„In
Zeiten endlich, wo der Klassenkampf sich der Entscheidung
nähert, nimmt der Auflösungsprozeß innerhalb der herrschenden
Klasse, innerhalb der ganzen alten Gesellschaft, einen so
heftigen, so grellen Charakter an, dass ein kleiner Teil der
herrschenden Klasse sich von ihr lossagt und sich der
revolutionären Klasse anschließt, der Klasse, welche die Zukunft
in ihren Händen trägt.“
(MEW
4/471)
Diese historische Prognose hatte Karl Marx 1848 im „Manifest der
Kommunistischen Partei“ formuliert. Seit etwa Mitte 1969 wurde
sie in den Ad-hoc- und Basisgruppen, in linken Projekten und
Kampagnen sowie vor allem im SDS auf die „spätkapitalistische“
Klassenstruktur und den aktuellen Stand der Klassenkämpfe
übertragen. Diese Abnabelung vom bürgerlichen
Wissenschaftsbetrieb und die theoretische sowie die praktische
Hinwendung zum Proletariat wurden nun als „Klassenverrat“
verstanden. Für die neue Selbstverortung wurde der Aufsatz „Zur
Organisationsfrage der Intellektuellen“ von Georg Lukács als
Raubdruck in Umlauf gebracht, worin der Autor behauptete, dass
„Intellektuelle nur als Individuen revolutionär werden können“,
wenn sie „aus ihrer Klasse austreten“ - und um „wirkliche
Vorkämpfer“ zu werden, müssten sie mit „offenem Bewußtsein“ das
vertreten, „was die große Masse der Proletarier nur instinktiv
tut“. ( Lukács 1920 : 14) Mit dieser Quelle ließ sich zwar
belegen, dass für Intellektuelle ein persönlich gewolltes
Überwechseln in ein proletarisches Parteimilieu grundsätzlich
möglich sei, allerdings ließ der Lukács-Text keinen Zweifel
darüber aufkommen, welcher Platz den Intellektuellen durch ihren
Klassenverrat damals zugewiesen wurde. Sie wurden durch diesen
Selbstverwirklichungsschritt nicht Teil des Proletariats,
sondern Teil der Kommunistischen Partei. Ein in dieser Weise zu
verstehender Begriff von Klassenverrat konnte nicht
holzschnittartig eins zu eins umgesetzt werden, vielmehr musste
er mit Bezug auf die deutlich veränderten Klassenstrukturen
einer zeitgenössischen Reformulierung unterworfen werden. Dies
umso mehr als es revolutionäre Klassenorganisationen in den
Metropolen nicht mehr gab bzw. deren revolutionäre Ziele einer
Revision unterzogen worden waren.
Im Wintersemester 1969/70 widersprach Hans-Jürgen Krahl, einer
der führenden theoretischen Köpfe des SDS, explizit dem Konzept
vom individuellen Klassenverrat:
„Alles
Lamentieren über kleinbürgerliche Verhaltensweisen in der
studentischen Bewegung nützt
da nichts, wenn es nicht einen anachronistischen Begriff von
Kleinbürgertum voraussetzen will, der auf dem
warenproduzierenden und warenbesitzenden und von
Enteignungsangst gejagten Kleinbürgertum beruhte, sondern wenn
man davon ausgehen muss, dass heute geistige Arbeit zu einem
großen Teil - und auch das Atelier der Universität – in den
Gesamtarbeiter, den produktiven Gesamtarbeiter, integriert ist
…. individualistischer Klassenverrat wissenschaftlicher Intelligenz
ist dann keine historische Möglichkeit mehr, sondern die
wissenschaftliche Intelligenz kann nur als organisierte, in der
Artikulation ihres Begriffs geistiger Arbeit, Klassenbewusstsein
in seiner Totalität mitbilden.“ (Krahl 1971 : 324)
Das politische Dilemma seiner, in der Tendenz richtigen
Einschätzung, bestand jedoch darin, dass die polit-ökonomische
Bestimmung geistiger Arbeit als Teil des „produktiven
Gesamtarbeiters“ keine ideologische Sperre gegen den
Voluntarismus eines persönlichen Klassenverrats bildete, sondern
ihn stattdessen noch beförderte, weil die individuelle
Hinwendung der Intellektuellen zum Proletariat in der Form
politisch arbeitender Gruppen auf diese Weise weiterhin als
Klassenverrat gedacht werden konnte.
Im Sommer 1969 zeigte sich, dass das rein additive Konzept des
Zusammenführens „arbeitender Gruppen“ in einer „sozialistischen
Massenorganisation (SoMao)“ nicht vorankam, da die
Organisationsdebatte von miteinander konkurrierenden
Studierenden geführt wurde. Die „Org-Debatte“ an den Hochschulen
bekam im Juli 1969 überraschend eine neue Ausrichtung durch die
Gründung einer „Roten Zelle“ im Fachbereich Germanistik (ROTZEG)
an der westberliner FU (RPK 20). Darauf reagierten die wenigen
Arbeiter:innen in den westberliner Basisgruppen mit einer Art
von Selbstorganisation namens „Arbeiterkonferenz“, die fortan
als explizit proletarisches Milieu ausdrücklich ohne akademische
Intellektuelle tagte (Schubert 1988 : 25). Die Organisation
Studierender in „Roten Zellen“ bedeutete quasi den Schlusspunkt
der im Wintersemester 1968/69 begonnenen Diskussion über Chancen
und Grenzen einer „revolutionären Berufspraxis“(Lefèvre 1969 :
376f) für Intellektuelle. Als Antwort darauf entwickelte die
ROTZEG eine organisatorische Lösung und begann an der Freien
Universität ein „sozialistisches Studium“ zu organisieren, um
damit geeignete Ausgangsbedingungen für eine „revolutionären
Berufspraxis“ und einen Parteiaufbau zu schaffen. In Abgrenzung
dazu gründeten sich marxistisch-leninistische Fraktionen in den
bestehenden studentischen Ad-Hoc-Gruppen, wodurch unter linken
Intellektuellen der Sog in Richtung Parteiaufbau noch weiter
verstärkt wurde. Denn das an der Uni zu erkämpfende
„sozialistische Studium“ hatte nicht nur die Strahlkraft von
kollektiv organisiertem individuellem Klassenverrat, sondern es
winkten auch Beschäftigungsstellen an der Uni. Damit verschob
sich unter den linken Studierenden der Fokus ihrer zukünftigen
beruflichen Verortung in Richtung der von der Rotzeg definierten
Rolle als „revolutionäre Intelligenz“, worauf nun auf der
Theorieebene das Verhältnis der Intelligenz zur Arbeiterklasse
nachjustiert wurde (RPK 37). Dieser Richtungswechsel linker
Hochschulpolitik kam nicht zufällig. Durch Gesetzesreform war im
Juni in Westberlin die Ordinarienuniversität in eine
Gruppenuniversität umstrukturiert worden. Nun waren die
Studierenden zusammen mit dem sogenannten "Mittelbau"
paritätisch neben den Professor:innen in den Fachschaften und im
akademischen Senat vertreten und damit bei der Vergabe
akademischer Beschäftigungsstellen Direktbeteiligte. Den
Anstrich eines radikalen Umbruchs erhielt die Reform im Herbst
1969, als ein linker Sozialdemokrat und wissenschaftlicher
Assistent vom Soziologischen Institut zum
Universitätspräsidenten der FU gewählt wurde.
Als im September 1969 von den
Arbeiter:innen selbstorganisierte „wilde“ Massenstreiks in
Industriebetrieben des Ruhrgebiets und im Saarland, aber auch in
der Oberpfalz, in Kiel, Bremen und sogar in Westberlin
ausbrachen, zeigte sich, dass die selbst ernannte „revolutionäre
Intelligenz“ ein „miserabel schwachen“ Anteil an diesen
Arbeiter:innenkämpfen hatte. Die „Basisgruppe Bochum“ und die
„Ruhrkampagne Westberlin“ resumierten daher:
„Die
Erfahrungen dieser Streiks lehren die Vordringlichkeit einiger
theoretischer Arbeiten: insbesondere der konkreter
Konzernanalysen, Entwicklung der Lohndifferenzierungen in der
Arbeiterklasse, Widersprüche innerhalb der Gewerkschaften,
Verhältnis von betrieblicher Agitation und außerbetrieblicher
Angriffe gegen die verschiedenen staatlichen Institutionen,
Entwicklung von Lehrlings- und Schülerkampagnen. Die nächsten
Aufgaben der Berliner sozialistischen Opposition sind durch die
spontane Streikbewegung der Arbeiter in der Bundesrepublik
gestellt.“(RPK
30)
Einen Monat später verfasste
Hannah Kröger für das SDS-Theorieorgan „neue kritik“ einen
Bericht zur „organisatorischen Situation“ in Westberlin (Kröger
1969). Dem war zu entnehmen, dass die von den „arbeitenden
Gruppen“ gebildeten Kommissionen „Produktion, Sozialisation,
Verwaltung“, die eine Klassenanalyse Westberlins für
betriebliche Interventionen erstellen wollten, aufgrund
zunehmender Fraktionierungen in der Sache nicht vorangekommen
waren. Daraufhin hatte sich jeweils an der juristischen und an
der wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fakultät der FU
eine "kommunistische Fraktion" gebildet, deren Ziel es war, als
Studierende kollektiv in die Produktion zu gehen, d.h. den
Klassenverrat nicht nur als Kopfproblem zu behandeln, sondern
auch als einen - zumindest zeitlich begrenzten - Milieuwechsel
lebensweltlich zu erfahren. Schließlich handelte es sich bei
ihren Studiengängen um solche, die auf technokratische Berufe
vorbereiteten, in denen jenseits der unmittelbaren
Produktionsphäre technische und betriebswirtschaftliche Lösungen
zur Steigerung der Mehrwertrate entwickelt werden.
Anders lag der Fall bei den
Lehramtsstudiengängen, also bei Berufsfeldern, wo junge Menschen
zu Staatsbürger:innen geformt werden. Hier verbreitete sich das
Projekt „Rote Zelle“ zügiger. An der FU enstanden in den
mathematischen und naturwissenschaftlichen Fächern sowie an der
Pädagogischen Hochschule bereits im Wintersemester 1969/70 Rote
Zellen.
Tatsächlich hatte 1969 die unter den sozialistischen
Intellektuellen getroffene Entscheidung, sich auf das
Proletariat als dem historischen Subjekt zur Aufhebung des
Kapitalismus zu konzentrieren, einen deutlichen Zuwachs an
Plausibilität erhalten. Es entstanden nicht nur in Westberlin
sondern auch bundesweit sogenannte „ML-Schulungsgruppen", wo der
„proletarische Klassenstandpunkt“ mittels Schriften der
„Klassiker“ - wie zum Beispiel "Über die Praxis"(MaW 1/347ff),
"Der Arbeitstag" (MEW 23/245ff) oder "Das neue Fabrikgesetz"(LW
2/265ff) - erlernt werden konnte. In diesem ideologischen Biotop
entwickelte sich der Plan, dass von „den entschiedensten und
ideologisch reifsten“ studentischen Genossen Übergangs- oder
Aufbauorganisationen für eine revolutionäre Partei gebildet
werden müssten. Dazu fand auf Einladung der RPK im Dezember 1969
in Westberlin eine sogenannte Arbeitskonferenz statt, wo
verschiedene Strategiepapiere vorgelegt wurden, die die
Organisationfrage unter der Perspektive des subjektiven
Klassenverrats der Intelligenz behandelten (SDS Info 26/27).
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