderung nach Öffentlichkeit sich schizophren-widerspruchsfrei zu den tatsächlichen institutionellen Machtverhältnissen in der Universität verhielt. Indem Informiertheit als ein Moment aufgeklärt-politischer Parteinahme und damit von Praxis zu erscheinen begann, kündigten sich neuartige Konflikte für den Fall an, daß die autokratisch getroffenen Entscheidungen den Informierten als unsinnig oder gar gefährlich erkennbar würden; die Frage der praktischen Kritik solcher Entscheidungen stünje dann vor den Informierten.

Noch ein weiteres Moment trat Anfang 1966 zur Kontroverse hinzu. Das Rektorat bemühte sich darum, ein Studentenhaus außerhalb der Universität zu errichten, um die Universität endlich von der Mißlichkeit zu befreien, mit den politischen Veranstaltungen von Studenten in der Öffentlichkeit identifiziert zu werden. (Die Universität wurde tatsächlich mit politischen Veranstaltungen von Studenten identifiziert, weil die Öffentlichkeit, allen voran die SpringerÖffentlichkeit, es der Universität zum Vorwurf machte, ein politisches Engagement der Studenten, das längst der demokratiefeindlichen etablierten Politik entwachsen war, nicht wirksam unterdrücken zu können.) Die Studentenvertreter waren sich einig, kein Studentenhäus erhalten zu wollen, ohne daß sie öffentlich oder auch nur intern ihre Gründe dagegen ausführlich diskutiert hätten.* Sie wehrten sich ohne genaue Artikulation gegen den Versuch, Wissenschaft und Politik endgültig zu trennen. Sie bestanden darauf daß die Universität sich weiterhin mit politischen Veranstaltungen insofern identifiziere, als sie anerkennen sollte, daß politische Parteinahme genuin zur Universität gehört, indem sie für politische Veranstaltungen Hörsäle zur Verfügung stellt. Auch hierbei war das "Berliner Modell" der Hintergrund, auf dem dieses Problem überhaupt in den Blick rücken konnte. In dem Institut der "Förderungs- würdigkeit studentischer Vereinigungen", das sich zunächst explizit nur gegen die Burschenschaften richtete, hatten die Gründer der FU wenn auch nur ansatzweise - eine wichtige Konsequenz aus dem Versagen der deutschen Universität während des Faschismus gezogen: sie hatten begriffen, daß nicht jede politische Wissenschaft, wie heute oft behauptet, für den Faschismus brauchbar war, sondern gerade jede unpohtische Wissenschaft. Indem der Rektor die nonkonforme Politik einfach aus der Universität verbannen wollte (versüßt dadurch, daß er selbst die Mittel für ein Studentenhaus auftrieb), versuchte er eine historische Korrektur am FU-Modell: Wissenschaft und Politik sollten wieder als getrennte Sphären institutionalisiert sein. Für die Studentenvertreter selbst waren Wissenschaft und Politik nur abstrakt, nur "irgendwie" miteinander verbunden. Hier gab der Rektor ihnen Hilfestellung, diese Verbindung zu konkretisieren. In seinem Versuch, Politik aus der Universität zu verbannen, und, als das Studentenhausprojekt an der Grundstückfrage scheiterte, in dem entsprechenden Versuch, nur noch wissenschaftliche, das heißt politisch-neutra- le Veranstaltungen in der Universität zu gestatten, in diesen Versuchen konnten die Studenten den Rückzug auf Wissenschaftlichkeit identifizieren als Rückzug in eine opportunistische Sphäre. Gerade in dieser Zeit, Februar 1966, ließ sich überdies der Rektor herbei, an den amerikanischen Stadtkommandanten wegen der sechs Frischeier, die an der Fassade des Amerika-Hauses zerschellt waren, einen Entschuldigungsbrief zu schreiben, der von beschämender Unterwürfigkeit zeugte. Dies zeigte den Studenten erneut, wie richtig sie interpretierten, wenn sie den Rückzug auf Wissenschaftlichkeit als opportunistischen Rückzug von jeder politischen Verantwortung der Wissenschaft ansahen.

Der institutionelle Konflikt wurde also inhaltlich, begann in der wissenschaftlichen Arbeit der Universität selbst seinen Gegenstand zu finden, indem er scheinbar ganz abstrakt wurde, die universitäre Sphäre scheinbar gegen eine allgemein-politische vertauschte. Die Professoren, die nicht gut offenkundig parteiliche Zensur über politische Veranstaltungen ausüben konnten, die gewachsene politische Aktivität der Studenten aber aus dargelegten Gründen nicht dulden wollten, nahmen ihre Zuflucht in der reinen Sphäre der Wissenschaft, die nach ihrer Interpretation strikte Parteilosigkeit verlangt. Dadurch lenkten sie die Aufmerksamkeit der Studenten, denen der parteiliche Charakter dieses Manövers nicht entging, auf jene reine Sphäre der Wissenschaft. Diese erschien, das war nach den voraufgegangenen institutionellen Konflikten gar nicht anders möglich, zunächst als die Sphäre, in der die ordinariale Autokratie ihre sicherste Verankerung hat. Die reine Wissenschaftlichkeit erschien also als Herrschaftssphäre. Die längst von studentischen Experten analysierten Mißstände in der wissenschaftlichen Arbeit der Universität - mangelnde Reflexion der Prämissen und Methoden, Unkontrolliertheit der wissenschaftlichen Verfahren, die dementsprechende Farce der Seminardiskussionen etc. - wurden jetzt als Momente ordinarialer Herrschaft für größere Teile der Studentenschaft erkennbar; und zwar erkennbar als Momente einer bestimmten politischen Herrschaft der Ordinarien, nämlich der, die die Unfähigkeit der Wissenschaften garantiert, politische Kritik zu werden, und die die Ordinarien befähigt, unauffällig ihre Privilegien durch politischen Opportunismus zu verteidigen.

Darin, daß nun das Recht auf politische Parteinahme in der Universität, als Ausdruck der politischen Verantwortung der Wissenschaften, von den Studenten verteidigt wurde, gewann das Prinzip der Öffentlichkeit bereits seine Dimension als Kriterium für die wissenschaftliche Arbeit selbst. Das zunächst formale Prinzip hatte sich in das arbeitsorganisatorische Prinzip gewandelt, die politischen Voraussetzungen und Implikationen wissenschaftlicher Arbeit der öffentlichen Diskussion zu unterwerfen. Auch wenn diese Forderung im Wintersemester 1965/66 noch nicht explizit gestellt wurde, war doch bereits die Ebene für diese Forderung gewonnen. Genau im zweiten Teil dieses Wintersemesters begann die Praxis öffentlicher Rezensionen von Lehrveranstaltungen, wobei freilich die politische Kritik der wissenschaftlichen Arbeit in Kriterien erfolgte, die in der Studienreformdebatte und in der eben begonnenen hochschuldidaktischen Diskussion gewonnen waren.

d) Das Sommersemester 1966, dessen Beginn noch von den Ausläufern der Auseinandersetzungen bestimmt war, die um die Raumvergabe für politische Veranstaltungen geführt wurden, brachte eine erneute und verschäifte Auseinandersetzung über die Zwangsexmatrikulation. Die Juristische Fakultät senkte ihre alte Studienhöchstzeit unter die durchschnittliche Studienzeit; die Medizinische Fakultät führte eine gestaffelte Zwangsexmatrikulation neu ein; beides geschah während der Semesterferien, also zu einer Zeit, zu der nicht nur keine Studenten zu aktivieren waren, sondern zu der auch nicht einmal das Studentenparlament zusammentreten konnte. Die Studentenvertretungen der beiden betroffenen Fakultäten versuchten zu Beginn des neuen Semesters, die Studenten gegen die Zwangsexmatrikulation zu aktivieren, was ihnen selbst an diesen traditionell "konservativen" Fakultäten relativ leicht gelang. Dann beschloß das Studentenparlament eine Urabstimmung zur Zwangsexmatrikulations-Frage. Inzwischen wurde auch in den nicht betroffenen Fakultäten Aufklärungs- und Aktivierungsarbeit geleistet. Es war allen Beteiligten, Studenten wie Professoren, klar, daß sich die Studentenschaft mit überwiegender Mehrheit in der Urabstimmung gegen die Zwangsexmatrikulation aussprechen würde. Die Professoren, die in den Vollversammlungen die Zwangsexmatrikulation zu verteidigen suchten, ernteten von den Studenten zwischen Hohn und Verbitterung schwankendes Gelächter. In einer dieser Vollversammlungen lieferte schließlich ein Professor das Stichwort: Es gehe «nicht um eine Studienreform, sondern um Studentenreform». Der Rektor untersagte - gedeckt vom Wissenschaftssenator und auch vom schließlich angerufenen Verwaltungsgericht - die Durchführung der Urabstimmung in den Räumen der FU.

Das Verbot der Urabstimmung über die Zwangsexmatrikulation machte mehr von der Zwangsexmatrikulation deutlich als alle Diskussion: die Betroffenen sollten nicht einmal mehr ihren Willen in einer statuierten Form artikulieren können; mit zynischer Offenheit wurde eine Maßnahme gegen den erkennbaren Willen der Betroffenen kraft institutioneller Zuständigkeit exekutiert. Was über die Zwangsexmatrikulation selbst in den Diskussionen dargelegt wurde, daß sie den Studenten völlig zum Objekt eines oktroyierten Lernprozesses mache, das erhielt sinnliche Qualität in der Art ihrer Einführung. Die Professoren, die ihre Maßnahme mit zynischen Sprüchen begründeten - die Zwangsexmatrikulation sei «am Rande abgefallen», «bei einem Massenbetrieb braucht man einfach irgendwelche Möglichkeiten», von keiner Maßnahme stehe es von vornherein fest, ob sie vernünftig sei, eine jede sei nun mal «ein Schuß ins Dunkle», «in Gottes Namen Elite! Die kriegen Sie nie weg. Es kommt darauf an, dazu zu gehören!», «300/0 sind gute, zum Teil sehr gute Leute [. . .] und ein weiteres Drittel sind Leute, die mit nachsehender Fürsorge noch zu recht nützlichen Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft ... .1 und ein weiteres Drittel, die sind schlecht, da ist leider gar nichts dran zu meckern, die sind schlecht, bedauernswert und schrecklich schlecht» - die Professoren waren, trotz der offenkundigen Ignoranz solcher Sprüche, effektiv nicht zu hindern, ihre Maßnahme einfach durchzuführen, wenn sich die Studenten an den institutionellen Rahmen hielten.

Überdies wurde der wirkliche Charakter der einzelnen Studienreformschritte, über die gerade in den verschiedenen Fakultäten diskutiert wurde, durch die Zwangsexmatrikulation, besonders die an der Medizinischen Fakultät, vollends deutlich. Das Studium an der Medizinischen Fakultät war formal bereits so organisiert, wie dies an den anderen Fakultäten erst durch "Studienreform" erreicht werden sollte: Zwischenprüfungen gliederten das von obligatorischen Lehrveranstaltungen strukturierte Studium. Genau diese Zwischenprüfungen wurden zum Eckpfeiler der Zwangsexmatrikulation: man setzte einfach - Zeit fest, wann die Zwischenprüfungen erfolgreich absolviert sein müssen. Am Studium selbst brauchte man auf diese Weise nichts zu ändern. Die Studenten der nicht-betroffenen Fakultäten begriffen an dieser Form von Zwangsexmatrikulation, wem die Neueinführung von Zwischenprüfungen und obligatorischen Lehrveranstaltungen "Orientierung bieten" sollte: denen, die den Studenten mit Abbruch der akademischen Ausbildung dafür bestrafen, daß er sich an ein irrationales Studiensystem nicht gut genug anpassen konnte. Die bestehendc Studienorganisation, die keinerlei inhaltliche Orientierung zu bieten vermag, wurde einfach zum Gegenstand des «Vogel friß oder stirb !» Deutlich wurde also, was mit Studentenreform gemeint war: der Student Sollte dazu reformiert werden, nichts anderes zum Ziel seines Studiums zu haben, als in vorgegebener Zeit die Lernprozesse zu durchlaufen, die keiner kritischen Kontrolle unterliegen.

Der gesellschaftliche Inhalt solcher Unterwerfung wurde gleich mitgenannt: «Es kommt darauf an, dazu (zur Elite) zu gehören!» Das war freilich schlechter Trost für die, die «bedauernswert und schrecklich schlecht» sind. Ihnen, die weit mehr als ein Drittel ausmachten, wenn die Studienhöchstzeit unter der durchschnittlichen Studienzeit angesetzt wurde, wurde ihr Schicksal in dem Verwaltungsakt anschaubar, mit dem der Rektor die Urabstimmung in der FU einfach verbieten konnte. Ein bürokratischer Federstrich konnte ihre antizipierte berufliche Existenz auslöschen, ein Federstrich, der womöglich selbst von den Bürokraten in einigen Jahren, wenn es den gefeuerten Studenten nichts mehr nützen kann, als ein «Schuß ins Dunkle» eingeschätzt würde. Und dies jeder Vernunft entratene Regiment der Ordinarien fand in den zuständigen staatlichen Institutionen seine Abdeckung, weil es formal keine Ordnung verletzte. Nur die formale Korrektheit der Herrschaftsausübung interessierte die staatlichen Instanzen. Das Verwaltungsgericht gab dem den besten Ausdruck: Es gab dem studentischen Antrag auf einstweilige Anordnung gegen das rektorale Verbot nicht statt, weil eine solche Anordnung, indem sie die Urabstimmung ermöglicht, «die Sache vorwegnehmen würde». Daß die eigentliche Sache, die Zwangsexmatrikulation von vornherein «vorweggenommen» war, dagegen zu klagen, gab es keine Appellationsinstanz. Es ist deshalb kein Wunder, daß die Studenten der FU mit dem großen sit-in vom 22.123. Juni 1966 ihren hochschulpolitischen Kampf auf eine Ebene hoben, die den engeren universitären Blickpunkt zu überwinden gestattete. Die Präambel der Resolution, die von diesem sit-in verabschiedet wurde, läßt sich nicht mehr in dem Rahmen unterbringen, den normalerweise das Wort Hochschulpolitik umreißt.

Die Studenten begannen also in ihrer erweiterten Praxis zu begreifen, daß ihre Auseinandersetzung in der Universität sich um Widersprüche bewegte, die keinen isoliert universitären Charakter haben. Bezeichnenderweise schien dazu jedoch weniger ihre unmittelbare Situation beizutragen, die ihnen ja deutlich zeigte, daß sie, allein auf sich gestellt, die von ihnen geforderte Demokratische Universität nicht erlangen konnten; vielmehr schienen die Studenten den gesamtgesellschaftlichen Charakter ihrer Auseinandersetzung eher abstrakt yon den Begriffen ihrer Hochschulkritik und ihrer Forderungen herzuleiten. Aber in dieser, in einer Massendiskussion hervorgebrachten theoretischen Verlängerung der Linien des inneruniversitären Konflikts überwanden die Studenten zum einen ihre Vorstellung, daß die inneruniversitären Konflikte sich hauptsächlich einer, im Vergleich zur Gesamtgesellschaft, rückständigen Universitätsstruktur verdanken, und überwanden damit zum anderen ihr blindes Verrauen, daß ihre Gesellschaft grundsätzlich den Anforderungen von Rationalität und Demokratie Verwirklichung verschaffe. Sie begannen in der Gesellschaft die verschiedenen Kräfte zu unterscheiden, wenn auch unter dem abstrakten Kriterium verfassungmißachtend - demokratisch, um die Bundesgenossen ihres Kampfes identifizieren zu können. In dieser abstrakten Differenzierung unter den gesellschaftlichen Kräften, reflektierte sich die naive Betroffenheit, mit der die Studenten die Entwicklungen in der Gesellschaft realisierten: Pläne zur "Formierten Gesellschaft", Notstandsgesetze etc.; reflektierte sich ein fast ungläubiges Erstaunen darüber, daß es überhaupt demokratiefeindliche Tendenzen geben kann. Studenten, die auf dem sit-in erklärende Begriffe "Monopolkapital", "antagonistische Widersprüche" etc. - anzubieten versuchten, wurden damals noch hastig ausgezischt. Die gesellschaftliche Perspektive ihres Konflikts, die den Studenten dämmerte, blieb nicht zuletzt deswegen abstrakt, weil bis dahin ihre Praxis in diesem Konflikt nur eine Praxis in der Hochschule war. Die Formel der Resolution - ... . sieht die Studentenschaft die Notwendigkeit, mit allen demokratischen Organisationen in der Gesellschaft zusammenzuarbeiten. . . » -, diese Formel war noch nichts mehr als Deklamation.

Das sit-in selbst verdeutlichte, die Sinnlichkeit des Dramas benützend, seine allgemeine Forderung - daß die Betroffenen am Fntscheidungsprozeß zu beteiligen sind - für den universitären Bereich: Delegationen wurden zum gleichzeitig tagenden Akademischen Senat mit der Aufforderung an diesen entsandt, mit den versammelten Studenten zu diskutieren, das heißt die Studenten an den Entscheidungen teilnehmen zu lassen; dies wurde noch unterstrichen, indem die Studenten von einem Rasenstück vor dem Hauptgebäude, wo sie sich anfänglich versammelt hatten, in das Hauptgebäude selbst hineinzogen, bis vor die Türen des Raums, in dem der Akademische Senat tagte. Während der Akademische Senat noch zögerte, zu den Studenten herunterzukommen, eröffneten die Studenten selbst die Diskussion über die anstehenden Fragen, die sonst in der Universität nicht geführt wurde.

In dieser Wendung des sit-in, daß es sich selbst zur Form des von ihm Geforderten, der verbindlichen Diskussion, machte, kam der Doppeleharakter dieser Massenaktion zum Vorschein, der sich wenige Stunden später als praktische Alternative stellte: Als schließlich ein Teil des Akademischen Senats mit dem Rektor an der Spitze bei den Studenten erschien, und der Rektor den Studenten erklärte, daß er und der Akademische Senat bereit seien, in den nächsten zehn Tagen mit der Studentenvertretung über die studentischen Forderungen zu diskutieren, leitete der Rektor aus dieser Zusage die Auflösung der studen tischen Versammlung wie eine logische Konsequenz ab. Für ihn kamen Diskussionen nur im institutionalisierten Rahmen, also mit der Studentenvertretung in Frage; die Massenversammlung selbst verlor für ihn in dem Moment jede denkbare Funktion, in dem sie die Zusage für diese institutionalisierten Diskussionen der akademischen Seite abgezwungen hatte. Die Massenversammlung stand vor ihrem Doppeicharaker: sowohl Ergänzung, nämlich Druckmittel der studentischen Repräsentativorgane zu sein, wie auch etwas Selbständiges, nämlich ein öffentliches, universitäres Forum, das die neue Form der erstrebten verbindlichen Diskussion, die zu Entscheidungen führt, ankündigt. Am 22. Juni löste sich die Massenversammlung auf die Aufforderung des Rektors hin nicht auf, sondern wandelte sich in ein teach-in über die andiskutierten Fragen um, das sich in die Morgenstunden des 23. Juni vertagte. Zuvor bekräftigte die Versammlung noch ausdrücklich ihre Forderung, daß Rektor und Akademischer Senat mit den erneut sich versammelnden Studenten in die Diskussion eintreten sollen. Das Studentenparlament stand so vor der schwierigen Entscheidung, entweder nicht in die Diskussion mit der akademischen Seite einzutreten, solange diese sich nicht bereit erklärte, mit einer studentischen Massenversammlung in die Diskussion einzutreten, oder, angesichts der Ungewißheit, ein zweites Mal so viele Studenten aktivieren zu können, in einer Diskussion mit der akademischen Seite den Druckeffekt des sit-in auszunützen; es entschied sich schließlich dafür, in die Diskussion mit der akademischen Seite einzutreten, um vor allem eine Forderung des sit-in durchzusetzen, die Forderung nach paritätischen Studienreformkommissionen. Diese Forderung setzte es, wenn auch in modifizierter Form, durch. Jene Kommissionen waren jedoch zweifellos ein ganz und gar unzureichendes Kompromiß: zwar lagen die Kommissionen jenseits des Rahmen, den die FU-Verfassung vorsieht, und waren insofern tatsächlich Ausdruck des neuen Verhältnisses zwischen Lehrenden und Lernenden, das durch das sit-in konstituiert wurde; aber dadurch, daß die erhaltenen Kommissionen den etablierten institutionellen Verhältnissen keine wirkliche Macht entgegenstellen konnten, also kein Jota am desolaten Zustand ändern konnten, wenn es den Ordinarien nicht paßte, dadurch waren die erlangten Kommissionen eher Instrumente der Verschleierung der unangetasteten Ordinarienautokratie und der Kanalisation des studentischen Protests. Als später die Arbeitsergebnisse einiger dieser Kommissionen in kontradiktorischen Widerspruch zur tatsächlichen Studienpraxis an der FU gerieten, gelang es der Studentenvertretung bezeichnenderweise auch nicht, aus diesen Widersprüchen erneut studentische Öffentlichkeit herzustellen.

Die Entscheidung des Studentenparlaments, mit der es vom Beschluß der versammelten Studenten abwich, löste unter den Studenten Differenzen über das Öffentlichkeitsprinzip aus: ob Öffentlichkeit nur bedeuten Sollte, daß die Studenten optimal über den Kampf ihrer Vertreter unterrichtet sind und ihren Vertretern in kritischen Phasen des Kampfes mit Mass~naktionen zur Hilfe eilen, oder ob Öffentlichkeit darüber hinaus ein Feld selbsttätiger Praxis der Studenten bedeuten sollte, die von der Studentenvertretung zur Grundlage aller Arbeit genommen würde. Es ging also um die Frage, ob die politische Aktivi tät der Studenten prinzipiell darauf ausgerichtet sein muß, innerhalb des vorgegebenen institutionellen Gefüges realisiert werden zu können oder nicht. Die Studenten, die am sit-in vom 22.123. Juni 1966 teilgenommen hatten, waren zweifellos nicht in der Lage, ohne die Organe der Studentenvertretung die Auseinandersetzung in der Hochschule kontinuierlich zu führen. Selbst die aktivsten studentischen Vereinigungen betrieben kontinuierliche Hochschulpolitik fast ausschließlich durch diejenigen ihrer Mitglieder, die in den Organen der Studentenvertretung tätig waren. Andererseits hatten die Organe der Studentenvertretung die Funktion verloren, alleiniger Ausdruck studentischer Hochschulpolitik zu sein. Dieser ungeklärte Zustand nach dem sit-in vom Juni 1966 brachte aus sich eigenständige hochschulpolitische Initiativen einzelner Studenten außerhalb der Studentenvertretungen hervor (die sicherlich bedeutsamste dieser Initiativen während der farcenhaften Diskussion, die der Rektor mit Studenten am 26. November 1966 führte, nämlich die Verteilung und Verlesung des "Fachidioten-Flugblatts"). Bereits bei den Vietnam-Aktivitäten einzelner Studentengruppen im Wintersemester 1965/66 hatte sich angekündigt, was durch diese eigenständigen Initiativen jetzt die Politik der Studentenvertretung zu strukturieren begann: dadurch, daß einzelne Studenten oder einzelne studentische Gruppen in der Umiversität sich politisch oder hochschulpolitisch betätigten, richteten sich die Restriktionen der akademischen Seite nicht mehr allein gegen die Studentenvertretung, sondern zunehmend gegen die aktiven studentischenschen Gruppierungen; auf diese Weise fiel der Studentenvertretung die Aufgabe zu, Restriktionen in Fällen abwehren zu müssen, mit denen sie nur indirekt etwas zu tun hatte; das heißt aber, die Studentenvertretung wurde nun zum Teil zur Ergänzungsfunktion für selbständige Initiativen aus der Studentenschaft.

Der Kampf gegen die immer rigider werdenden Herrschaftsverhältnisse in der Universität begann also, die Verhältnisse innerhalb der Studentenschaft zu verändern. Die repräsentativen, monopolartigen Organe des studentischen Willens hatten den Kampf gegen die ordinariale Autokratie nicht führen können, ohne daß die vertretenen Studenten selbst in diese Auseinandersetzung eingriffen. Dabei aktivierte die Studentenvertretung politische Formen, Urabstimmung, Vollversammlung, die zugleich Formen waren, in denen sich die Studenten unmittelbar, ohne irgendwelche Vertretung, artikulieren konnten. Damit geriet die Studentenvertretung nicht allein unter die wirkliche Kontrolle derer, die sie vertrat; vielmehr war damit den Studenten die Möglichkeit eröffnet, von politisch Interessierten zu politisch Tätigen zu werden. Informationen, die die Studenten von ihrer Vertretung erlangten, waren nicht mehr Konsumartikel, sondern sie waren Moment eigenständiger, von Praxis nicht abgeschnittener Reflexion, wurden zu Mitteln selbstbestimmten Handelns. Die Auseinandersetzung brachte also bereits zu einem Zeitpunkt, wo die ordinariale Machtposition noch in keiner Weise wirklich angegriffen war, die entscheidenden Schritte studentischer Emanzipation hervor. Die Studenten hörten auf, widerspruchslose Objekte irgendwelcher Institutionen zu sein. Ihr erster Schritt dabei war, sich faktisch davon zu emanzipieren, grundsätzlich vertreten werden zu müs sen. Die Arbeit der Studentenvertretung wurde tatsächlich zur delegierten Funktion einer mündigen Gruppe von Menschen; die Studenten bitten also begonnen, die Institutionalisierung ihres eigenen gesellschaftlichen Verkehrs in das aufzulösen, was Institutionen für mündige Menschen wären: selbstgeschaffene Einrichtungen, über die zu verfügen, man mächtig ist und bleibt.

Der Kampf der Studenten erschöpfte sich also nicht darin, die ins Unerträgliche fortschreitende Entmündigung innerhalb der Universität abzuwehren; um dieseri Kampf überhaupt durchführen zu können, waren die Studenten~ vieltnehr gezwungen, Formen ihrer Selbständigkeit und Emanzipation zu entwickeln, die einen konkreten Vorgriff auf die universitären und darüber hinaus gesellschaftlichen Verhältnisse darstellten, für die sie kämpften.

e) Der Wandel im Charakter der Studentenvertretung jetzt Funktion eigenständiger Initiativen aus der Studentenschaft zu sein - erhielt erst seine volle Entfaltung, als ab Wintersemester 1966167 die städtische Administration verstärkt gegen die politischen Initiativen einzelner studentischer Gruppierungen in demokratiefeindlicher Weise einschritt (Dezemberdemonstrationen 1966, SDS-Razzia im Januar 1967, Humphrey-"Attentat" im April 1967 und vor allem der 2. Juni 1967 selbst).

Aber nicht nur einzelne studentische Gruppen, sondern die Studentenvertretang selbst geriet ab Sommersemester 1966 verstärkt «in den Bereich staatsbürokratischer Maßnahmen» (Unterbindung der Beitragserhöhung für den AS~- Haushalt, Eindämmung des Demonstrationsrechts, Erhöhung der Studiengebühren, Streichung von Zuschüssen zum AStA-Haushalt). Die Studenten erfuhren also als Demonstranten, als einzelne Gruppierungen und auch insgesamt in ihrer repräsentativen Vertretung seitens der städtischen Bürokratie das gleiche willkürlich-autokratische Regiment, das sie seitens der universitären Administration längst kannten. Diese Gleichheit entwickelte sich nach der Humphrey-Aktion der Polizei zur direkten Kooperation zwischen städtischer und universitärer Administration: Der Regierende Bürgermeister händigte dem Rektor Schwarze Listen ein, um die disziplinarische Bestrafung von Demonstranten zu sichern; beim sit-in am 19. April 1967 schließlich rief der Rektor die Polizei zur Hilfe, um die Studenten, die im Hauptgebäude diskutierten, mit Gewalt fortschaffen zu lassen. In den folgenden Tagen berieten Rektor und städtische Administration einen Eskalationsplan, mit dem die FU "befriedet" werden sollte. Die Studenten erkannten zwar darin, daß sich die städtische Administration an den Restriktionen der Universität beteiligte, wie gereizt die formal demokratischen Institutionen der Gesellschaft darauf reagieren, wenn auch nur eine objektiv ohnmächtige Personengruppe inhaltlich Demokratie zu praktizieren beginnt. Aber dies war zunächst eine ziemlich abstrakte Einsicht. Den Studentenvertretern war einstweilen nicht vielmehr deutlich geworden als dies: wie wenig realistisch ihre Hoffnung war, bei konkreten Reformschritten das technokratische Reforminteresse der Staatsbürokratie gegen die archaischen Interessen der Ordinarien ausspielen zu können und umgekehrt.

Für die inneruniversitäre Auseinandersetzung jedoch hatte das sit-in vom 29. April 1967 wie kein Ereignis klärend gewirkt. Rektor und Akademischer Senat hatten es so weit gebracht, nur noch mit unmittelbarer Gewalt ihre Herrschaft in der Universität behaupten zu können. Obgleich die Gegenstände des studentischen Protests offenkundig waren - schlie~lich beriet der Akademische Senat gerade über das Verbot von Seminarrezensionen in der Studentenzeitschrift, über Disziplinarverfahren gegen die Humphrey-"Attentäter", über die Aberkennung der Förderungswürdigkeit des SDS, schließlich hatte der Rektor wenige Tage zuvor eine Schwarze Liste vom Regierenden Bürgermeister entgegengenommen -, erschien der studentische Protest dem Rektor und dem Akademischen Senat als willkürliche Subordinationsverletzung, hatte doch der Rektor eine Versammlung in der Halle verboten. Sie sahen in den Studenten, die sich in der Halle niedergelassen hatten und über jene Restriktionen diskutierten, nichts als «die braunen Horden». Die Professoren mußten also, wenn unten in der Halle der «faschistische Mob tobte», erweisen, was sie aus dem Faschismus gelernt haben: im Augenblick, da spontane Massenaktionen "rechtsstaatliche" Grundsätze, und sei es auch nur das Hausrecht über ein öffentliches, der wissenschaftlichen Diskussion dienendes Gebäude, verletzen, gilt es, die "Rechts- staatlichkeit" auf Kosten der Demokratie zu retten; "aufgeklärte Diktatur" ist der letzte Halt gegen andere, "totalitäre" Diktaturen, wozu bereits jede direkte Volksherrschaft zu zählen ist. Darin resümierten die Ordinarien den ganzen antidemokratischen Inhalt der antikommunistischen Faschismusverarbeitung. "Schweren Herzens» riefen also Rektor und Akademischer Senat nach dem Büttel, nachdem sie mehrmals vergeblich nichts als die sofortige Räumung der Halle verlangt hatten; richtiger: gerade weil sie nichts anderes als die Räumung verlangt hatten, nichts anderes zu verlangen fähig waren. Später, nachdem die Polizei ihren Einsatz abgebrochen hatte, offenbarte sich das ganze Elend der Professoren. Noch fieberhaft mit Telefonaten zum Innensenator bemüht, einen neuen Polizeieinsatz zu erreichen, überraschte sie eine Aufwärterin mit der Nachricht, daß die Studenten von sich aus, nach Beendigung ihrer Diskussion, ihre Versammlung aufgehoben haben. Daß gerade in dieser, von aller Fixierung und Beschränktheit gelösten Freiheit der Studenten, nach Beendigung der Diskussion die Halle von sich aus verlassen zu können, den Professoren die ganze Borniertheit ihrer eigenen Autorität entgegenschlug, zeigten die unbeherrschten Wutausbrüche der Senatoren, die die Nachricht von der eigenständigen Auflösung des sit-in hervorrief. Ihre ganze Ohnmacht hatte sich gezeigt, als die Studenten aus eigenem Entschluß das taten, was die Ordinarien mit allen Drohungen nicht hatten erreichen können. Kein Wunder also, daß der Rektor in den nächsten Tagen Massenrelegationspläne mit der städtischen Administration beriet und erst einmal Disziplinarverfahren gegen fünf exponierte Studenten, darunter vier Studentenvertreter, einleitete. Nach der Niederlage vom 19. April, verschuldet durch die phantasielose, an sich selbst fixierte Autoritätsposition der Ordinarien, wollte die akademische Seite auf die entscheidende Machtprobe hinaus. Die inhaltsleere, autokratische Struktur der Universität selbst war zum unmittelbar praktischen Gegenstand der Auseinandersetzung geworden, nachdem die Professoren sich außerstande erwiesen hatten, auf die Forderung nach verbindlichen Diskussionen anders denn mit Gewalt zu antworten.

Die Studentenvertretung wagte es - nach langen nächtlichen Diskussionen - nicht, diese professorale Herausforderung direkt anzunehmen und ein weiteres, größeres sit-in zu organisieren, das die universitäre Administration zum Einlenken oder aber zu der, für die Professoren sehr unangenehmen Entscheidung zwingen würde, die Universität zu schließen. Die Urabstimmung zur Solidarisierung mit den disziplinarisch bedrohten Studenten, die die Studentenvertretung der direkten Konfrontation vorzog, stellte jedoch die politische Hauptfrage klar genug: indem die Urabstimmungsfrage das "objektiv" ordnungswidrige Verhalten der bedrohten Studenten der billigenden oder mißbilligenden Entscheidung der Studenten unterwarf, stellte sie die Frage nach der Zustimmung oder Ablehnung einer studentischen Politik, die bewußt den institutionellen Rahmen überschreitet. Im institutionellen Gefüge der Universität, so war es im Prozeß der Auseinandersetzungen deutlich geworden, lag die fiktive Beteiligung der Studenten am Produktionsprozeß der Universität, lag ihre durchs "Berliner Modell" verzuckerte Unmündigkeit. In den außerinstitutionellen Formen politischer und hochschulpolitischer Betätigung wurden hingegen Möglichkeiten für wirkliche Selbständigkeit und Subjekthaftigkeit erkennbar. Die Urabstimmung fiel positiv für die außerinstitutionelle Politik aus. Der dadurch einstweilen abgewiesene Vorstoß der universitären Administration, die Studenten auf ihre ohnmächtige Position innerhalb des institutionellen Gefüges der Universität zurückzuzwingen, hatte jedoch Konsequenzen für das Selbstverständnis der Studentenvertretung.

Die akademische Seite hatte offen zu erkennen gegeben, daß sie die Satzungen und Ordnungen der Universität nur noch gebraucht, um ihr vernunftfeindliches Regiment über die Studenten ausüben beziehungsweise legitimieren zu können. Ebensowenig wie sich der Rektor gescheut hatte, die Heilige Kuh der Professoren, die Universitätsautonomie, zu schlachten, als er die Polizei in die Universität rief, sowenig scheute er sich während der Urabstimmung, mit einem Teil der beschworenen Ordnungen, der Disziplinarordnung, offen politische Manipulation zu betreiben. Die Rechtsaufsichtsbehörde sah, trotz Appellation der Studenten, keinerlei Anlaß, dagegen einzuschreiten. Die Verfassung der "Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden" hatte sich auf ihre formale Substanz reduziert, den Herrschaftsanspruch der Professoren; und es gab keine Instanz, bei der eine andere Interpretation der Verfassung Gehör gefunden hätte. In dieser Situation mußte sich die Studentenvertretung überlegen, welchen Sinn jetzt noch ihre Strategie haben konnte, sich gegen die Ordinarienautokratie auf die Verfassung der "Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden" zu berufen. War sie doch selbst gezwungen worden, für wirksame studentische Interessenvertretung eben jene provokative und demonstrative Politik einzuschlagen, die mit der Verfassung deswegen nicht übereinstimmen konnte, weil die FU-Gründer den Anlaß dieser demonstrativen Politik, eine derartige Repression studentischer Interessen, sich nicht hatten vorstellen können. Schon längst stand die Studentenvertretung vor der Alternative, entweder auf die hrnehmung der studentischen Interessen oder auf die strikte Beobachtung der rsitären Institutionalisierungen zu verzichten, und längst war sie für letzteres entschieden. Bisher hatte sie jedoch nichts unversucht gelassen, sich selbst von der vordersten Linie der demonstrativen und provokativen Politik zurückzuhalten, um sich die Möglichkeit voll offen zu halten, die in aller Regel rechtswidrigen und skandalösen Reaktionen und Unterdrückungsversuche der imiversitären Administration von einer Position aus zurückweisen zu können, die sich auf die Satzungen und Ordnungen berufen konnte. Seit dem sit-in vom 19. April gab es jedoch keinen gemeinsamen Bezugspunkt in der Universität und ihrer Verfassung mehr, auf den sich Studenten wie Professoren hätten berufen können. Die Studentenvertretung selbst war endgültig aus der Institution Universität "herausgefallen". Sie hatte, dies war die Bedeutung der Urabstimmung, keinerlei Legitimation mehr aus dem institutionellen Zusammenhang der Universität, in den sie formal eingebettet war; sie hatte ihre Legitimation nur noch in der politisierten demokratischen Studentenschaft. Das Urabstimmungsergebnis konnte die Studentenvertretung also nur "richtig interpretieren", wenn sie zum Ausdruck brachte, was sie durch Abgründe von der Ordinarien-Universität trennt, und was sie in der Studentenschaft trägt. Es ging um die Identifikation der Studentenvertretung, wenn der Konvent am 26. Mai 1967 eine Vietnam-Resolution faßte, in der es heißt: .~...] Der Konvent, das oberste Beschlußorgan der repräsentativen demokratischen Studentenvertretung, begreift sein politisches Mandat als eine Aufgabe, die nur im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Funktion der Universität als Universität erfüllt werden kann ... .] Die Aufgabe universitärer Wissenschaft kann sich in einer Gesellschaft, die die treiheit des einzelnen Menschen als ihr Ziel deklariert, nicht darauf beschränken, Wissen bereitzustellen, das die ständige Verbesserung der Produktion gewährleisten soll. Um den einzelnen Menschen immer mehr zum Subjekt seiner Geschichte werden zu lassen, muß vielmehr Wissenschaft die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse ständig in Frage stellen und auf die politische Wirksamkeit ihrer Kritik dringen. Die universitäre Wissenschaft kann deswegen nur dann über einen Völkermord wie den in Vietnam hinweggehen, wenn sie eine gesellschaftliche Arbeitsteilung akzeptiert hat, in der die einen Subjekt und die anderen Objekt sind. Damit hätte sich die Universität zum bloßen Lieferanten von Wissen degradiert, der kein Interesse an der tatsächlichen gesellschaftlichen Verwertung dieses Wissens hat und damit die Wissenschaft selbst von ihrer Dimension, aufgeklärte Selbstbestimmung den Menschen zu ermöglichen, zum bloßen Produktionsfaktor verkommen läßt. Entsprechend dieser verkümmerten Funktionsbestimmung reproduziert die Universität in ihrem Inneren eben jene gesellschaftliche Arbeitsteilung, in der die einen Subjekt und die anderen Objekt sind. Sie entwirft unter dem Druck von Ministerialbürokratie und Wirtschafiverbänden Neuordnungen der universitären Lehre, die die Studenten fertigem Wissen, vorgegebenen Lernplänen und irrationalen Prüfungsritualen unterwirft. Wenn die Studenten entschieden darauf dringen, daß in der Universität zwischen allen Universitätsangehörigen die rationale und vor allem verbindliche AuseinanderSetzung über die Aufgabe der Universität beginnt, wenn also die Studenten Subjekt werden wollen, begegnet ihnen die universitäre Administration mit Gewalt. Der Konvent stellt fest, daß ein längeres Ignorieren der Verbrechen in Vietnam durch die Universität einer Vorstellung von den Aufgaben der Universität entspricht, die er seit Jahren mit seiner Hochschulpolitik bekämpft. Die Universität glaubt sich deswegen zum Schweigen verpflichtet, weil sie ihre gesellschaftliche Funktion im Konformismus und in unpolitischer Wissenschaft sieht. Deswegen ist es ein unumgänglicher hochschulpolitischer Schritt des Konvents, durch Parteinahme im Krieg gegen das vietnamesische Volk unpolitischem Selbstverständnis der Universität entgegenzutreten und die Universität an ihre gesellschaftliche Verantwortung zu erinnern [...]»

Die Ereignisse des 2. Juni 1967 und die der ihm folgenden Tage konzentrierten alle heterogenen oder auch nur ungleichmäßig entwickelten Momente der bisherigen Auseinandersetzung: Hochschulpolitik und Politik fielen in der Praxis zusammen.

Die Kesselschlacht vor der Oper, die verfassungswidrigen Maßnahmen der Exekutive vom 3. Juni, die allen Grundsätzen von Demokratie entratene Debatte des Abgeordnetenhauses vom 8. Juni, die von Springer manifest-faschi- stisch strukturierte Öffentlichkeit, dies alles zeigte überdeutlich, daß die Erschießung Ohnesorgs kein Betriebsunfall einer Sonst demokratischen Gesellschaft war; vielmehr war offenbar, daß lediglich die demokratische Fassade einer faschistoiden, jetzt zur manifest faschistischen Herrschaft sich anschikkenden Gesellschaft zusammengefallen war. Die Studenten standen plötzlich - sie hatten es zuvor nicht für möglich gehalten, selbst wenn sie theoretisch davon sprachen - vor eben der Situation, vor der 1930 ff versagt zu haben, sie ihren Vätern und der unpolitischen Universität vorwarfen. Am 5. Juni formulierte der Konvent dementsprechend die Richtung der jetzt geforderten hochschulpolitischen Praxis, die zugleich politische Praxis sein würde: «Wenn die Studenten diese gerechten Forderungen erheben (Rücktritt von Albertz, Büsch etc.), so wissen sie zugleich, daß die politische Wirkung der Universität auf die Stadt, die Gesellschaft sehr gering ist; und sie wissen, daß dies nicht zuletzt an der Universität liegt. Es scheint fast, als käme der Appell, daß die deutsche Universität nicht ein zweites Mal am Scheitern der Demokratie und an der Entmenschlichung der Gesellschaft schuldig werden darf, schon zu spät. Die Universitäten können deswegen keinen Augenblick mehr zögern, die gesellschaftlich-politischen Aufgaben der universitären Wissenschaften zu definieren und die politische Praxis der Universität zu bestimmen. Der Konvent der FU Berlin sieht es als seine Pflicht an, die Angehörigen der Universität aufzurufen, noch heute einen Prozeß der Selbstklärung und der Entwicklung einer politischen Praxis zu beginnen, der die theoretische wie praktische Antwort und Kampfansage der FU an alle politischen Tendenzen darstellt, die die zweite deutsche Demokratie zu zerstören drohen.»

In derselben Resolution fordert der Konvent, daß der reguläre Lehrbetrieb für mindestens eine Woche eingestellt wird, damit der erforderliche Reflexionsprozeß der universitären Wissenschaften auf ihre praktischen politischen Aufgaben überhaupt beginnen kann. Deutlicher hätte der Konvent nicht kennzeichnen können, daß die bestehende Universität in ihrem regulären Produktionsprozeß der Zerschlagung der Demokratie ohumächtig gegenübersteht. Die Universität verdeutlichte dies noch auf ihre Weise: in den ersten Tagen nach dem 2. Juni gab es faktisch keine universitäre Administration mehr; in der Universität geschah das, was die Studenten in Vollversammlungen beschlossen. Die einzige rektorale Maßnahme in diesen Tagen bestand darin, für die Trauerfeier im Auditonum maximum die Lorbeerbäume und das Streichquartett, was die Studenten abgeschmackt fanden, zu bestellen. Die studentische Kritik an der bestehenden Universität bestätigte sich in einer makabren Sinnlichkeit.

Die praktische Abdankung der Ordinarien die wenigen, die man sah, arbeiteten mit den Studenten zusammen - und die unmittelbar politisch gewordenen Aufgaben der von den Studenten weitergeführten Universität waren die Ausgangspunkte der Initiative für die Kritische Universität. Die Studenten hatten es als praktisches Hemmnis erfahren, in den universitären Lehrveranstaltungen in keiner Weise für die politischen Aufgaben ausgebildet zu werden, die jetzt unabweislich von ihnen wahrgenommen werden mußten. Also nicht irgendein theoretisches Bedürfnis, sondern die zu ihrer politischen Praxis drängende Vernunft verlangte nach neuen wissenschaftlichen Arbeitsformen. Von der bestehenden Universität war, auch nach dem 2. Juni, eine gründliche Umwälzung des wissenschaftlichen Produktionsprozesses, so daß er diese politische Ausbildung vollbringen könnte, nicht zü erwarten: die Professoren hatten sich einfach verkrochen.(*) Die Studenten hörten auf, auf die Professoren zu warten. Sie durften keine Zeit verlieren, selbst eine Organisation wissenschaftlicher Arbeit zu errichten, die sie befähigen würde, vor den politischen Aufgaben, die überdeutlich vor ihnen standen, nicht zu versagen. Sie begannen die Kritische Universität zu schaffen.

Die gegenwärtig betriebene Rationalisierung der universitären Wissenschaften, die sie den Erfordernissen der Kapitalverwertung unter den heutigen Bedingungen anpassen soll, hat in ihrem lebendigen Widerspruch auf sich, in der Rebellion der Studenten, überdeutlich die historisch zu fordernde Form der wissenschaftlichen Produktivkräfte zur Erscheinung gebracht: daß Menschen in Wissenschaften die Dimension gesellschaftlicher Praxis gewinnen, in der sie ihre Unterdrückung und Unmündigkeit aufzuheben vermögen.

*) Später, im Herbst, als die Bewegungen der Sommermonate - nicht zuletzt wegen der Semesterferien - sich verringerten, erschien natürlich die Ordinarienschaft wieder auf dem Plan, und zwar, um die Kritische Universität zu verbieten. Als sie jedoch den massiven Widerstand der Studenten mit diesem Verbot zu provozieren fürchtete, beschränkte sie sich unter dem Motto - «der Akademische Senat läßt sich nicht provozieren» - darauf, ein Verbot ohne praktische Konsequenzen auszusprechen. In der Universität herrschte also ein Zustand der Machtbalance: die Ordinarien wagten nicht mehr, sich direkt den Studenten entgegenzustellen; die Studenten vermochten jedoch nicht, die autokratische Stellung der Professoren im regulären Produktionsprozeß der Universität zu brechen. Diese Machtbalance war und ist, das hatte bereits der Polizeieinsatz des Rektors gegen das sit-in vom 19. April 1967 deutlich gemacht, nicht Ausdruck der Stärke oder Schwäche der studentischen Oppositionsbewegung in der Universität, sondern ihrer Stärke und Schwäche in der Gesellschaft. In dem Maße, wie es den Studenten gelingen wird, die staatliche Autorität in die Defensive zu zwingen, in dem Maße werden sie diese inneruniversitäre Balance zu ihren Gunsten aufheben können. Die Fortschritte der Hochschulrebellion sind identisch geworden mit den Fortschritten der zur Zeit vor allem von den Studenten getragenen Oppositionsbewegung gegen di<! spätkapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse selbst. Die Bedingungen für die Fortschritte dieser tendenziell sozialistischen Bewegung zu reflektieren, ist nicht Aufgabe dieses Kapitels.