Bernd Rabehl
Von der antiautoritären Bewegung
zur sozialistischen Opposition

in: Bergmann, Dutschke, Lefèvre, Rabehl,
Rebellion der Studenten, Reinbek, 1968, Auflage 70.000

Die seriösen zeitgenössischen Beobachter der Studentenrevolte in Deutschiand, die gegen eine erstarrte Universitän- und Staatsadministration protestiert, pflegen die aufgebrachten Bürger über derartige Unverschämtheiten der Studenten in Zeitungskommentaren und Glossen damit zu beruhigen, daß die Radikalität, die sich unter einer «Minderheit» der deutschen Studenten breitgemacht habe, ein «weltweites Phänomen» sei, das sich sowohl in USA und England, wie auch in Japan, Korea, Lateinamerika bemerkbar mache. Nebenbei wurde sogar die Ursache der Unruhe erwähnt: da die Studenten gegen den imperialistischen Krieg der US-Regierung in Vietnam und gegen die Zwangsmaßnahmen der einheimischen Bürokratien protestieren, handele es sich bei diesen Zwangsmaßnahmen um die strafrechiliche Verfolgung der Demonstranten oder um die Zwangsreglementierungen durch die Universität. herbert.jpg (10014 Byte)
Das "Wesentliche" der Rebellion wurde aber im psychisch bedingten Unbehagen der Jugend gesucht. Die radikal politische Kritik der Studenten wurde in die Idylle des Generationsproblems schematisiert. Darin sah man die Gelegenheit, die Opposition gegen die gesellschaftlichen Autoritäten nach psychologischen und biologischen Gesichtspunkten zu verharmlosen. Die Beat-besessene Jugend, die LSD-berauschten Hippies, die lebensgierigen Gammler und die fanatischen Polit-Provos katalogisierten die "Freunde" der Jugend unter dem Begriff des wilden ziellosen Ausbruchs und der aufgestauten Aggressionen im Jugendlichen. Daß dieser altersbedingte "Drang" derartige Ausmaße annahm und sich nicht in sportlichen Wettkämpfen und nationaler Begeisterung erledigte, schrieb der nüchterne Analytiker dem Versagen gesellschaftlicher Vorbilder zu.

Die aufrechten Liberalen attestierten gönnerhaft dem jugendbewegten antiautoritären Lager Erfolge. Durch seine außerparlamentarischen Aktionen habe es die parlamentarische Tätigkeit wieder «in Schwung» gebracht, habe als wichtiges Korrelat dieses Systems gewirkt, die Erstarrung und die Gleichgültigkeit der Parteien aufgestört. Jetzt aber gelte es, das «Erreichte zu bewahren», es gelte, die Aktionen einzuschränken oder mit ihnen aufzuhören, weil «beim Stand der Dinge» die faschistischen Elemente der Gesellschaft mobilisiert werden könnten, die dann die «demokratischen Spielregeln» abschaffen würden. Die Aktionen der studentischen Opposition selbst erhielten den Geruch faschistischer Ausschreitungen, die man nicht mehr bereit war, in den Toleranzraum der bürgerlichen Demokratie einzubeziehen. Diese Theoretiker des «Gleichgewichts der Kräfte» stellten ihr liberales Denken mit der eigenartigen Geschichtsauffassung unter Beweis, daß der Faschismus nicht angelegt ist in der gesellschaftlichen Struktur des Kapitalismus, sondern daß er provoziert und damit im starken Maße erzeugt werde durch die Aktionen der linken außerparlamentarischen Opposition. Die Vorstellung der Balance der Kräfte war das stärkste Argument der liberalen Kommentatoren, das ihnen ermöglichte, den Staat als Regulator der gesellschaftlichen Probleme anzuerkennen und in der staatlichen Bürokratie einen Stand zu sehen, der über den Klassen und Schichten der Gesellschaft schwebt. Diese gesellschaftliche Verfassung garantiert nach ihrer Ansicht ein Maximum an Freiheit und an gesellschaftlichen Reformen. Kein Wunder, wenn diese liberalen Ehrenmänner Appelle an die Würdenträger des westdeutschen Staates richten, demokratisches Beispiel für die Jugend zu werden. Salbungsvolle Reden, beschlipste Hälse, zukunftssicheres Lächeln, graumelierte Eleganz, aufgefülltes Leben sollen aufgeboten werden, um endlich der Jugend Vertrauen einzuflößen, sie mit der harmonischen Gesellschaft der "Sozialpartrier" zu versöhnen.

Die Geschichte Deutschlands der letzten hundert Jahre ist nicht gerade arm an Bildern einer begeisterten Jugend. Der Ruf nach den Waffen, um die nationale Ehre gegen den Erbfeind zu verteidigen, der Ruf, die Größe des Vaterlandes zu verkünden, um für die «Herrlichkeit des Reiches im Dienste einer höheren Mission zu streiten», war das Pathos der deutschen Jugend um die Jahrhundertwende. Der Taumel des Chauvinismus entstand nach der Reichsgründung unter preußischer Hegemonie und nach der stürmischen Industrialisierung der "Gründerjahre", die die expansive Politik der neu entstandenen imperialistischen Macht in Europa formten. Dieser Chauvinismus konnte sich gerade in Deutschland leicht entfalten, weil hier kein liberales Denken vorhanden, sondern das politische Antlitz der liberalen Bewegung seit 1850 durch Kompromisse mit dem absolutistischen Staat gekennzeichnet war. So betonten der Nationalverein der preußischen Bourgeoisie und die Fortschrittspartei 1859 eindeutig, daß allein die monarchistische Staatsform dem preußischen Staat angemessen sei. Sie anerkannten bedenkenlos die vom preußischen Absolutismus oktroyierte Verfassung und gaben sich ein Programm, in dem das allgemeine Stimmrecht nicht enthalten war. Diese Tugenden fanden schließlich nach 1871 in der Nationalliberalen Partei ihren höchsten Ausdruck in der vollkommenen Übereinstimmung mit der Politik des kaiserlichen Deutschland. Nicht ein Nationalbewußtsein bildete den ideologischen Hintergrund dieser Bourgeoisie, sondern Haß, völkischer Eigendünkel, Streben nach Erweiterung der Macht, nach neuen Absatzmärkten, Kolonien, Einflußsphären etc. waren die Bestandteile eines Nationalismus, der eben nichts anderes als Chauvinismus war und der dann in der Gestalt des «mythisierten Darwinismus» Eingang in die Lebensphilosophie von Nietzsche fand, die begierig von einer streng autoritär erzogenen Jugend aufgesogen wurde. Diese Philosophie war Ausdruck des "Empfindens" und der "Ahnung" der deutschen Intelligenz und gab Antwort auf die Enttäuschung über die bürgerliche Demokratie Bismarckschen Zuschnitts, über die "Kulturlosigkeit" der hochindustrialisierten Gesellschaft, die alle menschlichen Beziehungen den Gesetzen der Kapitalakkumulation unterwarf.

Die Philosophie dieser Jugend gab eine biologische Begründung des gesellschaftlichen Lebens und tröstete den frustrierten Intellektuellen, der sich mit seiner Stellung als Kleinbürger nicht abfinden wollte, mit dem Ideal des "Übermenschen" und der "höheren Rasse". Erst der Akt der totalen Zerschlagung der bürgerlichen Demokratie, auch in ihrer verzerrten Form der Bismarckschen Verfassung, die Ausrottung des Gedankens der Gleichheit aller Menschen verhieß die Erlösung aus der "kulturellen und geistigen Dekadenz". Von der Jahrhundertwende bis 1914 revoltierte die deutsche Jugend gegen die feudal-bür- gerliche Ordnung. Ihr Ideal war der imperialistische Machtstaat, der sich objektiv in Deutschland herausbildete. Das imperialistische Zeitalter mit Krisen, Weltkriegen und Materialschlachten warf seine Schatten voraus, verursachte die soziale Unruhe, die in den verschiedenen Ländern je nach der Stärke und Rolle des Liberalismus, der Arbeiterbewegung, und der Stärke der imperialistischen Staatsbürokratien eine andere Reaktion bei der Intelligenz hervorrief. In Deutschland geriet das radikale Unbehagen einer autoritären Jugend unter die Kontrolle des Imperialismus. Der "Aufbruch der Jugend", die militante Romantik der Jugendbewegung fand ihre existentiell todbringende Erfüllung im Kugelhagel des Ersten Weltkriegs, in den Schützengräben vor Verdun. Die "Moral des Egoismus" verhieß, daß in der Schlacht und dem totalen Sieg über die "feind- liche Kreatur" der "oberste Typus Mensch" erlangt werden könnte, der erhaben auf das "Ungeziefer der Erde" herabblickt. Die Revolte der kleinbürgerlichen Intelligenz in Deutschland fand ihren ideologischen Ausdruck in der Kriegshysterie. Es war eine Revolte, die sich gegen die bestehenden gesellschaftlichen Zustände in Deutschland richtete, um sich dann voller Schuldgefühl einer stärkeren Autorität bedingungslos unterordnen zu können. Sie war der verzückte Aufstand der "Haltlosen", die sich nach militärischem und masochistischem Befehlsempfang sehnten. Die emphatische Parole einer sich selbst verführenden Intelligenz war: ... . denn der Krieg, das sind wir selbst.» Die Angst vor dem "Heldentod" im Schützengraben oder beim Sturmangriff in den Drahtverhauen vor den feindlichen Stellungen wurde verdrängt und in Aggression gegen den Feind jenseits und diesseits der Front verwandelt. Der Stellungskrieg wurde zum «Stahlgewitter» geweiht, das die Männer forme, denen in naher Zukunft das "Schicksal" Deutschlands in die Hand gegeben werde, und die durch diese «maunhafte Prüfung» ihre Eignung beweisen sollten, das deutsche Volk zu führen.

Der Aufstand der Matrosen in Kiel, die Streiks und die Revolution der Arbeiter im November 1918 in den Industriezentren Deutschlands war für diese akademische Jugend im militärischen Drill der exemplarische Verrat an ihren Idealen den es galt, mit allen Mitteln und in kürzester Frist zu rächen. Die Enttäuschung über die Demokratie und der Haß gegen die Republik der «No- vemberverbrecher» steigerten sich zum "heiligen Schwur": «Im Frieden die Gedanken und Ideale zu verbreiten, die im Krieg nicht verwirklicht werden konnten.» Während diese akademische Jugend in den Freikorps direkt die deutsche sozialistische Revolution niedermetzelte, baute sie die Universitäten zu Hochburgen des antidemokratischen Denkens und der völkischen Propaganda aus, die die "Schande" von Versailles nicht hinnehmen wollte und sich nach einem völkischen Führerstaat sehnte, der die Entscheidungen des Ersten Weltkriegs mit Waffengewalt korrigieren und Rache für die "Erniedrigung" der Deutschen nehmen sollte. An den deutschen Universitäten wurden sehr früh von den Hochschulringen die Ideale der faschistischen Gesellschaft verkündet, und es ist nicht verwunderlich, wenn diese Universitäten geradezu geschlossen in das gelobte Dritte Reich marschierten.

Die antiautoritäre Revolte der Studenten, Schüler und jungen Arbeiter heute ist von einer anderen Qualität als das dumpfe Aufbegehren der ratlosen Jugend vor 1914. Es ist die Empörung gegen ein sinnlos erscheinendes Leben und gegen die zynische Bevormundung durch bornierte Autoritäten, die ihre selbstherrliche Regentschaft im Staatsapparat, in den Universitäts- und Schulhierarchien und in der betrieblichen Patronage ausüben. Zum erstenmal in der Geschichte Deutschlands lehnt sich die Studentenschaft in großer Zahl gegen die autoritären Strukturen und Verhältnisse der Gesellschaft auf. Heute nach den historischen Erfahrungen zweier Weltkriege, nach dem historischen Bankrott des Liberalismus im Faschismus, nach dem Versagen der sozialdemokratischen und kommunistischen Arbeiterbewegungen ist die kritische Verarbeitung der Vergangenheit die Voraussetzung für die Erkenntnis der Gegenwart. Beim Stand der Produktivkräfte, also des gesellschaftlichen Reichtums, will die rebellische Jugend nicht nur eine Autorität durch eine andere vertauschen, sondern irrationale Herrschaft abschaffen.

Dieses antiautoritäre Denken artikulierte sich seit dem Höhepunkt der zweiten Phase des Kalten Krieges, seit dem 13. August 196r. Die kubanische Revolution, die ersten Eskalationen des amerikanischen Krieges gegen das vietnamesische Volk bei der Unterstützung des Diem-Regimes, die Klassenkämpfe im Kongo, die Revolution in Algerien boten dem Denken andere Orientierungspunkte. Selbst die monopolisierte Presse berichtete von Massenbewegungen und Volksaufständen gegen halbfeudale korrupte Regime, die schlecht von kommunistischen Agenten inszeniert sein konnten, weshalb es der Jugend vollkommen unverständlich wurde, warum amerikanische Truppen im Namen der Freiheit ausgerechnet selbstherrliche Feudalisten, Spekulanten und Ganoven gegen die Völker unterstützten. Auch die eigene Gesellschaft unterlag einer differenzierten Betrachtungsweise. Die Konsolidierung der Wirtschaft in der DDR, die zugleich erlaubte, dort die stalinistischen Methoden der Staats- und Parteiführung abzubauen, veränderte die antikommunistische Ideologie in der Bundesrepublik; das Freund-Feind-Bild der fünfziger Jahre konnte nicht mehr ohne weiteres mobilisiert werden, um den Abbau der Demokratie in der Bundesrepublik zu vertuschen; die Gefahr des aggressiven Feindes ließ sich nicht mehr beliebig beschwören, um Notstandsmaßnahmen durchzusetzen. Der bedingungslose Glaube an die "freiheitliche Ordnung" war erschüttert. Bis zum 13. August 1961 war es der deutschen Bourgeoisie erspart geblieben, ihren materiellen und ideologischen Anteil am Faschismus untersucht zu erhalten. Das faschistische Denken ging in die antikommunistische Ideologie des Kalten Krieges bruchlos über. Dem «das Leben vertilgenden» Kommunismus widersetzten sich die Ideale der freien Welt; braun war gleich rot, Kommunismus und Faschismus erschienen als siamesische Zwillinge. Dadurch konnte der Zusammenhang des deutschen "Liberalismus" mit der faschistischen Gesellschaft vertuscht werden. Der ökonomischen Notsituation und den daraus entstehenden staatlichen Zwangsmaßnahmen im Osten wurden die Industriekapazität und die Wirtschaftsführung des Westens als Hauptargumente des Freien Westens entgegengestellt: Freie Wirtschaft gegen Plansystem, freie Reisemöglichkeiten gegen geschlossene Grenzen, freie Wahlen gegen Einheitsliste, Zitrusfrüchte gegen LPG-Grünkohl. Die Freiheit im Westen wurde auf die Reklame des Tourismus, auf das Werbeplakat eines Ramschladens reduziert, das die freie Auswahl unter einem genormten Sortiment anpreist. Der Begriff der Freiheit wurde von der politischen in die Waren-Sphäre verdrängt. Das Gegenbild zur östlichen Gesellschaft abzugeben, war der einzige Titel, auf den der Freie Westen provozierte. Politische Kommentare und Reklame fielen zusammen: den Brüdern und Schwestern hinter dem Eisernen Vorhang sollte Coca-Cola eisgekühlt - zum Inbegriff politischer Freiheit werden. Tatsächlich ist auch die westliche Demokratie in keiner gesellschaftlichen Sphäre wirklich verankert, weder auf betrieblicher Ebene als erweiterte Mitbestimmung der Arbeiter, noch im Parlament und in den Parteien.

Der Flüchtlingsstrom aus der DDR in den gelobten Westen und die Interpretation der Ereignisse in der DDR durch die Massenmedien einer konzentrierten Öffentlichkeit ließ das Feind-Bild als wahr erscheinen. Deshalb wurde der Bau der Mauer, besonders in Berlin, wo sich sehr stark das Gefühl, eine bedrohte Volksgemeinschaft zu sein, breit gemacht hatte, als Angriff auf die freiheitliche Ordnung aufgefaßt. Wie nie zuvor fühlte sich die studentische Jugend aufgefordert, sich durch aktiven Kampf zur Freiheit zu bekennen. Während die Politiker und Repräsentanten dieser Gesellschaft in gekonnter Manier sich entruestet, erschreckt und ergriffen gaben, mit viel Erregung ihre Phrasen abspulten, den armen Brüdern und Schwestern "drüben" in betender Versunkenheit gedachten, Kerzen in die Fenster stellen ließen, Fackelzüge veranstalteten, amerikanische Truppenparaden in Kampfformation aufführen ließen, begeisterte Ovationen dem Symbol des westlichen Fortschritts, J. F. Kennedy, durch das rührselige Volk der Berliner darbringen ließen kurz, mit routinierter Fertigkeit und geübter Exzentrik bald Empörung, bald Rührung in Szene setzten, stürmten die gutgläubigen Studenten und die Arbeiterjugend die Mauer an. Sie fälschten Pässe, gruben Tunnel, zerschnitten Zäune oder malten ihre Parolen von der Freiheit an den Zement. Die Vertreter der Parteien und des Staates lobten, ehrten und tätschelten das brave Jungvolk, und die Polizei sagte bereitwillig jede Unterstützung zu. Die Ernüchterung erfolgte schnell und zog die Erkenntnis nach sich, daß der Mauerbau mit Zustimmung der USA stattgefunden hatte. Die Einteilung der Welt seit Teheran, Jalta und Potsdam rechtfertigte die Errichtung der Mauer, vor allem wenn durch die offenen Grenzen in Berlin sich zwischen den beiden Weltmächten Konfliktstoff ansammeln konnte, der die militärischen Übereinkünfte in Frage stellen würde und damit für die imperialistische Hauptmacht USA die Möglichkeit, ungestört die Befreiungs bewegungen in der Dritten Welt zu zerschlagen. Die kleinbürgerliche Studentenschaft fiel in politische Apathie zurück.

Der Bau der Mauer und die ihm folgenden Ereignisse zeigten die Grenzen der antikommunistischen Ideologie in der Bundesrepublik. Bis zum 13. August 1961 war das geheime Lebenselernent des Antikommunismus die Hoffnung, eines Tages zum Ostlandritt antreten zu können. Der 13. August 1961 machte «schlagartig» deutlich, daß «jetzt oder nie» der «Blitzkrieg» gewagt werden müßte. Das heißt aber, die Haltung der Politiker machte deutlich, daß sie nicht zur «entscheidenden Tat» bereit waren und also nicht dazu, die wirkliche Konsequenz des Antikommunismus zu ziehen: die Politiker setzten im Gegenteil Polizei ein, um aggressive Demonstranten von der Mauer fernzuhalten. Der Antikommunismus mußte in dem Moment versiegen, als ihm jede Hoffnung genommen war, jemals offensiv werden zu können. Das entscheidende Mittel der Vorväter, den Protest der Jugend dem reaktionären System zunütze zu machen, nämlich der Krieg, war jetzt den deutschen Politikern durch die innerkapitalistische Machtaufteilung nach dem Zweiten Weltkrieg verwehrt. Der Antikommunismus löste sich auf zu privaten Vorurteilen.

Wegen dieser Ernüchterung konnte im Gegenteil der Bau der Mauer das Bewußtsein zugänglich machen für die Widersprüche in der eigenen Gesellschaft und. für das Geschehen in der Dritten Welt. Die folgende Periode erschütterte die "Hingabe" an das kapitalistische System und löste die Identifizierung mit den gesellschaftlichen Autoritäten. Das soll nicht heißen, daß durchweg die gleichen Studenten, die sich 1961 in ehrlicher Absicht zu "Attentaten" auf die Mauer hinreißen ließen, ab 1965 gegen das Establishment in West-Berlin protestierten.

Nach dem ,3. August 1961 zeigte die West-Berliner Entwicklung deutlich, daß die Berliner Bürokratie ihre alte Funktion verloren hatte. Entstanden in einem geschichtlichen Niveau, das ihre Aufgaben definierte - Erhaltung der Unabhängigkeit West-Berlins, Integration West-Berlins in die BRD und Ausbau West-Berlins zum Brückenkopf der BRD, wirtschaftlicher Aufbau und Arbeitsbeschaffung, Fenster der Freien Welt zu sein etc. - konnte diese Bürokratie ihre Funktionen nicht synchron mit der weltgeschichtlichen Entwicklung verändern. Das Idiom - «Berlin, Hauptstadt Deutschlands» - machte es im Gegenteil notwendig, die tatsächlichen Entwicklungen zu verschweigen oder gar nicht zur Kenntnis zu nehmen: das Desinteresse der Westmächte und der Bundesregierung an der deutschen Einheit, die Verlagerung der Produktionsschwerpunkte der großen Konzerne aus Berlin, indem diese die technologisch wichtigsten Produktionsstätten in Westdeutschland aufbauten und damit West-Berlin zur verlängerten und rückständigen Werkbank der westdeutschen Industrie machten, die Abhängigkeit der Berliner Wirtschaft von Subventionen, die Abhängigkeit des Berliner Senats von den Anweisungen der Westmächte und der Bonner Regierung. Berliner Abgeordnetenhaus und Senat konnten also keine unabhängigen Entscheidungen treffen. Der Patriotismus der Berliner, ihr blindes Vertrauen in die Führung der Stadt, blieb die einzige Rechtfertigung der Berliner Bürokratie, die in ihrer historischen Isolierung, das heißt ihrer Aussichtslosigkeit, dem po litischen und ökonomischen Sterben der Stadt Einhalt gebieten zu können, entschlossen sein mußte, jede Kritik in die antikommunistische Schablone einzuordnen, um zu verhindern, daß diese Kritik von der verratenen Bevölkerung aufgegriffen würde. Der Zwang, zum Schein ein demokratisches System aufrechterhalten zu müssen, verstärkte die Bereitschaft, Scheinplebiszite zu mobilisieren, um jede Kritik oder Opposition "dem Willen des Volkes" gemäß zerschlagen zu können. Dieses Konzept plauderte offen die Springer-Presse in ihrer Minoritätenhetze aus.

Nachträglich kann man die Jahre bis 1965 als eine Art Vorbereitungszeit für die antiautoritären Aktionen beschreiben, die die Legitimation der Bürokratie direkt angriffen, indem sie deren Verordnungen und Auflagen nicht beachteten, ihre Maßnahmen kritisierten, und zum Teil dazu übergingen, Funktionen, die der Bürokratie vorbehalten sind, selbst zu übernehmen. In den philosophischen Seminaren an der Universität, in den Arbeitskreisen des SDS und des Argument-Clubs war man bemüht, eine Selbstverständigung über die gesellschaftliche Situation und darüber zu erlangen, wie die eigene Person mit dieser Gesellschaft vermittelt ist. Die Kritische Theorie, als die Theorie der Vermittlung aller gesellschaftlichen Bereiche, und die Anforderungen des Studiums wurden von den um Kritik bemühten Studenten noch nicht unmittelbar als Gegensatz empfunden; das Nebeneinander von Luxus und Pflichtübung eher als das "Schicksal" des grauen Alltags gedeutet.

Die Anwendung der Begriffe der Psychoanalyse auf soziale Phänomene wie raschismus, Konsumverhalten, Manipulationsmechanismen bewirkte bei einigen Studentengruppen ein eigenartiges Verhalten zur gesellschaftlichen Wirklichkeit. Dies muß deshalb erwähnt werden, weil sich dieses Verhalten etwa drei Jahre später bei vielen Studenten wiederholte. Zur Bewältigung der eigenen Autoritätsfixierungen war man bereit, sich «existentiell zu engagieren», sich den gesellschaftlichen Normen und Ansprüchen zu «verweigern». Da undifferenziert die Gesellschaft als Ganzes wahrgenommen wurde, führte eine derartig mystische Einstellung zum objektiven Geschehen zwangsläufig zur Vereinzelung und zur Verachtung der manipulierten «Masse». Das hatte zur Folge, daß die Beziehungen der «aufgeklärten» Individuen zueinander durch die Ideale einer «unverdrängten» Liebe geprägt sein sollten. Das Programm dieser kleinen Studentensekten, die sich vor allem in München und Berlin bildeten, verkündete die «Lust des Leibes», «Klarheit des Geistes» und «Glück der Seele»: «Von der zärtlichen Liebe nimmt die Kohorte ihren Ausgangspunkt, in ihr vollendet sie sich.»

Geradezu schüchtern nahmen sich die ersten Protestaktionen aus; der Versuch, Geld für die Algerienflüchtlinge zu sammeln, die Kampagne gegen den Rassismus in der Südafrikanischen Union erreichten keine größeren Kreise unter den Studenten. Aber das existentialistische Aufbegehren gegen die "Ge- meinheit" und die "Willkür" der gesellschaftlichen Manipulateure brachte den Zug einer aggressiven Radikalität in die Aktionen. Plakataktionen wie die auf dem Stuttgarter Kirchentag 1964 - "An die Lämmer des Herrn" - verdeutlichten immer mehr, daß diese Form der Praxis zum Lebenselement der Rebellen wurde, die in ihrer Verachtung gegenüber der «gegängelten Masse» das radikale Handeln gegen die Gesellschaft überhaupt als «Erfüllung» des Lebens auserkoren hatten. Sie schockierten die braven Bürger, die den Mord an dem «Schutzheiligen» der freien Welt beklagten, folgendermaßen:

«Auch Du hast Kennedy erschossen: ... Der Schock, daß Halbgötter durch eine Kugel sterben können, findet seinen Ausdruck im Erstaunen, daß der Tote wirklich tot ist. In Wahrheit wird durch den Rummel nach dem Mord vorgetäuscht, in einer Welt austauschbarer Marionetten sei ein Kennedy nicht austauschbar und ein einzelner könne noch Geschichte machen, wo doch jeder nur noch wollen kann, was er soll, und wo doch die autonomen Mechanismen der repressiven Gesellschaft in jedem einzelnen zwangsläufig sich reproduzieren. - Der Pseudokrise folgt der vorgetäuschte Notstand, und dieser wieder legitimiert den Zwang zur totalen Anpassung. Die manipulierte Hysterie und die kostenlos konsumierte Tragik erzeugen Zusammenhalt. Der Genuß des Schmerzes ist das Abzeichen der kollektiven Idiotie, und das schwülstige Gefühl der Gemeinschaft kann in einer Gesellschaft, wo jeder von jedem perfekt abgekapselt in der Isolation verharrt, nur noch durch gesteuerte Massenpsychosen suggeriert werden... die westliche Wohlstandsgesellschaft braucht solche Pannen wie Lengede und Kennedy, um an Hand der Reaktion zu testen, ob noch alle gleichgeschaltet sind: Durch dieses Manifest geben wir kund, daß der gegängelte Zauber nicht mehr überall ankommt. Wer das alles nicht versteht, will es nicht verstehen und untermauert nur die Wahrheit dieser Sätze; gleichzeitig entpuppt er sich als devoter Befehlsempfänger gesamtgesellschaftlicher Dogmen.» (Subversive Aktion, Flugblätter einer Münchener Studentengruppe, Dezember 1963.)

Diese Haltung war anmaßend und faszinierend zugleich. Die Rebellen ignorierten höhnisch ihre eigene Verstrickung in die Gesellschaft und berauschten sich statt dessen daran, jetzt, sofort die Frfüllung des Daseins zu genießen, glückselig zu empfinden. Mit einem Sprung fanden sie die Errettung abseits von der «gleichgeschalteten Masse», entsagten sie dem bürgerlichen Leben, nur ab und zu in Streifzügen in die Gesellschaft zurückkehrend, wenn sie in der Aktion sich ausleben, zärtliche Solidarität aufsaugen konnten.

Es ist nicht verwunderlich, wenn bei dieser zynisch anklagenden Verachtung der Gesellschaft, die in Zusammenhang mit der theoretischen Unfähigkeit stand, die konkrete gesellschaftliche Situation zu analysieren, die alte Borniertheit des kleinbürgerlichen Intellektuellen sich reproduzierte, das Elitedenken in einer neuen Form. Dieses Verhalten zur geschichtlichen Wirklichkeit charakterisierte diese Rebellion als einen Aufstand der «Unverstandenen», «Nicht-An- gepaßten», die über kurz oder lang ihren illusionären Anstrich, die Unmöglichkeit des Auslebens der Sehnsucht und der Hoffnung dieser Menschen eingestehen müßten, um dann ernüchtert oder resigniert, vergrämt über die Zukunftslosigkeit "der Menschheit", das tägliche Brot "ehrlich" zu verdienen, entledigt jeden politischen Anspruchs. Diese Haltung, die anfangs neue Aktionsformen fand, die den Herrschaftsapparat frontal angreifen sollten, bewies sehr bald, daß sie keine bewußte gesellschaftliche Dimension enthielt.

Die wachsende Unsicherheit der Regierungspartei und der staatlichen Bürokratien, Ausdruck der wirtschaftlichen Stagnation der westdeutschen Industrie seit Beginn der sechziger Jahre, trug sehr stark zur Politisierung der Studenten bei. Das Streben der herrschenden Schichten zur formierten Gesellschaft und ihre Versuche, die Notstandsgesetze durchzusetzen, zeigten beinahe exemplarisch die Verbindung der Politik des Regierungskartells zu den Maßnahmen der bürgerlichen Parteien vor 1933, die mit den Norverordnungen den autoritären Staat vorbereiteten. In dieser historischen Situation versuchten die Studenten mit der philosophisch methodischen Konstruktion des Begriffs Totalität, gefaßt al5 Weltgeschichte, die vergangenen und gegenwärtigen Ereiguisse in den Metropolen mit den Befreiungskriegen in der Dritten Welt zu vermitteln, um sich auf diese Weise einen Weg zur Praxis freizulegen. Der Hegelsche Begriff der Totalität wurde im Trotzkischen und Leninschen Sinn als Weltrevolution gedeutet und die «friedlichen» Etappen zwischen den Krisen des bürgerlichen Systems als Vorbereitungszeiten der revolutionären Avantgarde. Danach verlangte offenbar die Offensive des Imperialismus in Vietnam, Kongo, Santo Domingo etc. die Gegenoffensive in den hochindustrialisierten, kapitalistischen Ländern selbst. Dieses theoretische Verständnis der Weltlage ermöglichte einen ersten Zugang, die sowjetische Politik und die Kritik dieser Politik durch die chinesischen Kommunisten grundsätzlich einschätzen zu können:

«Die Unversöhnlichkeit von Imperialismus und Sozialismus wird auch von den heutigen chinesischen Kommunisten besonders hervorgehoben. Sie sind der Überzeugung [...], daß der Imperialismus infolge seiner inneren antagonistischen Widersprüche, seiner expansiven Natur, ständig die Gefahr eines Weltkrieges in sich trägt. Es gilt also nicht, mit dem Imperialismus zu koexistieren, sondern ihn mit den in unserer Epoche zur Verfügung stehenden Mitteln an seinen schwächsten Stellen zu bekämpfen, um dem Ziel, einer Welt ohne Hunger und Krieg, näherzukommen» (Anschlag, Zeitung einer Berliner Studentengruppe, November 1964).

Diese allgemeine Aussage war noch weit entfernt von einer Bedingungsanalyse der revolutionären Prozesse in der Dritten Welt und deren Zusammenhang mit den Widersprüchen in den imperialistischen Gesellschaften. Der methodische Ansatz, die Volkskriege in Asien, Afrika und Lateinamerika als sozialistische Revolutionen zu deuten, die also den notwendigen geschichtlichen Schritt unserer Epoche vollziehen, und der Versuch, in methodischer Konstruktion die "schwachen Stellen" in den imperialistischen Ländern selbst aufzufinden, mußte diese Studenten zur Praxis treiben, weil die Aktualität der Revolution in der Dritten Welt auch in ihrer eigenen Gesellschaft zu bestehen schien. Da sie jedoch nicht fähig waren, die konkreten Träger des revolutionären Kampfs in den Metropolen aus der Struktur des kapitalistischen Produktionsprozesses herauszufinden, eine konkrete Klassenkampfanalyse nicht geleistet war, leitete die Studenten vorerst die Idee der "reinen Menschlichkeit", die sentimentale Solidarität mit dem Guerillo, mit dem rellachen oder mit dem Vietkong, jedoch vor allem die Kritik jeder Institution der Gesellschaft. Hier lagen die Berührungspunkte der antiautoritären Bewegung mit denen, die auf Grund ihrer Einsicht in den psychischen Manipulationszusammenhang der Gesellschaft sich existentiell dem bürgerlichen Leben «verweigern» wollten.

Das Ende der Vorbereitungszeit der kritischen Studentenschaft trat ein, als der ehrenwerte kongolesische Ministerpräsident M6ise Tschombe' im Dezember 1964 vom Berliner Senat empfangen wurde. Es gab kaum einen kompromittierteren Politiker in der Welt, der sich derartig eindeutig als Werkzeug der belgischen und amerikanischen Konzerne gezeigt hatte, die ihre Besitzansprüche über die Kupfer- und Zinnminen in Katanga nicht aufgeben wollten. Seine Rolle bei der Ermordung Lumumbas war so deutlich selbst in den West-Berli- ner Springer-Zeitungen dargestellt worden, daß man ihn kaum als den «Hel- den der westlichen Welt» an die Mauer führen konnte, damit er dort die obligatorischen Sprüchlein, die zu solchen Anlässen dort immer aufgesagt werden, über das «Unrecht» und die «Schande dieser Mauer» rezitieren konnte. Zur Protestdemonstration vor dem Flughafen Tempelhof war die linke Opposition dieser Stadt mit allen Fraktionen sofort bereit gewesen. Der Senat war nicht gerade begeistert über die Anreise des anrüchigen Kongolesen. Aber nach bewährtem Schema sollte auch dieser Staatsbesuch absolviert werden, zumal die Bundesregierung darauf drang und man keine Gelegenheit verstreichen lassen wollte, in der West-Berlin als «Hauptstadt Deutschlands» aufgewertet werden könnte. Einige Hundertschaften Polizisten hielten sich in Bereitschaft. Seit einigen Jahren hatte es keine Protestaktionen größeren Ausmaßes gegeben, und die Polizeibeamten waren unerfahren im Handwerk der Auflösung von Demonstrationen. Es versammelten sich rund zweitausend Demonstranten, die schweigend um den "Platz der Luftbrücke" zogen, erst ruhigen Schritts marschierten, aber dann das Tempo verschärften. Inzwischen hatte der sehr gerissene politische Einsatzleiter dafür gesorgt, daß Tschombe' einen Hinterausgang im Flughafengelände benutzen konnte, um mit den Demonstranten nicht direkt konfrontiert zu werden. Als diese den Schachzug durchschauten, steigerte sich die Erregung, denn es wurde ihnen klar, daß ihr Protest von den Gewaltigen der Stadt für ignorierbar gehalten wurde. Die Art und Weise, wie der Gast des Berliner Stadtstaates dem Protest entzogen werden sollte, sagte viel darüber aus, wie die politischen Instanzen Demonstrationen und die politischen Artikulationen einfacher Bürger bei politischen Diskussionen und Entscheidungen im Senat und in den Parteien einschätzten, und zwang die Demonstranten, wollten sie den politischen Grund ihrer Versammlung nicht leugnen, zu neuen Aktionsformen.

Die Polizeiketten wurden durchbrochen, und im Laufschritt bewegten sich die Demonstranten in Richtung Schöncberger Rathaus. Die verdutzte Polizei unternahm auf dem Mehringdamm noch einmal den Versuch, die Demonstration aufzuhalten. Was vor wenigen Minuten noch spontan, mehr aus verzweifelter Wut geschah, mußte jetzt noch einmal wiederholt werden, allerdings mit bewußter Entscheidung der Beteiligten. Im Angesicht der polizeilichen Autorität stoppte für kurze Momente der Demonstrationszug. Einige versuchten auszuscheren, zögerten, aber dann bildeten auf Zuruf auch die Protestierenden eine Kette und durchstießen die Reihen der erstaunten und erschreck ten Polizisten. Als dann später einige Demonstranten ins Rathaus eindringen wollten, kam es zu ersten Prügelszenen mit Polizeibeamten. Es wurden Hunde eingesetzt, die den nötigen Respekt vor der Staatsgewalt wiederherstellen sollten.

Willy Brandt, der an diesem Tage gerade seinen Geburtstag feierte, entschloß sich kurzerhand zur Pose des gutmütigen Landesvaters und empfing eine Delegation afrikanischer und deutscher Studenten. Geschminkt zum Jubiläum, um im grellen Licht der Jupiterlampen für die Fernsehaufnahmen nicht sein Gesicht verbrennen zu lassen, ging er der Delegation besorgt entgegen und drückte mit bewegter Stimme sein Bedauern über den Besuch Tschombe's aus. Wehmütig erlaubte er sich den Hinweis, daß "der Regierende Bürgermeister von Berlin" unter Umständen Senatsempfänge geben muß im Gedenken Berlins al5 Haupt- und Weltstadt und als Auflage der Bundesregierung, die es zu erfüllen gelte. Später begrüßte er die Marionette des Imperialismus im Kongo äußerst eisig und verabschiedete sich nach einigen Höflichkeitsfloskeln schon nach wenigen Minuten.

An diesem Tage hatte die linke Opposition viel gelernt. Angefangen damit, daß es offenbar nicht mehr genügte, Demonstrationen zu veranstalten, die in der Gesellschaft keinerlei Resonanz hinterließen oder als Störaktionen bezaklter Agenten verdrängt werden konnten. Solche Demonstrationen überwand man nur, wenn man die "gesetzten" Spielregeln solch einer Demokratie durchbrach und dadurch Staatsexekutive, Parteien und Verbände zur Stellungnahme zwang, zur inhaltlichen Auseinandersetzung mit den Zielen der Demonstration. Man vermied dadurch, selbst zum Aushängeschild und Alibi einer Demokratie zu werden, in der längst nicht mehr offen diskutiert wurde und Entscheidungen nicht im Parlament gefällt wurden, das auch seine Kontrollfunktionen nicht mehr wahrnehmen konnte, einer Demokratie also, in der Parteien und Verbände sich zu einem Regierungskartell zusammengefunden hatten und alle gesellschaftlichen Maßnahmen nach verwaltungstechnischen Normen entschieden wurden. Die Reaktionen der "freien" Presse und der Parteien in Berlin auf die Demonstration wurden zum "Lehrstück" für die, die an ihr teilgenommen, die also ihre politische Kritik zum Ausdruck gebracht hatten und sich nun als «Ran- dalierer», die irgendwelchen «Rädelsführern» gehorchten, in den Spalten der Zeitungen typologisiert fanden. Der Glaube an eine nicht verzerrte Berichterstattung war erschüttert. Schon damals wurde eine Pogromstimmung gegen die erzeugt, die es wagten die Harmonie der Berliner "Volksgemeinschaft" zu stören oder in Frage zu stellen. Das ganze Vokabular gegen Minderheiten wurde erprobt. Unter diesen Umständen war Monsieur Tschombe' für diese Gazetten plötzlich ein nobler Vertreter der demokratischen Interessen, der nur etwas zu unbesonnen gegen die Unruhestifter im Kongo vorgegangen war.

Die Politische Polizei vervollständigte aufgeregt ihre Bilderkartei mit vielen neuen Porträts. Das Polizeigehirn registrierte besorgt all die neuen verkommenen Gesichter und ahnte, daß für die Lösung der aufkommenden Probleme die Lochkartenmaschine mit neuen Informationen gefüttert werden müßte.

Die Tschombe-Demonstration hatte gerade im Verhalten der politischen Institutionen den Zusammenhang zwischen Dritter Welt und Metropolen umrissen; der Zusammenhang von disziplinierter und manipulierter Gesellschaft, mit steigender Tendenz zur "Formierung" in den kapitalistischen Ländern, und der Intervention der stärksten imperialistischen Weltmacht als Wortführer des Kapitalismus gegen alle Befreiungsbewegungen, die umfassende militärische und wirtschaftliche Unterstützung halbfeudaler oder faschistischer Regime wurde offensichtlich. Der theoretische Ansatz der Kritik der spätkapitalistischen Gesellschaft, wie er in den Seminaren und Arbeitskreisen der oppositionellen Studentenschaft erarbeitet wurde, erhielt seine Bestätigung: Faschismusanalyse, Analyse des New Deal in den USA, die Beschäftigung mit den volkswirtschaftlichen Modellen des Spätkapitalismus, die sich bemühten, die kapitalistische Überproduktionskrise durch gesteigerten Konsum, öffentliche Bauten, Rüstung etc. aufzuhalten, die Analyse der Methoden der Manipulation durch Presse und Reklame, und die Untersuchungen über die imperialistische Politik der Gegenwart. Dieser hohe Wissensstand schürte die Unzufriedenheit; die Studenten hatten Einsichten gewonnen, die das behagliche Gefühl der geruhsamen Gelehrsamkeit nicht mehr zuließen, sondern nach Aktionen in der Gesellschaft verlangten, die die "Bevölkerung" aufrütteln sollten.

Die Ursachen des Vietnam-Krieges, die verständlicherweise von der "freien" Presse verschwiegen wurden, um das Schaubild des tapferen GI, der in Vietnam in tragischer Einsamkeit heroisch für die Freiheit Berlins streitet, produzieren zu können, waren an Hand der historischen Tatbestände in empirischer Kleinarbeit von einigen Studenten aufgearbeitet worden. Die politischen Verbrechen der Amerikaner waren eindeutig bewiesen worden. Es genügte diesem studentischen Bewußtsein längst nicht mehr, diese Erkennmisse in kleinen Veranstaltungen an der Universität zu verbreiten Für diese Studenten war es allerdings der entscheidende Anlaß, ihre Aufklärungsarbeit über Vietnam in die Stadt hineinzutragen, als Ende 1965 die West-Berliner Zeitungsverleger, unter Anleitung des Springer-Konzerns, eine proamerikanische Vietnam-Kampagne starteten. Die rührseligen Unternehmer wollten an die Angehörigen der gefallenen G. I.s Freiheitsglöckchen verteilen, die dann, in den Vitrinen der Wohnzimmer aufgestellt, die Hinterbliebenen ermahnen sollten, daß der Tod des Söldners auch von der "Schicksalsgemeinschaft" der Berliner betrauert wird.

Die Tschombe'-Demonstration war beispielgebend, als ein lahr später in einer nächtlichen, gesetzwidrigen Aktion Plakate geklebt wurden, auf denen die Aggressoren des Vietnam-Krieges und die, die ihnen moralische Hilfe leisteten, als Mörder bezeichnet wurden. Diese neue Praxis hatte zuerst die Weltanschauung "wissenschaftlicher Sozialismus" im SDS zu überwinden. Nach der Loslösung von der SPD im Jahre 1960 waren die Intellektuellen des SDS der Verpflichtung der Parteipolitik, der Wahlvorbereitung etc. enthoben, so daß sie sich voll und ohne Rücksichtnahme der wissenschaftlichen Analyse der Gesellschaft widmen konnten. In der historischen Situation in Deutschland nach 1961 konnte ihr Begriff des wissenschaftlichen Sozialismus kaum den Marxschen Ansprüchen aus dem Jahre 1847 genügen, der revolutionäre Wissenschaft definiert hatte als das bewußte Erzeugnis der historischen Bewegung, die dem Emanzipationskampf der Arbeiterklasse das Bewußtsein über sich selbst gab und die die Organisationsformen für den politischen Kampf mit der Klasse der Bourgeoisie und der Staatsgewalt erarbeitete. Diese revolutionäre Wissenschaft erwarb in der Kritik der bürgerlichen Ideologie und der politischen Ökonomie ihre Kategorien, die den Stand der Produktivkräfte für die Umwälzung der Gesellschaft in eine sozialistische zu prüfen gestatteten. Diese Wissenschaft erkannte im Klassenkampf der Arbeiter die entscheidende Produktivkraft, ohne den Geschichtsprozeß deterministisch zu interpretieren.

Die SDS-Mitglieder leisteten die Kritik an der "Kulturindustrie" der spätkapitalistischen Gesellschaft, ohne sich an eine Kritik des Monopolkapitals heranzuwagen, weshalb ihre Wissenschaft eher doktrinär und an die Begriffe der idealistischen Aufklärung fixiert war. Marx hatte solche wissenschaftlichen Bemühungen als «wahren Sozialismus» charakterisiert: «Solange sie die Wissenschaft suchen und nur Systeme machen, solange sie im Beginn des Kampfes sind, sehen sie im Elend nur das Elend, ohne die revolutionär umstürzende Seite darin zu erblicken, welche die alte Gesellschaft über den Haufen werfen wird.» Der wissenschaftliche Sozialismus stand jedoch spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg vor der Schwierigkeit, das unmittelbar politisch gewordene Kapitalverhältnis und damit die qualitativ neue Rolle des Staates analysieren zu müssen. Der SDS, der vor dieser Schwierigkeit zunächst kapi~iert hatte, verschaffte dem hegelianischen-lassalianischen Geschichtsbegriff seine Auferstehung. Der wissenschaftliche Sozialismus sympathisierte zwar mit dem Proletariat, vertraute sich jedoch im übrigen dem objektiven Geschichtsprozeß an. Hier und heute, unter den leider nicht analysierten spätkapitalistischen Umständen Praxis betreiben zu wollen, erschien diese Geschichtsauffassung als die Torheit unreifer Menschen.

Die Plakataktion fand also hysterische Kritik im SDS, die sich allerdings als ein Strohfeuer erwies und nicht zum konstituierenden Moment einer Fraktion wurde, die politische Ziele vertreten hätte. Mit Marx-Zitaten aus dem Jahre 1853 glaubten die Ereiferer die Praxis der Aktivisten richtig eingeschätzt zu haben:

«An die Stelle der kritischen Anschauung setzt die Minorität eine dogmatische, an die Stelle der materialistischen eine idealistische. Statt der wirklichen Verhältnisse wird ihr der bloße Wille zum Triebrad der Revolution. Während wir den Arbeitern sagen: Ihr habt 15, 20, 50 Jahre Bürgerkrieg und Völkerkämpfe durchzumachen, nicht nur um die Verhältnisse zu ändern, sondern um euch selbst zu ändern und zur politischen Herrschaft zu befähigen, sagt ihr im Gegenteil: wir müssen gleich zur Herrschaft kommen, oder wir können uns schlafen legen.» (So zitiert von W. F. Haug auf einer der SDS-Debatten nach der Plakataktion.)

Es ist nicht verwunderlich, wenn der "Spaß" an der Kritischen Theorie einen Kathedersozialismus hervorbrachte, der den "Klassenkampf" ins Seminar projizierte und tiefe Freude empfand, wenn die Marxsche Methode der Gesellschaftsanalyse ihre Überlegenheit über den Tatsachenfetischismus des wissenschaftlichen Positivismus beweisen und ihn als Herrschaftsideologie entlarven konnte. Dagegen versuchten die Propagandisten der «Aufklärung durch die Aktion» unter den Bedingungen der spätkapitalistischen Gesellschaft, die zu analysieren sie endlich anfingen, eine Einheit von Theorie und Praxis wiederherzustellen.

Der Anspruch der «Aufklärung in der Aktion» wurde nach der ersten großen Vietnam-Demonstration in West-Berlin, zwei Tage nach der Plakataktion, zum Gegenstand systematischer Diskussion im SDS. Die hysterische Reaktion der Öffentlichkeit auf die Entweihung des Amerika-Hauses durch sechs Frischeier, bei der sich erstrnals auch die politischen Instanzen der Stadt eindeutig als proamerikanisch im Vietnam-Konflikt identifizieren ließen, hatte die Möglichkeiten aufscheinen lassen, durch provokative Aktionen aufzuklären. Die Frage nach der Effektivität der Aktionen, die Frage danach, welche Widersprüche der Gesellschaft durch Aktionen zum Aufbrechen gebracht werden könnten, machten die Analyse des Monopolkapitalismus zum Thema der Arbeitskreise. Unter dem selbstgesetzten Druck, diese Analyse in einem Vierteljahr leisten zu wollen, waren diese Studenten unfähig, das umfangreiche Material zu ordnen und für eine Revolutionstheorie zu verarbeiten. Sie begingen den alten Fehler, den Marx schon bei Proudhon kritisierte; sie folgten nicht der historischen Entwicklung der Produktionsverhältnisse, sondern übernahmen die fertigen Kategorien und ökonomischen Dogmen, die die sozialistischen Theoretiker der verschiedenen historischen Epochen der kapitalistischen Entwicklung erarbeitet und hinterlassen hatten. Die Begriffe der verschiedenen Theoretiker wurden nicht als strategische Artikulationen der je bestimmten historischen Situation aufgefaßt, sondern als verseibständigte Elemente einer «revolutionären Logik» verwandt. Man zitierte die sozialistischen Theoretiker, nicht um den historischen Stellenwert ihrer Aussagen und Begriffe genau zu bestimmen, sondern als Ersatz für die eigene empirische Arbeit. Dabei hatte bereits damals, im Sommersemester 1966, die Hochschulrevolte die Erfolgschancen einer Praxis gezeigt, die sich auf die konkrete Aufarbeitung der Widersprüche, in diesem Fall des universitären Bereichs, stützen konnte. Einstweilen blieb deshalb für die über die Universität hinausgehende Praxis eine voluntaristische Identifikation mit den Revolutionären in der Dritten Welt, von denen man auch den Anstoß für die Umwälzung der eigenen Gesellschaft erwartete, der wichtigste Antrieb dieser Studenten.

«Die demokratisch aufrechte Gesinnung wird ihr Gewicht erst wieder gewinnen, wenn sie sich endlich an die richtige Adresse wendet, wenn sie erkennt, daß mit den Henkern im Weißen Haus nicht mehr zu disputieren ist. "Abzug der amerikanischen Truppen", "freie Wahlen für Südvietnam", das sind Forderungen an den Vietkong, einen gerechten Frieden endlich zu erzwingen, Forderungen, die nicht hilflos bleiben in der Solidarität mit den Unterlegenen, die eine lähme deutsche Protestbewegung bis heute bejammerte, sondern die schlagkräftig werden in der Solidarität mit den Siegern, schlagkräftiger werden rait jedem abgeschossenen amerikanischen Flugzeug, mit jedem verbrannten Einberufungsbefehl. Was bis heute versäumt wurde, in den Verurteilten, die sich erfolgreich zur Wehr setzen, uns selbst wiederzuerkennen und sie darum nicht nur mit Jammer abzusingen, das ist endlich zu leisten. Unser richtig verstandenes Interesse, das einsieht, daß jeder Sieg des Vietkong ein Sieg für unsere Demokratie bedeutet, ist die Triebfeder der folgenden Blätter» (SDS-Infor- mation über Vietnam und die Länder der Dritten Welt, Nr. 1, Berlin, Mai 1966).

Die Gewalt des Imperialismus in der Dritten Welt, der Haß und die revolutionäre Leidenschaft gegen die Aggressoren dort, wurde übertragen auf die Situation in den hochindustrialisierten kapitalistischen Ländern und konstitutiv für die Organisationsformen der antiautoritären Bewegung hier. Die vage Kenntnis der eigenen geschichtlichen Wirklichkeit und der Wille, die gesellschaftliche Isolation und damit das Stadium uneffektiver Praxis zu überwinden, führte zur schwärmerischen Imitation der Organisationsformen der Kampfeinheiten der Partisanen, die man als "Lebensgemeinschaften" mißdeutete. Diese linken Studenten fühlten sich als Agenten der Befreiungskriege der Dritten Welt in der Metropole, und in dieser Rolle trat die eine Sorge in den Vordergrund, die Normen der bürgerlichen Gesellschaft zu "unterlaufen".

Spätestens zu diesem Zeitpunkt konnte man in der antiautoritären Bewegung zwei Hauptströmungen unterscheiden. Die eine, die vor allem auf dem Feld der Hochschulpolitik operierte, lief ständig Gefahr, die eigene Praxis der umfassenden Hochschulrevolte auf eine gewerkschaftliche Politik zu verkürzen, die nur um die ein oder andere Detail-Reform kämpfte. Die andere, die "Anarchisten" waren bereit, sich jeder Norm und Anforderung der gesellschaftlichen und universitären Institutionen zu widersetzen, konnten deswegen die sowohl in der hochschulpolitischen wie auch in der "allgemein-politischen" Auseinandersetzung begonnene Praxis der Provokation entscheidend weiterentwickeln, liefen jedoch Gefahr, durch die existentialistische Verabsolutierung «der Verweigerung» jede politische Zielsetzung zu verlieren. Vom 26. November bis zum 17. Dezember 1966 fanden Aktionen in Berlin statt, die dies verdeutlichten. Das zeigte sich exemplarisch bei der öffentlichen Diskussion der kritischen Studenten mit dem südvietnamesischen Botschafter auf einer Veranstaltung des RCDS und bei den "Spaziergangsdemonstrationen" auf dem Kurfürstendamm. Gelang es bei der ersten Veranstaltung durch bewußte Provokation in den Fragestellungen den Botschafter als Parasiten des Imperialismus zu entlarven und zu verhindern, daß er sein phrasenhaftes Geschwätz ohne Interventionen und Richtigstellungen durch die anwesenden Studenten zu Ende bringen konnte, so bemühten sich die Demonstranten beim "Spaziergangsprotest" am 10. und 17. Dezember neue Demonstrationsformen zu erpro'ben, um die Straßenüberlegenheit und die Wendigkeit der Demonstranten gegenüber den brutalen Ausschreitungen der Polizei zu erlangen. Die Polizeiführung war hilflos und wußte sich, trotz mehrerer Strategiebesprechungen, keinen Rat. Die Übernahme des Provospiels aus Amsterdam verführte jedoch die Demonstranten dazu, ihr politisches Ziel aus den Augen zu verlieren und um der Provokation willen zu provozieren.

Den liberalen oder gar "linken" Kritikern der antiautoritären Bewegung, die sich ob der letzten Satzwendung schon vergnügt die Hände reiben, weil sie ihren alten Vorwurf des "Linksfaschismus" bestätigt glauben, sei gesagt, sie verziehen ihr Gesicht zu früh zu einem Grinsen. Ihr Begriff rationaler Politik, der sich methodisch säuberlicher an das Modell der Zweck-Mittel-Handlung hält, also Rationalität politischen Handelns an dem Effekt mißt, den die Handlung unmittelbar erreicht, stellt vielleicht die vornehmste Variante des zwischen Quietismus und Zynismus schwankenden Opportunismus in einer weltgeschichtlichen Situation dar, in der die einlösbaren, ja historisch überfälligen Ansprüche politischer Vernunft in den Metropolen nicht unmittelbar zwe&- rationale Praxisfelder eröffnen. Wer nach Auschwitz aus dem Widerspruch, die Verbrechen in Vietnam keine Sekunde tolerieren und dennoch vorerst diese Verbrechen nicht effektiv verhindern zu können, nur die Konsequenz zieht, über Vietnam moralisch daherzuschwafeln, dem entgeht freilich auch, daß er zum Braintrust Johnsons gehört. Der monotone Klageruf dieser Liberalen oder gar "Linken", daß kein unmittelbares Ziel mehr anvisierende Aktionen die manifeste Gewalt der herrschenden Institutionen provozieren, sollte sich zumindest in eine Anklage gegen diese totalitäre Struktur der herrschenden Gesellschaft verwandeln, und nicht die diffamieren, die den gesellschaftlichen Zwang nicht mehr aushalten und deswegen zu solchen Aktionen schreiten. Statt dessen diesen Studenten zu raten, durch geschickte Politik in diesen Institutionen, über deren grundsätzlich faschistoiden Gewaltcharakter diese Ratgeber ja keinen Zweifel haben, die eine oder andere "Härte" des Systems zu glätten, das reimt sich nur zu gut zu der Unverfrorenheit, faschistischen Terror mit den Gewalt karikierenden Aktionen derer zu verwechseln, die gegen den herrschenden Terror kein besseres Mittel wissen. Diese Liberalen oder gar "Linken" fühlen sich zu Recht betroffen, wenn das "Fachidiotenflugblatt" vom 26.11.1966 ausführt:

«Wer in dieser Situation die Autonomie der Universität beschwört, tut das, um zu verschleiern. Die Disziplinierung der Studenten vernichtet mit den Resten des liberalen Studiums auch die Illusion der Selbstverwirklichung. In der Fabrik "Universität" soll der Student seine Scheine machen und am Feierabend als Privatmann der erlernten Humanität sich hingeben. Wer sich damit nicht abfinden will, für den wird das Herausfallen aus der Universität zur Gewißheit, denn der Formierungsprozeß ist offensiv, die Disziplinierung geht an den traditionellen Reservaten nicht vorbei.» ("Von diesem Gespräch haben wir nichts zu erwarten", 26.11.1966.)

Die Verfasser dieses Flugblatts hielten den Formierungsprozeß in der Bundesrepublik für abgeschlossen und glaubten unmittelbar die Konsolidierung eines totalitären Regimes mitzuerleben; deswegen auch die Vorstellung, daß man sich dieser Gesellschaft sofort «verweigern» müsse. Die Ereignisse vom 10. Dezember 1966 schienen diese Einschätzung zu bestätigen. Die Polizei eskalierte den Umfang der Anordnungen gegen die Demonstration; die Auflagen für die Demonstration, die die Demokratie nur nach den Gesichtspunkten der Straßenverkehrsordnung behandelten, was sie für ein Polizeigehirn vielleicht auch ist, mußte politische Demonstrationen zur Farce machen, ließen sich die Demonstranten darauf ein. Durch menschenleere Straßen an der Peripherie der City sollte man sich in A~ eines Prozessionszugs bewegen, schweigend, die Parolen auf den bemalten Papptafeln den kahlen Häuserwänden oder Grünanlagen entgegenhaltend. Die Demonstration verlor jeglichen Sinn. Sie wäre höchstens Alibi einer totalitären Gesellschaft, die nur noch in ihrer Firmenbezeichnung etwas mit Demokratie zu tun hat.

Die Demonstrationen in der Vergangenheit der Arbeiterbewegung waren entweder unterstützt worden von ganzen Bezirken oder Wohngebieten; sie waren dann Manifestationen einer Gegengeselischaft, eines Gegenmiheus zum bürgerlichen, Ausdruck des stattfindenden Klassenkampfes; oder die Arbeiter zogen in die Boulevards der "feinen" Leute, wo die kompakte Masse der Demonstranten den braven Bürgern bewies, daß im latent vorhandenen Bürgerkrieg nur ein Waffenstillstand eingetreten war, daß auf keinen Fall die "Har- monie der Sozialpartuer" bestand. Die antiautoritäre Bewegung hatte es erst noch zu erreichen, zu diesem politischen Niveau von Manifestationen durchzustoßen. Dieser objektiv unentwickelte Zustand der antiautoritären Bewegung war die Ursache dafür, daß ihre Demonstrationen entweder moralischen oder gewollten Charakter annahmen.

Die Flüsterpropaganda am 10. Dezember 1966 für das Abweichen von der polizeilich genehmigten Route wurde begeistert aufgenommen, und zum verabredeten Zeirpunkt setzte sich der Zug in entgegengesetzte Richtung in Lauf. Der Polizei gelang es, einen Großteil der «Ausbrecher» aufzuhalten, weil diese keine Ausweichmanöver durchführten und an die Polizei fixiert waren, indem sich große Demonstrantenklumpen vor der brutal prügelnden Polizei bildeten. Ein Polizist brauchte sich nur einen Demonstranten he~auszugreifen und auf ihn einzuprügeln, und er konnte gewiß sein, daß sich viele Demonstranten ohnmächtig-wütend schreiend um ihn scharten, und so den werten Kollegen die Chance gaben, die Demonstranten zu Hunderten einzufangen und abzudrängen. Nur wenige begriffen an diesem Tage schon, daß man die zahlenmäßige Überlegenheit der Demonstranten gegenüber den Polizisten ausnützen konnte, indem sich die Demonstranten beim Angriff der Polizei zerstreuten und dadurch verhinderten, daß ein Polizist gleich an 2 Demonstranten die Ordnungsaufgaben versehen kann; zwang man aber einen Polizisten, sich nur einem Demonstranten zu widmen, während zehn andere sich grinsend an ihm vorbeidrückten, dabei vielleicht sogar das Zeichen seiner polizeilichen Autorität, seine Mütze, ihm vom Kopf stießen, so verlor dieser Polizist seine Fassung und wurde unfähig, selbst dem einen die polizeilichen Freundschafts- und Helferdienste angedeihen zu lassen. Bezeichnenderweise waren die ersten, die diese neue Demonstrationstaktik entdeckten, Mädchen und sehr junge Schüler, indem sir den Hüter der Ordnung in einen Zweifrontenkrieg verwickelten, etwa durch einen zarten Arschtritt oder das Entfernen der Kopfbedeckung, und so dafür sorgten, daß er an beiden Fronten versagte. Die Hilflosigkeit des einzelnen Polizeibeamten angesichts dieser Taktik war nur ein Zeichen für die strategische Fixiertheit der Polizei insgesamt: Sie war in unzähligen Manövern auf Bürgerkrieg trainiert, gedrillt auf das Zerschlagen von Arbeiterdemonstrationen und wilden Streiks, also fixiert auf Situationen, in denen "der Feind" formiert auftritt und nicht vorbereitet auf Protestdemonstrationen von Schülern und Studenten, die beim Angriff der Polizei ihre Formation auflösen und im Großstadtverkehr als "Einzelkämpfer" untertauchen konnten, um sich dann beim Abzug der Polizei wieder zu sammeln. Diese neue Taktik, deren Effektivität sich am 10. Dezember in Einzelfällen erwiesen hatte, sollte am 17. Dezember 1966 systematisch, in einem Demonstranten-Manöver, erprobt werden. Die Aufregung der Polizei über dieses Unternehmen war verständlich. Die Polizeistrategen beschlossen, die Zahl ihrer zivilen Agenten unter den Demonstranten erheblich zu erhöhen und ihnen die Aufgabe zu geben, jeweils die Festnahme der "Hauptstörer" einzuleiten, bis uniformierte Beamte eingreifen konnten. Diese zivilen Greiftrupps, die als special forces im "feindlichen Gebiet" vereinzelt operierten, beschworen notwendig für sich ständig die Gefahrensituation herauf, in der ein halbes Jahr später der Polizist Kurras die Nerven verlor und, kaum von Uniformierten befreit, die erlittene Angst mit dem Griff zur Dienstpistole in Aggression zurücktransformierte. Das gut geölte Polizeigelairn konnte nicht begreifen, daß die neue Demonstrationstaktik Ausdruck der bewußten Selbständigkeit jedes einzelnen Demonstranten war; Massenaktionen, in Analogie zur Organisation des eigenen Apparats, immer als das Werk subversiver und manipulierender Drahtzieher ansehend, konnte für die Polizei die neue Demonstraktionstaktik nur Ausdruck sublimerer und raffinierterer Agententätigkeit sein und verlangte also, mit sublimeren und raffinierteren polizeilichen Instrumenten "die Agenten" aufzuspüren und unschädlich zu machen. Durch den Einsatz von Greiftrupps war die Polizei um keinen Deut von ihrer verfestigten Bürgerkriegsstrategie abgewichen; im Gegenteil, diese war um eine Variante verfeinert worden, indem nun die Geheimpolizei bei der "Straßenschlacht" eine aktive Rolle übernahm.

Die militärisch gut trainierte Truppe der Polizei mit ihrem selbstherrlichen Offizierskorps, das sich zu Teilen aus ehemaligen Angehörigen der nazistischen deutschen Wehrmacht und der Waffen-SS zusammensetzte, war eingeschworen auf eine eindeutige Freund-Feind-Situation und realisierte öffentliche Kritik an den bestehenden Verhältnissen nur als subversiven Aufruhr, der nach ihrem Verständnis immer durch kommunistische Rädelsführer inszeniert sein mußte. Diese Bürgerkriegsarmee gefiel sich darin, zu jeder Gelegenheit den Aufstand zu proben; das Sandkastenspielchen, Demonstrationen auseinanderzuschlagen, Widerstandsnester auszuheben, und Agenten aufzufinden, begeisterte die Strategen immer wieder aufs neue und in Ermangelung eines "echten" Krieges, in dem man sich als Held und Mann beweisen könnte, wurden diese strategischen Übungen zum unter Wiederholungszwang stehenden Lebenselement. Eine äußerst wohlwollende Unterstützung erfuhren diese Spezialisten vom Berliner Senat und von den Parteien, die, wie die Polizei, ihre einzige Legitimation aus der Frontstadtstimmung bezogen. Politikerkaste und Polizeikorps bildeten gleichermaßen eine abgeschlossene und autonome Gruppe in der Gesellschaft und hatten nur dafür Sorge zu tragen, daß der Bruch zur Bevölkerung nicht offensichtlich würde, mußten ihren Verrat an der Bevölkerung unkenntlich machen, indem sie die Angst der Bevölkerung vor diesem Verrat, umgewandelt in die Angst vor dem "äußeren Feind" und seinen Agenten im inneren, als Kraft nützten, die irrationale Bindung zwischen Stadiführung und Bevölkerung zu erhalten. Bei Staatsempfängen, feierlichen Aufzügen (1. Mai) und Wahlen wurde der Frontstadtgeist immer erneut mobilisiert; dazu schienen bisher Parolen zu genügen wie: «Wir schaffen es», "Immer für Berlin» etc. Die Berliner Demokratie fungierte als Versatzsstiick dieses Frontstadtgeistes. Die parlamentarischen Entscheidungen wurden nach technisch-administrativen Daten gefällt, die zustande kommen durch die Arrangements zwischen staatlicher Verwaltung, Parteibürokratien und Interessenverbänden, um den Status quo aufrechtzuerhalten, was in Berlin immer die Abhängigkeit von den Westmächten, der Bundesregierung und den westdeutschen Konzernen bedeutet. Die Aufgabe, diese Abhängigkeiten ungefährdet aufrechtzuerhalten hatte in Berlin einen kontinuierlichen Integrationsprozeß von Partei- und Senatsbürokratie ermöglicht, als dessen Resultat außerhalb des Abgeordnetenhauses, in außerparlamentarischen Gremien, die Administrationsspezialisten die aufkommenden Probleme erörterten und Kompromisse aushandelten. Die Abgeordneten der Parteien, die von ihrer Partei ein "imperatives Mandat" mit dem diskreten Hinweis auf Pensionsberechtigung aufgenötigt bekamen, besonders wenn sie zugleich Senatsangestellte waren, mußten sich dem Fraktionszwang beugen und den außerparlamentarisch ausgehandelten Kompromissen bedenkenlos zustirnmen. Parteien und Abgeordnetenhaus wurden zu einer "demonstrierenden" Körperschaft, in der kaum Entscheidungen gefällt wurden, sondern durch die der Werbegag unternommen wurde, das Prestige der Bürokratie, den Ruf Berlins und den Schein der Demokratie zu erhalten. Aktionen, die dieses Prestige untergmben, mußten deswegen mit den härtesten Sanktionen aller Institutionen rechnen, weil alle Institutionen an dem gleichen korrupten Mechanismus partizipierten und sich deswegen gleichermaßen in ihrer objektiven Funktion durch solche Aktionen bedroht fühlten. Dies erklärt die Härte, mit der die Polizei bei der Spaziergangsdemonstration "durchgriff", und die den Demonstranten den "Spaß" an der neuen Demonstrationsform erheblich dämpfte.

Die Diskussion im SDS über den "provokativen Spaziergang" auf dem Kurfürstendamm zeigte deutlich, daß diese Praxis eine organisatorische Konsequenz verlangte, denn bis zu diesem Zeitpunkt war der SDS ein studentischer Koalitionsverband ohne genaue politische Artikulation seiner Teile. Ein Vorstand leistete mühevoll Büroarbeit und veranstaltete Arbeitskreise und unverbindliche Diskussionen, auf denen Mitglieder und Sympathisanten mehr unbeteihgt Theorie- und Revolutionsgeschichten aus exotischen Ländern konsumierten. Der SDS mußte, wollte er diese neue Form der Demonstrations- und Provokationspraxis nicht nur unbewußt aus sich hervorbringen, sondern zur systematischen Strategie ausbauen, unter seinen Mitgliedern mehr Solidarität und Verbindlichkeit in der theoretischen und praktischen Arbeit erreichen, ohne unreflektiert geschichtlichen Organisationsmodellen nachzuhängen. Der SDS war die Koalition aus drei Gruppierungen, die nicht scharf gegeneinander abzusetzen waren. Die eine zog sich immer mehr als Grüppchen linker Wissenschaffier in den Universitänbetrieb zurü& und versuchte, den Klassenkampf im Seminar auszufechten; die zweite Gruppe blieb im existentialistischen Protest stecken; die dritte Gruppe setzte sich aus einzelnen Individuen zusammen, die aus der mangelnden Effektivität für sich dadurch die Konsequenz gezogen hatten, daß sie, ohne die Diskussion im SDS abzubrechen, an den verschiedenen Stellen in Universität und Gesellschaft die Praxis als "Einzelkämpfer" einfach aufnahmen, die der Verband hätte leisten müssen. In der historischen Situation Deutschlands nach der Rekonstruktionsperiode der Wirtschaft, sah sich der SDS, der eben von der bürgerlich-opportunistischen SPD entuabelt war, mit der Aufgabe konfrontiert, als kleinbürgerlicher Studentenverband Funktionen der sozialistischen Bewegung auszufüllen. Die objektive Überforderung in dieser Aufgabe drückte sich aus, wenn die Intellektuellen im SDS sich entweder mit einem Proletariat vergangener Klassenkampfsitua?ion identifizierten oder revolutionäre Kampfmodelle und Theorien aus anderen geographischen, geschichtlich ungleichzeitigen Gebieten übernahmen und schematisch auf die eigene Praxis übertrugen. Die Diskrepanz einer auf diese Weise uneffektiven Praxis und den revolutionären Ansprüchen des SDS mußte, zumal bei Kleinbürgern, die keinen Rückhalt in dem konkreten Klassenkampf ihrer Gesellschaft fanden, bei einem Teil der SDS-Mitglieder zum resignativen Rückzug in die Sphäre reiner Wissenschaftlichkeit oder bei einem anderen Teil zum moralischen und ethischen Appell führen, mit dem man sich in die «exi- stentielle Verweigerung» flüchtete.

Die objektiven Probleme des Verbandes also und die politische Gewaltausübung der Institutionen in Berlin, die jeden Opponenten physisch bedrohten, führten zur Kommune-Diskussion, die theatralisch die Existenzbedrohungen des einzelnen herausstellte, deren unmittelbare Überwindung im SDS verlangte und deswegen die Unverbindlichkeit des SDS als die psychische "Kälte" des Verbandes anklagte. Verhaßt wurde den Kommunarden die bloße Akkumulation von Wissen, die bloß stoffliche Anhäufung kritischer Theorien, die das Individuum nicht veränderten und höchstens "fit" zu machen schienen für die Anforderungen des Universitäts- oder Industrieapparates. Die kompromißlose Ablehnung des "Alten" wandte sich sehr bald gegen die Theorie überhaupt und gegen theoretische Autoritäten, weil man sich einbildete, daß diese die Entfremdung der einzelnen verstärken würden.

«Die Trennung von Interpreten, die aus relevanter Erfahrung allgemein verbindliche Aufgabenstellungen gewinnen, und Interpretierten, die diese Aufgabenstellungen übernehmen, ohne sie aus eigener Erfahrung zu entwickeln, befestigen die Kommunikationsschranken, die in der neuen Zusammenarbeit gerade überwunden werden sollten. Die Interpretierten versuchten vergeblich, sich in den Interpretationen zu erkennen, die sie als für sich verbindliche akzeptiert haben. Die übernommene Aufgabenstellung kann jedoch keine Bewegungsform für die eigenen Schwierigkeiten sein. Der Zugang zu dieser bleibt im Gegenteil weiterhin verstärkt. Zu dem Unbehagen, die eigene Problematik nicht zu verhandeln, kommt die Angst, der akzeptierten Verbindlichkeit nicht zu entsprechen. Das Unbehagen darüber, daß man eigentlich nicht drinnen ist, und die Angst, tatsächlich herauszufallen, bringen die Interpretierten in eine Zwangslage, die ihnen jede eigene Bewegung unmöglich macht. Die Interpreten isolieren sich selbst und berauben sich der Möglichkeit, ihre Problemstellung als falsch gestellte zu erkennen. Angst der Interpretierten und falsche Sicherheit der Interpreten produzieren als uneingestandene sämtliche Konflikte. Als eingestandene und reflektierte werden sie die Basis wirklicher Kommunikation zwischen uns selbst und zwischen der Gesellschaft.» (Aus einem Zirkular der Kommune 1, 1967.)

Eine solche Fragestellung ignorierte von vornherein die Anstrengung theoretischer Arbeit und damit die Erkenntnis der geschichtlichen Wirklichkeit und nivellierte die Gruppe auf das Meinen und ängstliche Verhalten derer, die an der Neurose der Arbeitshemmungen litten. Es ist nicht verwunderlich, wenn sehr bald die banalen Fragen der Verteilung der Zimmer und des Küchendienstes in der neuen Wohnung im Vordergrund dieser verbindlichen Diskussionen standen, oder der Ausweg in der Aktion gesehen wurde, die als gemeinsames Erlebnis Zusammenhalt, Öffentlichkeit und damit Kommunikation schaffte.

Spätestens Seit dem Humphrey-"Attentat" im April 1967 wurde es offenkundig, daß in der Berliner Wirklichkeit jedes Happening, wagte es, geweihte Autoritäten oder gar die amerikanischen Freunde bloßzustellen, schärfste politische Restriktionen zu erwarten hatte. Die städtische Bürokratie, die Gemeinschaft der drei Gewalten, Polizei und Senat, Abgeordnetenhaus und Parteien und auch Justiz, gierte danach, mit der "radikalen Minderheit" abzurechnen, bewiesen doch die demoskopischen Umfragen, daß die Bevölkerung die ResSentiments gegen die Studenten mit ihren Repräsentanten teilte. Diese Einstellung wurde durch die Verdächtigungen der monopolisierten Presse gefestigt, die die extremen Gruppen nach dem bewährten Schema der faschistischen Minderheitenhetze abqualifizierte und mit Stereotypen belegte wie Kommunisten, Rabatzki, Randalierer, Rädelsführer etc., wodurch die Studenten zum Objekt der Aggression und der Haßgefühle der Bevölkerung wurden. Im antistudentischen Ressentiment der Bevölkerung herrschte einerseits die historische Erinnerung an die verhängnisvolle Rolle der deutschen Intelligenz in den verschiedenen Klassenkampfsituationen, zum Beispiel während des Kapp-Putsches oder bei der faschistischen Machtergreifung; zum anderen mußte, das zeigt die hysterische Reaktion Berliner Gewerkschaftsfunktionäre, dies Ressentiment erheblich verstärkt werden, weil offenbar die studentischen Aktionen die kollektiven Verdrängungsleistungen der Arbeiterschaft zu bedrohen begannen. Die studentischen Aktionen erinnerten die Arbeiter an die eigenen Streiks und Demonstrationen in der Vergangenheit, die also als Praxisformen jetzt überhaupt wieder in den Blick kamen. Der Charakter des antistudentischen Ressentiments zeigte sich deutlich in Sätzen wie folgendem: «Unter Adolf hätten sie euch zusammengeschlagen.» In diesem Satz herrscht der eigene historische Erfahrungen reflektierende Zweifel, mit Aktionen etwas gegen die herrschenden Institutionen verrichten zu können, und er schwankt deswegen zwischen einer Ermahnung an die Heißsporne und der resignativen Identifikation mit den "übermächtigen" Institutionen und wünscht dann, daß die studentische Bewegang zerschlagen werde und damit die Erinnerung an die eigenen historischen Möglichkeiten. Mit dieser "Verwurzelung" in der Bevölkerung war die Bürokratie entschlossen, bei bester Gelegenheit zuzuschlagen, in der wenigstens der Schein rechtsstaatlicher Maßnahmen gewahrt werden konnte.

Der erste offensive Versuch mißlang kluglich, als die Politische Polizei auf Anweisung der Staatsanwaltschaft am 26. Januar 1967 in die Räume des SDS emdrang, um die Kartei zu beschlagnahmen, aus der man die Namen derer ermitteln wollte, die bei der AS~-Diskussion mit Rektor Lieber am 26. November 1966 das "Fa£hidioteaflugblatt" verteilt hatten. Dieses willllürliche Vorgehen der Polizei brachte in sehr kurzer Zeit die Solidarisierung aller oppositionellen Studentenverbände mit sich, zu denen zu diesem Zeitpunkt selbst der RCDS zu zählen war. Trotz mangelnder organisatorischer Vorbereitung nahm die außerparlamentarische demokratische Opposition Gestalt an. Die Protestdemonstration durch die Innenstadt wurde zähneknirschend von der Polizei auf Anweisung des Senats bewilligt, wobei sogar das Demonstrationsverbot für dieses Stadtgebiet aufgehoben werden mußte, das man nach der ersten großen Vietnamdemonstration im Februar 1966 verhängt hatte. Auch die Köpeni&iade, die anläßlich des Besuchs des amerikanischen Vizepräsidenten Humphrey von der Politischen Polizei mit wichtigtuerischer Miene aufgeführt wurde, indem sie Puddmgbeutel in Plastikbomben verzauberte, war nicht angetan, den Ruhm der Berliner Demokratie und den Scharfsinn der Berliner Polizeistrategen in aller Welt zu verkünden. Als am 19. April 1967 der Rektor der FU die Polizei in die Universität bestellte, um ein sit-in ausheben zu lassen, verhielt sich diese plötzlich reserviert und brach beim passiven Widerstand der Studenten ihre Räumungsaktion ab. Die Polizei sei nicht mehr bereit, so erklärte der Polizeipräsident, allein das Risiko für solche Maßnahmen zu tragen, während sich Universität und Senat die Möglichkeit offen halten, sich bei scharfer Kritik der liberalen Öffentlichkeit des Auslands und der Bundesrepublik aus der Affäre zu ziehen. Man wollte also eine bessere Gelegenheit abwarten, bei der das Prestige und der Ruf der Berliner Gesellschaft derartig in Frage gestellt wurde, daß Parlamentarier, Parteibonzen und Verwaltungsbeamte gezwungen waren, sich hinter jede Polizeiaktion zu stellen und die "Nacharbeiten" zu erledigen: Strafverfahren, Relegationen etc. Die bürokratische - Verschwörung gegen demokratische Opposition fand im geschichtlichen Niveau Berlins geeigneten Nährboden.

Mit der Ironisierung der würdevollen Persönlichkeiten der Demokratie über die einfache Satire hinaus, mit der Bezweiflung ihrer Funktion, mit der Störung zeremonieller Staatsempfänge für internationale Ganoven, die die Politiker zu Stellungnahmen zwangen, sei es zu Vietnam, zu Persien oder zur Demokratie, wurde nicht nur der persönliche Status der Politiker, ihre intellektuelle Fähigkeit oder das Prestige einer Stadt in Frage gestellt, sondern das bestehende System selbst. Die zermürbenden Provokationen mußten die Sanktionen gegen die "Minderheit" hervorbringen, wenn nicht nur das Selbstverständnis, sondern auch die Funktion des Systems bedroht war. So gesehen war das Massaker am 2. Juni ein nicht abgesprochener Komplott aller politischen Instanzen gegen die oppositionellen Studenten; es war ein Rachefeldzug, der in einem blitzkriegartigen Überfall die außerparlamentarische Opposition zerschlagen Sollte. Die Rechnung der Polizeistrategen schien aufzugehen, denn nach den Vorfällen und dem Todesschuß vor der Oper schütteten nicht nur die Gazetten ihre Verleumdungen über die Studenten, auch die demokratiebeflissenen Parlamentarier wetteiferten im Verdrehen von Tatsachen und in der übelsten Hetze mit den Redakteuren. Das Abgeordnetenhaus deckte nicht nur den Verfassungsbruch der Exekutive, sondern nahm diese sogar ins hochnotpeinliche Verhör, wieso sie nicht mehr die Demokratie mit Füßen getreten habe.

Unter dieser extremen Bedrohung unternahmen die Studenten eine verzwei~ felte Anstrengung, die Wand des Hasses zwischen sich und der Bevölkerun~ zu durchbrechen, indem sie sich mit Tausenden von Flugblättern an diese Bevölkerung wandten und so eine populistische Gegenöffentlichkeit schufen, diek der jahrelangen Manipulation von seiten der Springer-Presse begegnen sollte. Um diese gewaltige Kraftanstrengung vollbringen zu können, bildeten die Studenten Komitees, womit sie ihre traditionelle Organisation einerseits in den politischen Verbänden und andererseits der Studentenvertretung aufhoben. In der unmittelbar praktischen Aufgabenstellung dieser Komitees und darin, daß sie allen aufgewühlten Studenten politische Betätigungsfelder eröffneten, ist das höhere Organisationsniveau dieser Komiteeformen resümiert. Aber auch als Kampfformen signalisierten sie eine neue Etappe der Auseinandersetzung; in ihnen zeigten sich rudimentäre Formen der Doppelherrschaft, weil sie sich nicht mehr damit begnügten, den etablierten Institutionen zu mißtrauen, sondern begannen, deren Funktionen selbst wahrzunehmen. Dies äußerte sich am deutlichsten in dem Komitee, das die Ereignisse des 2. Juni untersuchte und damit verhinderte, daß der parlamentarische Untersuchungsausschuß und die dritte Gewalt die Tatsachen beliebig verdrehen konnten. Freilich zeigte sich, daß die Studenten noch nicht in der Lage waren, über längere Zeit mit diesen lockeren Organisationsformen effektiv zu arbeiten. Darin fand die Misere der Universitätsausbildung ihren Ausdruck, durch die die Studenten lediglich zu stumpfsinniger, unselbständiger Arbeit konditioniert werden. Die Notwendigkeit, eine eigene wissenschaftliche Ausbildungsstätte, eine Kritische Universität zu schaffen, die die Studenten für selbstverantwortliche politische Arbeit qualifizieren könnte, war nach der Erfahrung mit den Komitees offenkundig geworden. Die Kampagne auf den Straßen und vor den Fabriktoren war die erste Gegenreaktion der Studenten, die unter den gegebenen Umstä~~ den sich gegen die Manipulationszentrale in der Kochstraße richten mußte. Die Forderung nach der Enteignung des Springer-Konzerns war damit wichtiges Element der Selbstverteidigung der Studenten, war der Versuch einer Offensive, Teile der Bevölkerung der Wirkung der Manipulationsmechanismen zu entreißen, Die Hetze der Springer-Zeitungen hatte den totalitären Charakter der nachfaschistisch-faschistischen Bundesrepublik verdeutlicht, der in Berlin durch den offenen Polizeiterror sichtbar geworden war. Die falsche Berichterstattung über den Krieg in Vietnam, die Darstellung der Proteste gegen die Aggressionspolitik der US-Regierung als Verrat an der Demokratie und der Freiheit, als gesteuerte Demonstrationen von "drüben", heizte den Pogrom an. Das Schweigen der Universitäts- und die beredte Sprache der Stadtbürokratie zwangen die Studenten, jedes Vertrauen in die gesellschaftlichen Institutionen aufzugeben, und mit der Forderung «Enteignet Springer» einen Stoß in das Zentrum der antidemokratischen Macht zu führen.

Durch die Disziplinierung der Parteien und durch die Entrnachtung des Parlaments und seines Rüchzugs aus der P~'ffentlichkeit gewannen die Blätter des Springer-Konzerns, voran die Bild-Zeitung, einen plebiszitären Zug, wenn auch in perverser Verzerrung. Der Konzern hatte sehr gut begriffen, daß den Arbeitern und Angestellten an einer detaillierten Information ä la Süddeutsche Zeitung nichts gelegen war, wenn sie vom politischen und ökonomischen Entscheidungsprozeß sowieso ausgeschlossen waren. Der Konzern verfolgte eine unschädliche politische Mobilisation seiner Leser, indem er über dessen "kleinen Sorgen" behutsam wachte, wobei er mit antikapitalistischer Detailkritik nicht sparte, die kapitalistischen Zusammenhänge aber in schicksalhaften Nebel hüllte oder direkt in die Hand Gottes legte; das Alltagsieben des kleinen Mannes fand in den Gazetten seine rührselige Verdoppelung; sie zeigten den kleinen Mann als wunschvoll glücklichen, der seine vermeintliche Sicherheit seiner Stetigkeit verdankte und deswegen sehr leicht Kritik als "artfremde" Bedrohung seines ehrlichen, kleinen Daseins empfand. Der Springer-Konzern bot sich mit dieser plebiszitären Funktion den herrschenden Machteliten als Kontrollorgan an. Die letzte Phase der Entwicklung in Berlin zeigte, wie ein heruntergekommenes Parlament nur noch die Stereotypen des Springer-Konzerns nachbeten konnte. So geschehen in der berüchtigten Abgeordnetenhaussitzung am 8. Juni 1967.

Der Protest der Studenten gegen die Entwicklung der rormierten Gesellschaft war zunächst eine moralische Empörung, die das Postulat der Demokratie gegen deren tatsächliche Entwirklichung in der Bundesrepublik kehrte. Die Losung «Enteignet Springer» zeigte zunächst den Punkt an, wo dieser moralische Protest politische Züge gewinnen konnte. Er schloß die Erkenntnis der Kornplicenschaft zwischen den herrschenden Machteliten und dem Springer-Konzern mit ein. Er begriff das Verhältnis des Konzerns zu seinen Lesern als einen Vorgriff auf das kapitalistische Ideal einer gesamtgesellschaftlichen Kaserne. Die Studenten erkannten plötzlich, daß es dem Springer-Konzern nur dann gelingen könnte, die bevorstehenden Lohnkämpfe der Arbeiter ebenfalls seiner Minoritätenhetze erfolgreich zu unterwerfen, wenn wie bisher der organisatorische Zusammenhalt der kämpfenden Arbeiter bewußtlos über die Gewerkschaftsbürokratien hergestellt wäre. In dem Moment aber, in dem der Kampf der Arbeiter so organisiert wäre, daß sie in den einzelnen Phasen ihrer Auseinandersetzung sich das Bewußtsein über ihre Stellung im Produktionsprozeß verschaffen könnten, müßte der Manipulationsversuch Springers zum unmittelbaren Anlaß der Zerschlagung des Konzerns werden.

Bei der "Wiederentdeckung" des "Proleten" durch die Intelligenz war man weit entfernt von einer Heroisierung seines politischen Auftretens. Ein dogmatischer Proletkult, der immer ein Zeichen der Stagnation der revolutionären Bewegung und eine Erfindung der kleinbürgerlichen Intellektuellen war, die die eigene Unmöglichkeit revolutionärer Praxis in eine geschichtliche Heldengestalt sublimieren maßten, konnte sich in Berlin nicht breit machen. Denn die Beeinflussung der Arbeiter durch die herrschende Ideologie war hier viel zu deutlich, als daß die Ratlosigkeit über die nächsten politischen Schritte sich in eine Schwärmerei für die Arbeiter verflüchtigen konnte.

Der studentische Plan, Betriebs- und Branchenzeitungen als konstitutive Momente von Gegenöffentlichkeit zu schaffen, wies bereits die bestinimte Richtung einer politischen Arbeit der Studenten im Klassenkampf der Arbeiter. Diese Zeitungen wurden nicht als Konsumartikel der Arbeiter projektiert, sondern als Produkt zwischen Arbeitern und sozialistischen Studenten; die konkreten betrieblichen Informationen der Arbeiter sollten in gemeinsamer Arbeit mit den analytischen Perspektiven der jungen sozialistischen Wissenschaftler in Kampfartikel transformiert werden. Dabei würden die Arbeiter zugleich mit ihrer Aufklärung ihr eigenständiges, vom Placet oder Veto der Gewerkschaftsspitzen befreites Kommunikations- und Organisationsnetz hervorbringen, das sie befähigen würde, in den konkreten Auseinandersetzungen nicht den Status quo ihrer Unmündigkeit zu verteidigen, sondern ihren Emanzipationsprozeß zu betreiben.

Sowenig es darum ging, das hatten die Studenten begriffen, den Arbeitern neben die Bild-Zeitung eine "linke" Zeitung zu den Butterbroten zu packen, so wenig ging es darum, den Arbeitern anstelle der SPD, oder der, zumindestens in Berlin, vollständig zum Komplicen der herrschenden Cliquen verkommenen oberen Gewerkschaftsbürokratien eine andere Vertretung ihrer Interessen, eine neue Partei, auf~schwätzen. Es galt damit Ernst zu machen und daran die Kräfte zu wenden, daß die Arbeiter selbst in den Klassenkämpfen ihre Emanzipation erringen müssen. Mit der Reduktion ihrer politischen Potenz auf das Ausfüllen eines vorgedruckten Stirumzettels und damit ihrer Fizierung auf ein nicht-funktionierendes, parlamenta'risches System war endlich Schluß zu machen.

Die Arbeiterbewegung, so schien es den Studenten, hatte wieder dort anzusetzen, von wo sie vor 100 Jahren ihren Ausgangspunkt genommen hatte, unter den heutigen Bedingungen den ökonomistischen Kampf in den politischen Kampf umzuwandeln, dabei belehrt durch die bitteren Erfahrungen im Scheitern ihrer bisherigen Klassenkämpfe.

Die sozialistische Intelligenz hatte vor allem das Pathos zu verlieren, selbst an Stelle des "Proletariats" zu handeln und ihrer Praxis das Bewußtsein und die Kampfformen der Arbeiter zu unterwerfen.

In ihrer Praxis also hatte die antiautoritäre Studentenbewegung den konkreten Zugang zu den Problemen gewonnen, die die Arbeiterbewegung ungelöst wie große Fragezeichen im historischen Prozeß aufgeworfen hatte Der nächste Schritt jedoch, der von den kritischen Studenten vollbracht werden mußte, bestand und besteht darin, ihre eigenen Organisationsformen so umzuwandeln, daß es ihnen möglich wird, ihre Funktion im Klassenkampf der Arbeiter zu erfüllen.

Diese allgemeine Bestimmung der sozialistischen Praxis reflektiert die objektive Schwierigkeit, vor der die antinutoritäre Opposition sich befindet und zeigt lediglich die mögliche Vermittlung zwischen dieser antiautoritären Revolte und dem sozialistischen Klassenkampf auf. Die spektakuläre Offensive in den Universitäten und Schulen fand ihre breite Basis in einer Jugend, die auf Grund ihres Bildungsprivilegs einen Begriff von abstrakt gesellschaftlicher und historischer Totalität besaß, der die Disziplinierungsmaßnahmen der staatlichen Administration in den Universitäten dem Maßstab zumindest der Ideale der Aufklärung unterwerfen konnte.

Die Entfernung vom humanistischen Protest zum antiautoritären bis hin zur Verwendung der historisch gewordenen Begriffssprache des Marxismus ist nicht weit und kein Beweis dafür, daß die Opposition neue Qualitäten gewonnen hat. Die Radikalisierung der Sprache ist noch längst kein Beweis dafür, daß man den Imperialismus der Gegenwart einer konkreten Analyse unterworfen hat und daß eine Verbindung von der antumperialistischen Volksrevolution in der Dritten Welt zum antiautoritären Protest in den Metropolen hergestellt wurde.

Die Übertragung der Universitätsrevolte auf andere gesellschaftliche Bereiche und Klassen ist leichtfertig und eher Ausdruck einer "ungestu..men~ Logik, vor allem weil durch ein solches Wunschdenken die Reflexion über die Struktur der antiautoritären Opposition selbst behindert und die Bereitschaft zur Radikalisierung einfach unterstellt wird. Auch die These, daß der internationale Protest gegen die Unterdrückung der Volksaufstände durch den Imperialismus die nationalen Widersprüche aufbrechen läßt, wenn die direkten Aktionen der Opposition den Machtapparat der einzelnen Staaten zu Gegenmaßnahmen und Stellungnahmen zwingen, ist ein Versuch, die Erfahrungen der besonderen Situation in Deutschland undifferenziert zu soziologischen Gesetzmäßigkeiten der Protestbewegung zu erheben. Die aus dieser These resultierende Behauptung, daß erst die Gruppen und Schichten, die an diesen antiautoritären und antiimperialistischen Aktionen teilgenommen haben, befähigt sind, die antiautoritäre Revolte in die Institutionen und Betriebe zu tragen, ist anmaßend, weil sie sich nicht einmal mehr der Mühe der konkret empirischen Analyse unterzieht. Das Bewußtsein entsteht also nicht mehr in der Produktionssphäre, sondern das psychologische Unbehagen aller «Menschen» erbringt die Bereitschaft zum Aufruhr gegen die Normen der Gesellschaft. Die ökonomische Analyse des Spätkapitalismus und der Rolle des Staates in diesem System beweist dann im Grunde nur die psychologische Gleichschaltung aller «Menschen» und daß keine Klasse, Fraktion oder Abteilung der Klassen prädestiniert ist, den Kampf gegen die kapitalistische Herrschaftsstruktur zu tragen. Der Widerspruch zwischen der schwärmerisch revolutionären Fraktion in der antiautoritären Opposition und der, die sich der Anstrengung aussetzt, sozial relevante Schichten der Arbeiterklasse durch eine Analyse der Stagnationskrise für die Verbreitung der gesellschaftlichen Basis der Opposition zu finden, spitzt sich in dem Moment zu, wo beide Fraktionen zu je spezifischen Aktionsformen gelangen. Das impliziert noch nicht den vollkommenen Bruch, wenn die einzelnen Clubs, Verbände und der SDS sich nicht der Diskussion verslie~n und ein gewisses Maß von Verbindlichkeit aufrechterhalten wird, so daß Aktionen, die sich berleiten aus einer Fehleinschätzung der Situation, verhindert werden können. Dadurch kann einer vorschnellen Iflegalisierung, die das Regienmgskartell der Bundesrepublik gerade nach den letzten Erfolgen dieser Opposition anstrebt, Einhalt geboten werden, denn bei dem augenblicklichen Stand ihrer Organisierungs- und Konsolidierungsversuche wäre ein Verbot ein großer Rückschlag.

Die Stärke der außerparlamentarischen Opposition ist ihr plebiszitärer Charakter und die undogmatisdae Diskussionsweise zwischen den einzelnen Fraktionen; ihre Überlegenheit zu den ausländischen linken sektiererischen Gruppen drückt sich im Begriff der Disziplin aus, der definiert wird durch das einheitliche Vorgehen gegen die Zwangsmaßnahmen des Staatsapparates.

Es bestehen auch keine Meinungsverschiedenheiten über die Notwendigkeit der internationalen Solidarität mit den Volkskriegen gegen den Imperialismus in der Dritten Welt, nur werden von den einzelnen Gruppierungen die Akzente anders gesetzt. Ein unverzügliches und unmittelbares Eingreifen in den Krieg zugunsten der Befreiungsbewegungen würde zum Beispiel den SDS zu einer Kampfeinheit formieren, die in ihrer Struktur einen Gegen-CIA oder Gegen-Verfassungsschutz darstellen müßte, um überhaupt wirksame Sabotageakte gegen die amerikanischen Militärbasen in Europa durchführen zu können. Das kann ein Studentenverband, der eher ein Diskussionsforam für die verschiedensten Auffassungen darstellt, nicht leisten, und Aktionen in dieser Richtung würden die Auflösung der gesamten Opposition vorantreiben.

Die Internationalisierung des Kampfes gegen den Imperialismus, der zugleich die Auseinandersetzung mit dem nationalen Herrschaftsapparat miteinbezieht, kann nur effektiv werden, wenn ein starker sozialer Rückhalt in den Metropolen selbst vorhanden ist. Das bedeutet für Deutschland nicht nur, daß große Teile der Studenten, Schüler und andere outgroups sich in der außerparlamentarischen Opposition zusammenfinden, sondern auch Fraktionen der Arbeiter zum Beispiel aus den stagnierenden Industriezweigen die Ziele des Kampfes unterstützen.

In der Stagnationsperiode der Gegenwart ist die Großindustrie durch den Druck der internationalen Konkurrenz gezwungen, Produktion, Absatz und Investitionen genau zu planen, um das Risiko des Verlustgeschäftes und der technologischen Veralterung des Maschinenparks so klein wie möglich zu halten. Vor allem die Lohukosten müssen im voraus berechnet und geplant werden. Der Staat als Schlichtungsinstanz zwischen Unternehmerverbänden und Gewerkschaften, der über die gesamtgesellschaftliche Produktion im Interesse der expandierenden Industriezweige wacht, bemüht sich, die Gewerkschaften der staatlichen Lohnpolitik unterzuordnen. Es wird garantiert, daß die Löhne mit dem Steigen der Produktionskapazität, mit der Zuwachsrate erhöht werden, aber dafür müssen die Arbeiterorganisationen gewährleisten, daß keine zusätzlichen Lohnforderungen etc. gestellt und erst recht keine Streiks durchgeführt werden. Die Gewerkschaften werden zu Organen der Disziplinierung der Arbeiter. Die Abwehrkämpfe der Arbeiter in den einzelnen Betrieben und Branchen sind damit zunehmend nicht nur dem Druck der Managements und des Staatsapparates ausgesetzt, sondern auch dem Druck der oberen Gewerkschaftsbürokratie.

Den Kampf in den Betrieben gegen Entlassungen, Lohneinschränkungen und die Herrschaftsstruktur der Betriebe müssen Aktivgruppen der Arbeiter selbst führen, die direkt an die Bedürfnisse und Vorstellungen ihrer Kollegen anknüpfen müssen. Die Studenten können nur wissenschaftliche Hilfestellung geben, indem sie die wirtschaftliche Situation analysieren und Tendenzen der Entwicklung der Stagnationskrise aufzeigen, auf die sich diese innerbetrieblichen Gruppen dann in ihrer Agitation vorbereiten. Gelingt der studentischen Opposition, die Koordination und Kooperation zwischen den einzelnen Betrieben herzustellen, so ist auf diesem Gebiet der Aktivierung der Arbeiter viel erreicht worden

Der Sinn der These, daß die außerparlamentarische und antiautoritäre Opposition dort anzuknüpfen habe, wo vor 100 Jahren die Arbeiterbewegung ihren Ausgangspunkt genommen hat, ist darin zu sehen, daß man in der Gegenwart, beim Stand der Industrialisierung und der Automation, sich nicht vertrauensvoll dem Programm einer "sozialistischen" Partei anschließen darf oder Illusionen über die parlamentarischen Auseinandersetzungen hegen kann, sondern allein die direkte Aktion gegen die irrationale Herrschaft in Fabriken, Universitäten, Schulen etc., werden sie von den je spezifischen Gruppen durchgeführt, kann ein Bewußtsein darüber schaffen, daß diese spätkapitalistische Gesellschaft, ersetzt werden muß durch eine sozialistische Gesellschaft, in der alle Produzenten, ob Arbeiter oder Studenten, an den sozialen und wirtschaftlichen Entscheidungen beteiligt sein müssen.